Jörg Dürrschmidt
Globalisierungsforschung im Strudel sozialer
Verwerfungen
Das Ende der Einheit von Territorium, Staat,
Gesellschaft und Nation
Die hessische Kultusministerin Karin Wolff (CDU)
übergibt am 14. Januar turnusgemäß die
einjährige Präsidentschaft der Kultusministerkonferenz an
ihre Kollegin Doris Ahnen (SPD) aus Rheinland-Pfalz - allemal
Anlass, auch in einer Wissenschaftsausgabe über aktuelle
Fragen der Bildungspolitik zu sprechen.
Wohl kaum ein anderer Begriff hat unser
Bemühen um das Verstehen der Welt am Ende des alten und am
Beginn des neuen Jahrtausends so dominiert wie jener der
Globalisierung. Was Popularität und inflationäre
Verwendung betrifft, so hat der Globalisierungsbegriff als
geflügeltesWort mittlerweile der Postmoderne den Rang
abgelaufen. Während die 90er-Jahre den Aufstieg von
"Globalisierung" zum Modewort erlebten, begann eine zweite Runde
der Globalisierungsdebatte, die der US-amerikanische Soziologe
Roland Robertson als Ringen um eine "reflexive Theorie von
Globalisierung" bezeichnet.
Diese wissenschaftlichen Bemühungen
zielen vor allem darauf, mit einem eindimensionalen
Verständnis von Globalisierung aufzuräumen, das den
realen Facettenreichtum der weltweiten Zusammenhänge in
Wirtschaft, Politik, Kultur und Alltag mit einer ökonomischen
"Dampfwalze" gleichsetzt, welche die gesellschaftliche Vielfalt und
die kulturellen Unterschiede radikal auslöscht. Bei diesen
Forschungsarbeiten werden begriffliche Klarheit und analytische
Unterscheidung immer wichtiger.
So ist nicht jede Form
grenzübergreifender Mobilität und Aktivität
erdumspannend. Es ist deshalb zum Beispiel durchaus angebracht, bei
neuen Formen von Migration von "Transnationalisierung" statt von
Globalisierung zu sprechen. Zum anderen ist eine präzisere
Unterscheidung zwischen "Globalität", "Globalisierung" und
"Globalismus" mehr als eine bloße Begriffsspielerei. Immer
noch wird "Globalisierung" vordergründig mit der
weltumgreifenden Vernetzung von Nationalstaatsgesellschaften
gleichgesetzt.
Natürlich wohnt dieser Vernetzung eine
gewisse Eigendynamik inne. Doch die "Globalität", also die
planetare Endlichkeit und zugleich Ganzheit, prägt ganz
wesentlich den Prozess der Globalisierung. Verkürzt gesagt:
Solange die Aussiedlung auf andere Himmelskörper irreal ist,
müssen wir uns in den Grenzen und Möglichkeiten dieses
Planeten miteinander arrangieren - die Rede ist bewusst von
"müssen" und nicht von "wollen". Eine nicht unerhebliche Rolle
spielt bei der Globalisierung auch der "Globalismus", nämlich
das Bewusstsein über planetare Ganzheit und Endlichkeit. Vor
diesem Hintergrund kann das "Wie" des Charakters der Globalisierung
sehr wohl gestaltet werden, wenn auch in gewissen
Grenzen.
Die heutige Gesellschaft wird sich, um ein
zentrales Beispiel zu nennen, in absehbarer Zeit nicht aus der
Logik kapitalistischen Wirtschaftens befreien können oder
wollen. Aber es ist und bleibt entscheidend eine Frage politischer
Macht, ob und inwieweit eine globale kapitalistische
Weltökonomie auch ökologisch und sozial "sustainable",
also nachhaltig gemacht wird: Das hängt vom
Kräfteverhältnis zwischen den USA und Europa ab, und auch
das zivilgesellschaftlich-basisdemokratische Engagement wirkt sich
aus, Namen wie etwa Greenpeace, Attac oder die Zapatisten stehen
für diesen Kampf.
Vielschichtigkeit
Im Windschatten der Ausbreitung der
sogenannten neuen Technologien hat sich erstmals eine
Weltwirtschaft von tatsächlich globaler Reichweite
herausgebildet, die durch eine "komplexe Dualität"
gekennzeichnet ist. Mit diesem Begriff beschreiben der Soziologe
Manuel Castells und die Stadtsoziologin Saskia Sassen die
auffallende Tendenz zur Gleichzeitigkeit: die
räumlich-zeitliche Flexibilisierung von Produktionsprozessen
und -kreisläufen einerseits und andererseits die Konzentration
von globaler Organisation und Steuerung ebendieser Entwicklungen an
bestimmten Orten. Metropolenstädte stehen immer mehr im
Zentrum dieser sich entfaltenden "neuen industriellen Räume",
während sich anderswo industrielle und lebensweltliche
Brachlandschaften auftun - wie wir sie etwa im deutsch-polnischen
Grenzraum beobachten. Die Weltökonomie präsentiert sich
zusehends als durchwachsenes Gebilde, in dem es kein klares Zentrum
und keine klare Peripherie mehr gibt: Die neuen Gegensätze
zwischen Arm und Reich - zwischen denen, die von der globalen
Wirtschaft profitieren, und denen, die an deren Rändern
zunehmend ins Abseits geraten - finden sich innerhalb desselben
Landes, derselben Stadt, oftmals gar derselben
Nachbarschaft.
Gewohnte Machtverhältnisse und
Hierarchien werden in Frage gestellt. So prognostizieren Experten,
dass die boomende Ökonomie Chinas die USA als stärkste
Wirtschaftsnation innerhalb der nächsten zehn bis 15 Jahre
überholen wird. Die neue Flexibilität der
Produktionskreisläufe bringt zudem eine intensivere
Mobilität der Menschen mit sich. Allerdings drücken sich
auch in dieser neuen Form von Mobilität die Ungleichheiten und
Chancenungerechtigkeiten der Globalisierung aus.
Der polnisch-britische Sozialphilosoph
Zygmunt Bauman hat für diese polarisierende Tendenz treffende
Worte gefunden: Er spricht von "Touristen" als denjenigen, denen
sich durch Mobilität neue Möglichkeiten eröffnen,
und von "Vagabunden" als jenen, die sich aus der Not der Situation
heraus auf transnationale Wanderschaft begeben müssen. Im
Übrigen macht auch die moderne globale Elite zwiespältige
Erfahrungen: War früher die Mobilitätsbereitschaft ein
Garant für sozialen Aufstieg, so zwingt der hyperflexible
weltumspannende Kapitalismus auch den Eliten das Gefühl der
Unsicherheit auf.
Auch das verstärkte Nachdenken über
die Konsequenzen der sinkenden Bedeutung der Nationalstaaten
markiert eine Herausforderung für die
Globalisierungsforschung. Angesichts translokaler und
transregionaler Abhängigkeiten im weltweiten Rahmen und auf
allen Ebenen können menschliche Schicksalsgemeinschaften kaum
mehr auf einem klar abgegrenzten nationalstaatlichen Territorium
verortet werden. Stattdessen ist in wachsendem Maße eine
Dezentralisierung von Politik zu registrieren.
Der Nationalstaat sieht sich in der globalen
Arena zusehends gleich von mehreren Seiten herausgefordert:
Einfluss nehmen wollen supranationale Institutionen wie die UNO
oder die EU, eine Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen und
nicht zuletzt die neuen sozialen Bewegungen, die "von unten"
mitmischen wollen. Nun steht der Nationalstaat noch keineswegs vor
dem Untergang. Das zunehmende zivilgesellschaftliche Engagement
über Grenzen hinweg wurzelt jedoch im Unbehagen über die
Unflexibilität und die lähmende Hierarchisierung
nationalstaatlicher Politik. Angesichts der fortschreitenden
Globalisierung werden sich in diesem Jahrhundert zwangsläufig
neue Formen politischer Willensbildung oberhalb und unterhalb des
Nationalstaats sowie parallel zu diesem traditionellen Gebilde
entwickeln. Ein erster praktischer Schritt hin zu einer solchen
"multi-level-governance" ist im Rahmen der EU das Konzept vom
"Europa der Regionen".
"Cosmopolitan project"
Der britische Politiksoziologe David Held hat
die Vision von politischer Steuerung, die von transnationalen
Vernetzungen geprägt ist, als "cosmopolitan project"
beschrieben. Kern dieser Idee ist die demokratische
Selbstverwaltung auf der Basis von realen Problemen, die vor
Grenzen nicht halt machen. Indes stellt sich bei diesem Modell die
Frage, wie auf globaler Ebene beispielsweise Umweltstandards oder
die Wahrung der Menschenrechte verbindlich durchgesetzt werden
soll. Die UNO und ihre Institutionen, die ja als Ansatz für
eine Weltregierung gelten können, haben jedenfalls noch zu
wenig Macht. Dieses latente Vakuum eröffnet natürlich den
USA auch in Zukunft viel Spielraum für hegemoniale
Bestrebungen.
Noch zu wenig Aufmerksamkeit hat die
Wissenschaft bislang den kulturellen Aspekten der Globalisierung
gewidmet. Jüngst ergab eine Umfrage des "Guardian", dass die
meisten Londoner die britische Nationalhymne weder singen wollten
noch konnten. Andererseits harrt das Hindi-Musical "Kal Ho Naa Ho"
(Tomorrow may never come) seit Wochen in den Top Ten der Londoner
Kinos aus. Eine solche Momentaufnahme sagt viel über die
globale kulturelle Vernetzung aus. Eine wachsende Zahl von
Bürgern leitet ihre kulturelle Identität nicht mehr von
ihrem herkömmlichen Nationalstaat ab - und dies gilt nicht nur
für metropolitane Milieus. Kultur spielt sich immer weniger im
nationalstaatlichen Rahmen und stattdessen immer mehr im
Zusammenhang translokaler, transregionaler und transkontinentaler
Netzwerke ab. Der Versuch, eine nationale "Leitkultur"
durchzusetzen, dürfte sich in Zeiten
grenzüberschreitender Mobilität kaum verwirklichen
lassen.
Allerdings trifft auch dies zu: Selbst wenn
McDonalds und Coca Cola praktisch überall auf dem Erdball
präsent sind, so kann eben gerade wegen der vielfältig
verästelten Vernetzung der globalen Kulturlandschaften nicht
von einer "Cocacolonization" (in den Worten des schwedischen
Kulturanthropologen Ulf Hannerz) die Rede sein. Die globale
Alltagskultur wird keineswegs einheitlich dominiert.
Gebannt ist die Gefahr einer nivellierenden
"McWorld"-Kultur freilich keineswegs. Die heutigen
Kommunikationsmedien haben zwar im Prinzip eine globale Reichweite,
sind aber nicht überall in gleichem Maße für die
Menschen zugänglich. Da tun sich neue Ungleichheiten auf: Der
Reichtum der weltweiten Kultur kann nicht von allen Menschen
genutzt werden. Aber auch bei der Kultur gilt: Wenn der "Norden"
für eine weitreichende Teilhabe und der "Süden" eher
für Ausgrenzung steht, so ist das nicht geographisch zu
werten.
Rücken in einer erdumspannenden
Kulturlandschaft die kulturellen Milieus und Lebensstile einander
immer näher, dann wird der Fremde zum Nachbarn. Das bereichert
das Leben, bringt aber unausweichlich Konflikte mit sich - und dies
nicht nur beim alltäglichen Miteinanderauskommen im urbanen
multikulturellen Geschehen. Auch nationalistische und
fundamentalistische Bewegungen organisieren sich über Grenzen
hinweg und zielen auf die politische Ausnutzung kultureller
Differenzen. Das Szenario eines "clash of civilizations" entlang
der Verwerfungslinien kultureller und ethnischer
Zugehörigkeit, wie er von Samuel P. Huntington,
Politikwissenschaftler an der Harvard Universität und
seinerzeit außenpolitischer Berater von US-Präsident Bill
Clinton, bereits Anfang der 90er- Jahre prophezeit wurde, wirkt
beim Blick in die Zukunft alles andere als wirklichkeitsfremd. Eine
Erschütterung der fragilen Balance der globalen
Kulturlandschaften könnte einen Flächenbrand
auslösen, der auch vor Europa nicht stehenbleibt.
Für die Sozialwissenschaften ergibt sich
angesichts solcher Perspektiven die Notwendigkeit, ihr
Analysewerkzeug zu überprüfen. Neue Formen von
Mobilität und Vernetzung auf allen Ebenen der Gesellschaft
erfordern unter anderem ein neues Verständnis von multilokaler
lebensweltlicher Zugehörigkeit, einen weniger territorial
definierten Staatsbegriff, einen transnationalen Entwurf
staatsbürgerschafticher Rechte und Pflichten sowie ein
Begreifen fließender und temporärer Formen von
Identität. Vor allem aber müssen wir lernen,
"Gesellschaft" wieder jenseits der Kategorie Nationalstaat zu
denken. Es gibt keinen Grund, "Gesellschaft" - eine durch Handeln
und Normen verbundene Gruppe - von vornherein im Singular und auf
ein bestimmtes Territorium begrenzt zu definieren.
So existiert beispielsweise in
Großbritannien eine englische Gesellschaft, aber auch eine
karibische und eine Gesellschaft der Hindus - die allesamt
teilweise ineinander übergehen. Im Kern bedeutet
Globalisierung also das Ende der Einheit von Territorium, Staat,
Gesellschaft und Nation. Das stellt die Menschen, die Politik, aber
auch die Sozialwissenschaft vor neue Herausforderungen.
Jörg Dürrschmidt ist
Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Makrosoziologie
der Universität Kassel.
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