Gesine Schwan
Wahrheitssuche nicht dem Renditedruck
unterwerfen
Über die Universität der
Zukunft
Die deutschen Universitäten - und nicht nur
sie - haben in den vergangenen Jahrzehnten deutlich an Reputation
und Autorität verloren. Die Ursache dieser Entwicklung liegt
einerseits in der dramatischen Unterfinanzierung der Hochschulen.
Diese Mittelknappheit hat vielfach zu einem inneruniversitären
Klima geführt, in dem intensive geistige und persönliche
Kommunikation als Grundlage wissenschaftlicher und kultureller
Kreativität nur noch schwer gedeihen können.
Andererseits haben es die Hochschulen selbst
weitgehend unterlassen, ihrerseits nicht nur über den Mangel
an Geld zu klagen, sondern auch grundsätzlich über ihre
Aufgabe und ihren Ort in der gegenwärtigen und künftigen
Weltgesellschaft öffentlich nachzudenken und Rechenschaft zu
geben. Stattdessen akzeptieren sie vielfach die Forderung, ihre
Qualität vornehmlich an schnell und quantitativ ablesbaren
finanziellen Erfolgen - von der Drittmitteleinwerbung über
Unternehmensgründungen bis zur Notierung an der Börse -
auszuweisen beziehungsweise sich vor allem im Blick auf den jeweils
aktuellen Arbeitsmarkt und die Stellung Deutschlands oder Europas
im weltweiten ökonomischen Wettbewerb zu
bewähren.
Unter diesem kurzfristig wirtschaftlichen
Aspekt wird in der Öffentlichkeit auch häufig die
zukünftige Bedeutung und Funktion der Hochschule in der
Forschung gemessen - schließlich wird inzwischen geradezu
gebetsmühlenartig darauf hingewiesen, dass wir in einer
Wissensgesellschaft angekommen seien. Wissen ist nach diesem
Argument der Rohstoff gegenwärtigen wie künftigen
Reichtums und ein Unterpfand des nationalen wie europäischen
Erfolgs im globalen Konkurrenzkampf.
Die modernen Medien bieten dieser Sicht
zufolge in so genannten "virtuellen Universitäten" ungeahnte
Chancen, studentische "Kunden" kommerziell, flächendeckend,
effektiv und flexibel mit diesem Wissen zu versorgen. Dabei wird
auch die Frage aufgeworfen, ob die herkömmliche, an einen Ort
und an gemeinsame Zeiten gebundene Hochschule noch eine Zukunft
hat. Welche Aufgabe hat die Universität angesichts der zum
Teil unabsehbaren Herausforderungen der Zukunft, angesichts
ökonomischer Zwänge und multimedialen
Wettbewerbs?
Zentrale Funktion
Traditionsgemäß oblag der
Hochschule in Forschung und Lehre die methodisch und methodologisch
reflektierte Suche nach Wahrheit. Darauf bauten Bildung und
Ausbildung der jeweils nachfolgenden Generation auf, oft de facto
im Dienst des Staats und der bürgerlichen Professionen. Die
Universität übte auf diese Weise - neben der Kirche,
kulturellen Institutionen und öffentlichen Medien - immer eine
zentrale kulturelle und politische Funktion aus, weil sie so
spätestens seit der Neuzeit die Verständigungs- und
Handlungsgrundlage der Bürger schuf.
Prinzipiell gilt dies auch heute, allerdings
tritt gegenwärtig in der öffentlichen Debatte die
kulturelle Aufgabe der Hochschule deutlich hinter
ökonomisch-instrumentellen Zwecken zurück - zum Schaden
nicht nur der Universitäten, sondern zugleich der
Zukunftsfähigkeit moderner freiheitlicher Gesellschaften. Denn
diesen stehen zunehmend komplizierte Herausforderungen bevor, die
sie nur dann freiheitlich, also orientiert an der Würde des
Menschen, bestehen können, wenn auch die Hochschulen weltweit
zur Verständigungsfähigkeit der Menschen beitragen. Die
Figur des Zauberlehrlings wird unsere Alltagsmetapher.
Wir wissen und können immer mehr und
müssen uns über die Disziplingrenzen hinweg mit Blick auf
historische und weltweite Erfahrungen über kreative und
bekömmliche Entscheidungen verständigen: Wie beeinflussen
wir unsere natürliche Umwelt so, dass sie uns allen letztlich
erhalten bleibt? Wie gehen wir mit dem kaum noch
überschaubaren wissenschaftlichen und technologischen
Fortschritt um? Wie schaffen wir die Grundlage für ein
friedliches Überleben? Wie bestimmen wir die Grenze zwischen
Leben und Tod? Wie verhindern wir in der sozialen Welt ebenso wie
in praktischen Folgerungen aus den Biowissenschaften die
prinzipielle, allmähliche und alltägliche
Instrumentalisierung der Menschen? Wo finden wir in einer
pluralistischen Welt gemeinsame Grundlagen für unsere
normativen Orientierungen?
Verständigungsfähigkeit über
diese Fragen, die uns alle im Zentrum unserer materiellen und
psychischen Existenz betreffen, meint sowohl das kognitive
Verstehen der sachlichen Zusammenhänge als auch den Willen, zu
einem freiwilligen Einvernehmen zu gelangen. Zu den kognitiven
Elementen gehören die Natur- wie die Geistes-, Sozial- und
Kulturwissenschaften, weil diese Zweige nur zusammen die Grundlage
für die sachgemäße und normative Beurteilung unserer
Probleme bieten.
Die Universitäten tragen dann zur
dringend benötigten Verständigungsfähigkeit bei,
wenn sie in Forschung und Lehre ihrer historischen Aufgabe der
methodisch und methodologisch reflektierten Wahrheitssuche treu
bleiben. Eine solche Reflexion verlangt Selbstdisziplin und
Selbstrelativierung, die Einsicht in die Voraussetzungshaftigkeit
und damit auch in die Begrenztheit allen Wissens.
Wir sind auf offene und neugierige
Kommunikation untereinander angewiesen, wenn wir uns nicht in
perspektivischer Borniertheit verlieren wollen. Wer keine andere
als die soziologische, die physikalische, die
wirtschaftswissenschaftliche oder die biologische Sprache kennt,
entwickelt keinen Sinn für die verschlungenen
Zusammenhänge der Wirklichkeit und auch nicht für die
Notwendigkeit, die anstehenden Probleme mit anderen gemeinsam
anzugehen.
Aus dieser Erkenntnis folgt nicht nur
für die Lehre, sondern auch für die Forschung die
anhaltende Bedeutung von Bildung, wie sie in der Aufklärung
entfaltet wurde: nicht als handliches, prestigesicherndes Gut des
"Bildungsphilisters", sondern als andauernde Anstrengung, mit der
die Person die Welt erkennt, sich um eine moralische Orientierung
bemüht und demgemäß verantwortlich handelt. Auch die
politische Komponente des aufklärerischen
Bildungsverständnisses behält ihre Bedeutung, ja sie
gewinnt an Gewicht.
Denn freiheitliche Politik - also die
argumentative Übereinkunft über Fragen, die umstritten
sind, uns aber alle betreffen - wird unter der Bedingung vor allem
der wirtschaftlichen Globalisierung immer schwieriger. Politik ist
zu ihrer Legitimation an einen umgrenzten Raum gebunden, den die
Globalisierung prinzipiell überschreitet.
Deshalb wird es erforderlich, dass erheblich
mehr Bereiche von den Bürgern selbsttätig und
einvernehmlich geregelt werden - so dass die genuin politischen
Entscheidungsgremien auf regionaler, nationaler, europäischer
und globaler Ebene entlastet werden. Die Bürger für die
Wahrnehmung dieser Aufgabe zu befähigen, ist eine erstrangige
Aufgabe der Hochschulen, die deshalb auch nicht einer kleinen Elite
vorbehalten bleiben dürfen. Die moderne freiheitliche
Gesellschaft eignet sich nicht zur Hammelherde.
Diese Einsicht hat Folgen nicht nur für
die Bildung, sondern auch für die universitäre Forschung.
Wenn die Hochschule auf diese Weise wesentlich zur
Überlebensfähigkeit einer freiheitlichen Gesellschaft
beitragen will, darf sie sich nicht einfach ökonomischen
Renditezumutungen - nationalen wie internationalen - unterwerfen.
Denn der Zeithorizont wirtschaftlicher Logik ist zu eng. Die
Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass "zweckfreie"
Grundlagenforschung die besten Chancen in sich birgt, Lösungen
für unvorhersehbare Probleme anzubieten und insofern auch
praktisch, ja ökonomisch fruchtbar zu werden.
Notwendige Konsequenzen
Der "Zufall" der menschlichen Neugier hilft
der Menschheit mehr als das notgedrungen kurzsichtige Kalkül
der Wirtschaftlichkeit. Deshalb bleiben Universität und
Forschung eine öffentliche Aufgabe. Für die künftige
Ausrichtung der Forschung ergeben sich mehrere
Konsequenzen:
- Die Geistes-, Sozial- und
Kulturwissenschaften sind für unser Überleben, für
die sinnvolle und "verständige" Nutzung natur- und
ingenieurwissenschaftlicher Forschungsergebnisse ebenso wichtig wie
diese selbst. Unsere Informationen und unser Wissen werden sich
weiter exponenziell steigern. Einen vernünftigen Umgang mit
diesem enormen Wissenszuwachs zu finden, wird für die
Individuen wie für die Gesellschaften immer wichtiger. Helfen
können jene Wissenschaften, die den Menschen als Kulturwesen
untersuchen und dessen Erfahrungen wie Möglichkeiten
systematisch durchdringen.
- Die Verständigung zwischen diesen
beiden wissenschaftlichen Grundausrichtungen wird immer
dringlicher, in der Forschung wie in der Lehre. Das braucht Zeit.
Der unbedachte Ruf nach zusehends kürzeren Studienzeiten
führt zu struktureller Borniertheit, geistiger
Manipulierbarkeit und damit Verantwortungslosigkeit. Die Basis
einer wissenschaftlich zweifelnden offenen Geisteshaltung muss
sorgfältig gelegt werden, damit verantwortliche
Berufstätigkeit und spätere Weiterbildung fruchtbar
werden können.
- Zudem geht es darum, die Grenzen zwischen
Universität und Lebenswelt durchlässiger zu machen. Die
Anforderungen an die Forschung sollten nicht nur aus dem
wissenschaftlichen Diskurs oder aus der wirtschaftlichen
Verwertbarkeit heraus formuliert werden, sondern auch mit Hilfe der
Erfahrungen der Zivilgesellschaft und unabhängiger
Nichtregierungsorganisationen.
- Forschung gehört wieder mehr an die
Hochschule und dort in einen engeren wechselseitigen Zusammenhang
mit der Lehre.
Die klassische Aufgabe einer
Universität, von der Innovationen ausgehen, liegt in der
Problematisierung des Gängigen, des scheinbar
Selbstverständlichen. Am günstigsten dafür ist nach
wie vor das gültige Humboldtsche Modell. Dieses Konzept
gründet auf Personen, die gemeinsam der Wissenschaft
verpflichtet und an Wahrheit - nicht nur an Nützlichkeit! -
interessiert sind: Sie gehen aus von dem jeweiligen Universum, das
sich in ihren Köpfen (häufig unrefektiert) gebildet hat,
knüpfen daran gegenseitig an, nehmen sich dazu aufmerksam wahr
und bilden so eine Gemeinschaft von eigenständig Forschenden -
deren Zusammenspiel erst den Reichtum erschließt, der sich in
ihren Köpfen findet. Universitäten müssen, wenn auch
unter ganz anderen Bedingungen als im 19. Jahrhundert, erneut zu
Orten solcher Wahrheitssuche und kultureller Verständigung
werden.
Gesine Schwan ist Professorin für
Politikwissenschaft und derzeit Rektorin der Universität
Frankfurt (Oder) "Viadrina".
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