Heiko Schwarzburger
Wenn Atome zu Zombies werden
Deutschland gehört zu den Spitzenreitern in
der jungen Nanotechnologie
Etwa 2.000 Meter über dem Erdboden. Gefühlte
Temperatur: null Grad Celsius. Acht Menschen, ausgestattet mit Helm
und Rucksack, springen aus einem Flugzeug. Sie schweben aufeinander
zu, fassen sich an Händen und Füßen. Die Springer
gestalten eine symmetrische Formation. Auch kleine Gruppen von
Atomen, so genannte Cluster, bilden mitunter solche Formationen.
"Sie zeigen dann ganz andere Eigenschaften als ein
Festkörper", erläutert der Physiker Wolfgang Eberhard,
Forschungschef des Elektronenspeicherrings in Berlin-Adlershof.
"Das bekannteste Beispiel ist das Fußballmolekül C-60,
das so genannte Fulleren. Es besteht genau wie Graphit und Diamant
ausschließlich aus Kohlenstoffatomen". Bei der elektrischen
Leitfähigkeit fungiert Graphit wie ein Halbmetall.
Weltbilder lösen sich auf
Der Edelstein Diamant ist ein hervorragender Isolator. Das
Fulleren verhält sich wie ein Zwitter - wie ein Halbleiter,
der in bestimmten Richtungen seiner Struktur den Strom leitet,
andere hingegen sperrt. Bringt man Metallionen in die Struktur des
Fulleren ein, zeigt es metallisches Verhalten oder wird zum
Supraleiter, der bei Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt
seinen elektrischen Widerstand verliert. Strom kann dann ohne
Verluste fließen. "Ein Cluster aus 13 Aluminiumatomen wird
magnetisch, obwohl Aluminium normalerweise keinerlei Magnetismus
zeigt", nennt Eberhard ein weiteres Beispiel.
Seit einigen Jahren dringt die Wissenschaft tief in die atomaren
Zusammenhänge der Natur ein. Die Forscher messen nach
Nanometern, also nach Millionsteln Millimetern. Doch je genauer die
Wissenschaftler hinschauen, desto komplizierter präsentiert
sich dieser Nanokosmos: Festgefügte Weltbilder lösen sich
auf. Quanteneffekte bestimmen die Eigenschaften des Materials.
Teilchen verlieren ihre Konturen und zerfließen zu
elektromagnetischen Wellen. Der Physiker Erwin Schrödinger
beschrieb dieses paradoxe Phänomen einmal mit einer Katze, die
zugleich lebendig und tot ist. Schrödingers Katze ist ein
Zombie. Im Bereich der Nanotechnologie gebärden sich sogar
Elektronen und Protonen wie Zombies - sie sind Teilchen und Welle
zugleich.
Das Büro für Technikfolgenabschätzung beim
Bundestag hat jüngst einen Bericht mit der zentralen
Feststellung vorgelegt, dass die Nanotechnologie vor allem in der
Elektronik und in der Pharmabranche an Boden gewinnt. Immer
kleinere elektronische Baugruppen und neue molekulare Wirkstoffe
für Arzneien sind die Hauptfelder der Nanotechnologie. Der
junge Wissenschaftszweig wird in Deutschland massiv gefördert.
Allein im Jahr 2002 flossen öffentliche Mittel in Höhe
von rund 200 Millionen Euro in diesen Sektor. Damit entfiel auf die
Bundesrepublik mehr als die Hälfte aller staatlichen Gelder,
die EU-weit für die Nanotechnologie zur Verfügung
standen.
Gemessen an der Zahl der Publikationen, liegt Deutschland hinter
den USA und Japan auf Platz drei vor China. Die größten
Wachstumsraten bei den Veröffentlichungen erzielen China,
Südkorea und Israel. Bei den Patentanmeldungen in der
Nanotechnologie steht die Bundesrepublik hinter den Vereinigten
Staaten, aber vor Japan.
Das Bundesforschungsministerium hat den Wissenschaftlern kurz
vor Weihnachten noch ein Geschenk beschert. 80 Millionen Euro
kommen neuen Abbildungstechniken für die Nanotechnologie
zugute. Für die Entwicklung immer leistungsfähigerer und
billigerer Chips braucht die Elektronikindustrie bessere Methoden,
um die Materialstrukturen im Bereich weniger Millionstel Millimeter
sichtbar zu machen. Nur so wird es möglich, neue Chips rascher
und effizienter zu entwerfen und in ein Produkt umzusetzen. Das
muss nicht nur präzise, sondern mit hohem Durchsatz
geschehen.
Bisher werden die Erkenntnisse der Nanotechnologie vornehmlich
im Labormaßstab gewonnen. Große Forschungszentren wie in
Jülich oder auch das Hahn-Meitner-Institut (HMI) in Berlin
unterhalten gigantische Apparate, um der Doppelnatur der Materie im
Nanokosmos auf die Schliche zu kommen. Im HMI steht ein
Zehn-Megawatt-Forschungsreaktor, der Neutronen erzeugt. Mit deren
Hilfe lassen sich auch kleinste Materialstrukturen durchleuchten.
Der Elektronenspeicherring in Berlin-Adlershof bietet ein
Synchrotron, das extrem starke Röntgenstrahlen liefert. Auch
auf diese Weise lassen sich atomare Strukturen analysieren. Ein
normales Lichtmikroskop wäre dabei hoffnungslos
überfordert.
Noch steht die Nanotechnologie mit einem Bein in der
Grundlagenforschung. Dresdner Materialforscher experimentieren mit
winzigen Nanoröhren aus Kohlenstoff, deren Durchmesser sich
nach wenigen Atomabständen bemisst. Die Nanoröhren
könnten für moderne Flachbildschirme, in neuartigen
Tunnelmikroskopen oder für extrem geschrumpfte elektronische
Bauteile interessant sein. Je nach Bauart leiten sie den Strom wie
Metalle oder wie Halbleiter.
Forscher des Technions im israelischen Haifa konnten
Nanoröhren aus Graphit dazu bringen, von selbst einzelne
Transistoren zu bilden. Diese Entdeckung öffnete das Tor zu
einer molekularen Elektronik, in der die Erkenntnisse der Physik,
Chemie und Biologie verschmelzen. Anders als Biomoleküle sind
Nanoröhren jedoch nicht in der Lage, andere Moleküle an
ihrem Aufbau zu erkennen. Die Nanoröhren mussten also von Hand
hergestellt, kontaktiert und miteinander verschaltet werden. Die
Forschergruppe um Erez Braun in Haifa spannte Biomoleküle ein,
um die mühsame Kleinarbeit zu erledigen. Als Gerüst
für den späteren Transistor diente ihnen ein langes,
doppelsträngiges DNS-Molekül.
Ein spezielles Protein wurde darauf angesetzt, das sich gezielt
in den Doppelstrang einklinkte. Im nächsten Schritt dockte die
Nanoröhre mit Hilfe von Antikörpern an dem Protein an.
Der gesamte Prozess erfolgte von selbst, als die Forscher alle
Zutaten in einem Reagenzglas lösten. Das DNS-Gerüst wurde
anschließend auf einem Siliziumträger fixiert, seine
Enden wurden metallisiert, um einen elektrisch leitfähigen
Kontakt zur Nanoröhre zu schlagen. So entstand ein
biophysikalisches Bauteil, dessen Abmessungen üblichen
Transistoren entspricht. Nun wollen die Forscher auf diese Weise
einfache Schaltkreise herstellen, die mehrere Transistoren
verbinden.
Vor allem junge Wissenschaftler fördern die Nanotechnologie
mit unkonventionellen Ideen. Auf diesem Weg hält die
Nanotechnologie in scheinbar abseits gelegenen Einsatzgebieten
Einzug. Der als "Nanofakir" von Heidelberg bekannte Physiker
Joachim Spatz ist erst 33 Jahre alt. Er erhielt den
Schloessmann-Forschungspreis der Max-Planck-Gesellschaft und den
Alfried-Krupp-Förderpreis. Im Herbst 2003 heimste er sogar den
Otto-Klung-Weberbank-Preis für Physik ein, der als wichtige
Vorstufe zum Nobelpreis gilt.
Spatz entwickelte Methoden zur Nanostrukturierung von Schichten.
Sie werden mittlerweile weltweit zur Herstellung von
Nanooberflächen eingesetzt. Der Heidelberger Wissenschaftler
baute Mikrochips mit kleinen Nadeln, die wie Nagelbretter aussehen.
Darauf sitzen biologische Zellen, beinahe wie Fakire, allerdings
nur Millionstel Millimeter groß. Die Zellen ziehen und
verbiegen die Nadeln.
Aus der Biegung können die Forscher unter anderem ableiten,
wie fest das Cytoskelett der Zellen ist: Das sind Fasern, die sich
spinnwebsartig durch das Zellinnere ziehen und eine Art
Rückgrat bilden. Die Arbeitsgruppe Spatz wies nach, dass
Krebszellen viel weicher sind als normale Zellen.
Diese Eigenschaft befähigt Krebszellen, durch kleinste
Poren und Löcher im Bindegewebe zu schlüpfen, um
Metastasen an anderen Stellen im Körper auszustreuen. Der
Unterschied zu normalen Zellen: Die Krebszellen gruppieren ihr
Cytoskelett wie einen Mantel um den Zellkern.
Dieses Beispiel offenbart, dass die so abstrakt anmutende
Nanotechnologie in der Medizin einen ganz konkreten Nutzen hat.
Heiko Schwarzburger arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist
in Berlin.
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