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Thomas von Ahn
Die Zeitungen erschienen schwarz umrandet, das
ganze Land trug Trauer
Der Vertrag von Trianon und die ungarischen
Minderheiten
Die Unterzeichnung des Friedensvertrages von Trianon im
Versailler Grand-Trianon-Palais war für Ungarn ein Schock. Am
4. Juni 1920 war das ganze Land in Trauer gehüllt: Schulen und
Geschäfte blieben geschlossen, die Zeitungen erschienen
schwarz umrandet, und in Budapest gingen Hunderttausende auf die
Straße, um schweigend ihren Protest kundzutun. Die
Bestimmungen des Vertrags wurden als unerhörte Ungerechtigkeit
empfunden, wobei die erheblichen Territorialverluste am schwersten
wogen. Gut zwei Drittel des Staatsgebiets gingen verloren (das
Deutsche Reich hatte lediglich zehn Prozent seines Gebietes
abtreten müssen). Die neuen Grenzen umfassten zudem nicht mehr
den gesamten, größtenteils einheitlichen ungarischen
Siedlungsraum: Von den über drei Millionen Ungarn, die
Bürger anderer Staaten wurden, lebten 1,6 Millionen in
Rumänien, eine Million in der Tschechoslowakei und eine halbe
Million in Jugoslawien. Diese ethnisch willkürliche
Grenzziehung stellte eine grobe Verletzung des
Selbstbestimmungsrechts der Völker dar, das die
Westmächte bei der geopolitischen Neuordnung Osteuropas nach
Kriegsende eigentlich hätte leiten sollen.
Das vormals mächtige Königreich, in dem die Ungarn die
staatstragende Volksgruppe bildeten, war ein europäischer
Kleinstaat ohne außenpolitischen Spielraum geworden. Die
Menschen mussten mit den verheerenden wirtschaftlichen und sozialen
Folgen des Friedensvertrages kämpfen. Hunderttausende
Magyaren, die sich mit einem Leben als Minderheit nicht abfinden
mochten, flohen auf das Gebiet Trianon-Ungarns. Die Folge war eine
"nationale Identitätsstörung" von kollektivem Ausmaß
- ein Trauma, das die politischen Akteure der Zwischenkriegszeit
geschickt für ihre Interessen ausnutzten. An ihrer Spitze
stand der letzte Befehlshaber der k.u.k-Marine, Miklós Horthy.
Sein Regime verstand es, die Frage nach der eigenen Verantwortung
an der desolaten Lage zu umgehen. Es fand einen Sündenbock:
die Juden. Schnell war ihnen die Schuld am Niedergang des
ungarischen Königreichs in die Schuhe geschoben, war doch ein
erheblicher Anteil der Führer und Funktionäre der
Ungarischen Volksrepublik und der Räterepublik, die auf den
Zusammenbruch der österreich-ungarischen Monarchie gefolgt
waren, jüdischer Abstammung. Den Pogromen, die von Horthy
nahestehenden Kommandos durchgeführt wurden, fielen weit mehr
als tausend Menschen zum Opfer. Den Großteil der
Bevölkerung einte die Meinung, dass es für die
Wiederherstellung des alten Glanzes der Nation nur den Weg gebe:
"Alles zurück!" Bis zum ersten Revisionserfolg sollte es noch
fast 20 Jahre dauern.
Den magyarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten nützten
der "neobarocke Formalismus" und das "ohnmächtige Drohen mit
der Faust", wie der Historiker Gyula Szekfü 1934 das Gebaren
der Politiker und Propagandisten in Budapest beschrieb, herzlich
wenig. Tatsächlich ist von den meisten Revisionisten
übersehen worden, dass das Leben der Ungarn jenseits der
Grenzen in anderen Bahnen verlief. Sie waren in allen Ländern
mehr oder weniger starken Diskriminierungen ausgesetzt, die
wahlweise im Zeichen eines "Tschechoslowakismus", einer
großserbisch dominierten "Jugoslawischen Staatsidee" oder
einer "Groß-Rumänien"-Konzeption standen und zu einem
pragmatischeren Umgang mit der neuen Situation zwangen.
Die Enteignung von Kirchenbesitz im Zuge von Bodenreformen wog
vor allem in Rumänien und Jugoslawien schwer. Die
gläubigen Gemeinden konnten kaum noch ihre Schulen betreiben
und ihren kulturellen und seelsorgerischen Aufgaben nachgehen.
Dabei hätte gerade dies zur Organisation des neuen
Minderheitenstatus beigetragen. Ungarischsprachige Schulen waren in
allen Nachbarstaaten von Schließungen betroffen. Dies
erschwerte nicht nur die Wahrung der eigenen Identität, es
erhöhte auch den Assimilationsdruck auf die ungarischsprachige
Bevölkerung. In Jugoslawien blieb die politische
Repräsentation der magyarischen Minderheit fast vollkommen
unterbunden. Anders verhielt es sich in der Tschechoslowakei, wo
schon bald zwei ungarische Parteien ihre Aktivitäten entfalten
konnten. Die Vertreter der Minderheiten unterließen es zwar
bewusst, Revisionspläne zu formulieren. Dennoch waren
Hungarozentrismus und Revisionismus auch jenseits der Grenzen ein
Thema.
Erste Erfolge der ungarischen Revisionspolitik stellten sich
erst nach der Machtergreifung Hitlers ein. Als er plante,
"Südosteuropa" in seine Großmachtstrategie einzubeziehen,
erhoffte man sich in Budapest, mit seiner Hilfe verlorene Gebiete
zurückzuerhalten. Doch die gegenseitige Annäherung ging
nicht ohne Reibungen ab. Hitlers vielzitierter Ausspruch "wer
mittafeln will, muss allerdings auch mitkochen", bezieht sich auf
die ungarische Weigerung, bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei
die Rolle des agent provocateur zu übernehmen. Selbst die
extremsten Revisionisten nahmen daher erleichtert zur Kenntnis,
dass das Problem der ungarischen Bevölkerung in der
Tschechoslowakei im Rahmen des Münchner Abkommens - also mit
dem Einverständnis der Westmächte - geregelt werden
sollte. Doch die Verhandlungen scheiterten, sodass lediglich
Italien und das Deutsche Reich einen Kompromiss vorantrieben und im
November 1938 den Ersten Wiener Schiedsspruch verkündeten.
Dieser verordnete die Rückgabe des von Magyaren bewohnten
Gebiets der Slowakei (Oberungarn).
Als Hitler im Frühjahr 1939 in Prag einmarschierte und
Ungarn die Teilnahme an der militärischen Operation anbot, die
die Liquidation der "Rest-Tschechei" zum Ziel hatte, schreckten
Horthy und Ministerpräsident Teleki vor einer Kriegshandlung
nicht mehr zurück und ließen ungarische Truppen die
Karpato-Ukraine besetzten. Trotzdem versuchte Teleki noch den
Spagat zwischen optimaler Revision und minimaler Abhängigkeit
zum Deutschen Reich. Der 1939 erfolgte Austritt aus dem
Völkerbund kündigte jedoch an, dass dies misslingen
sollte. Zwar konnte noch ein weiterer Schiedsspruch Abhilfe
schaffen, als sich in der Grenzfrage mit Rumänien
plötzlich zwei Verbündete des Deutschen Reiches einander
gegenüberstanden - Ungarn wurde diesmal das nördliche
Siebenbürgen zugesprochen. Als Hitler jedoch den Entschluss
fasste, Jugoslawien zu erobern - mit dem Ungarn kurz zuvor einen
Freundschaftsvertrag abgeschlossen hatte - und dafür seinen
Anspruch auf das ungarische Militär anmeldete, stand Teleki
vor den Trümmern seiner Politik: Entweder galt es, Hitler in
den Krieg zu folgen, die Revision zu vervollständigen, die
für diesen Fall angezeigte Kriegserklärung Englands in
Kauf zu nehmen, oder Hitler zu widerstehen, die Sympathie der
Westmächte zu bewahren, aber die Gefahr deutscher Besetzung in
Kauf zu nehmen. Teleki wählte für sich eine dritte
Variante: den Freitod. Die ungarische Armee aber besetzte in nur
wenigen Tagen die Batschka.
Die späte Teilnahme am Zweiten Weltkrieg an der Seite des
Deutschen Reiches ersparte Ungarn weder, dass es von Hitler im
Frühjahr 1944 besetzt wurde, noch dass 1947 in Paris wieder
der Status quo ante festgeschrieben wurde. Dass nach Kriegsende
keine ethnischen Grenzkorrekturen verhandelt wurden, lag jedoch
nicht an den Westmächten. Solche Pläne scheiterten an der
Haltung Moskaus, wo man im Hinblick auf die eroberten
rumänischen Gebiete Ungarn gegenüber keine
Zugeständnisse machen wollte.
Im Zeichen der Moskauer Blockdisziplin war es nicht statthaft,
den neuen alten Status anzuzweifeln. Ebenso wenig war es
möglich, das Schicksal der Minderheiten zur Sprache zu
bringen, obwohl sich ihre Lage nicht wesentlich verbesserte. In
Ungarn entzog sich das Minderheitenthema erst in
post-stalinistischer Zeit seiner Tabuisierung. Zum richtigen
Politikum avancierten es aber erst wieder, als es von der
ungarischen Oppositionsbewegung dank zunehmender Reisefreiheit
"wiederentdeckt" wurde. Die von ihr entwickelten Standpunkte
prägen noch heute die ungarische Minderheitenpolitik. Thomas
von Ahn
Thomas von Ahn arbeitet am Zentrum für Hungarologie der
Universität Hamburg.
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