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Franz Schäfer
Der romantische Traum eines kleinen Volkes
Von der Tschechoslowakei zur Slowakei
Im Jahre 1905 hat der Gründer der
späteren Tschechoslowakei, der erste Präsident der CSR
Tomá\š Garrigue Masaryk in seinem Aufsatz "Probleme eines
kleinen Volkes" alle Merkmale zusammengefasst, die das Wesen einer
modernen Nation ausmachen: "Sprache, Gebiet, wirtschaftliche und
soziale Verhältnisse, schöngeistige Literatur,
Wissenschaft, Philosophie, Moral und Religion."
Mit Ausnahme einer autonomen nationalen
Wirtschaft, die nur in einem Nationalstaat realisierbar ist, hat
die tschechische Nation bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts alle
diese Voraussetzungen erfüllt: Sie lebte auf einem relativ
geschlossenen Territorium, verfügte über eine hoch
entwickelte Schriftsprache, eine Literatur von europäischem
Niveau, ein eigenes Schulwesen. Seit der Errichtung der
tschechischen Universität in Prag im Jahre 1882 gab es eine
eigene Wissenschaft und Philosophie, aktive gesellschaftliche und
politische Organisationen (auch politische Parteien) und eine
tschechische religiöse und moralische Identität. Die
politischen Führer versuchten sie vom Hussitentum, der
Gemeinde der Böhmischen Brüder (Comenius) sowie von den
Volksaufklärern aus der Zeit der Aufklärung und Romantik
trotz der überwiegend katholischen Gesinnung des Volkes
abzuleiten.
Ganz anders sah zu dieser Zeit die nationale
Identität der Slowaken aus. Auch sie verfügten bereits
über Schriftsprache und schöngeistige Literatur. Aber
alle Versuche, eigene kulturelle, wissenschaftliche und politische
Institutionen zu gründen, wurden durch gezielte Eingriffe der
zentralistischen ungarischen Regierung gebremst oder sogar
verhindert.
Die Hoffnung beider Völker, einen
eigenen Nationalstaat gründen zu können, war vor dem
Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914 irreal und wurde von
den politischen Eliten abgelehnt. Diese Situation änderte sich
mitten im Weltkrieg, als die tschechischen und slowakischen
Exilkreise (die tschechische Gruppe um T. G. Masaryk und die
slowakische Gruppe, repräsentiert durch Milan Rastislav
Štefánik) begriffen hatten, dass die westlichen
Mächte Mittel- und Ostmitteleuropa neu gliedern wollten. Im
Exil entstand die Konzeption des zukünftigen gemeinsamen
Staates der Tschechen und Slowaken. Sie basierte auf folgenden
Überlegungen:
Die Schaffung einer selbständigen
slowakischen Republik wäre im Hinblick auf die soziologische
Struktur der Bevölkerung, die Schwäche der politischen
Elite und nicht zuletzt die potentielle Gefahr von seiten des
zukünftigen ungarischen Staates mit unkalkulierbaren Risiken
verbunden gewesen. Dass diese Befürchtungen nicht
unbegründet waren, beweist das Jahr 1919. Die Truppen der
kommunistischen Ungarischen Räterepublik besetzten einen Teil
der Slowakei. Die Invasion konnte nur mit Hilfe der tschechischen
Armee beendet werden. Dazu kam die Tradition der so genannten
tschechisch-slowakischen "Wechselseitigkeit". Das Tschechische war
seit der Gegenreformation (nach 1620) jahrhundertelang die
Schriftsprache der slowakischen Protestanten. Viele Slowaken haben
an tschechischen Schulen studiert. Nicht zu vergessen ist, dass
einige bedeutende Persönlichkeiten des tschechischen
politischen und kulturellen Lebens (auch T. G. Masaryk) aus der
Slowakei oder dem mährisch-slowakischen Grenzgebiet stammten,
sodass auch eine starke emotionale Note hinzutrat.
Am 28. Oktober 1918 wurde die
Tschechoslowakische Republik (CSR) ausgerufen und ein Jahr
später international anerkannt. Der neu entstandene Staat
blieb bis zu seiner Zerschlagung im Jahre 1938 (das so genannte
Münchner Abkommen zwischen Großbritannien, Frankreich,
Italien und Deutschland über den Anschluss des Sudetenlandes,
das heißt der von deutscher Bevölkerung bewohnten
Grenzgebiete an das Deutsche Reich), eine demokratische Republik.
Bis heute umstritten ist nur seine Nationalitätenpolitik.
Obwohl die CSR sich als nationaler Staat der "Tschechoslowaken" mit
mehreren nationalen Minderheiten verstand, war sie in Wirklichkeit,
so wie die Habsburger Monarchie, ein multinationaler Staat. Laut
Verfassung und Sprachengesetz war sie zwar ein Staat des
"tschechoslowakischen Volkes" mit Tschechoslowakisch als
Schriftsprache (Tschechisch und Slowakisch wurden für
"Dialekte" erklärt), der, wie es der demokratischen
Gesellschaftsordnung entsprach, die kulturellen und politischen
Rechte der Minderheiten respektierte. Gleichzeitig hatte sie aber
alle Züge eines zentralistischen Staatsgebildes, in dem eine
Nation, die Tschechen, den Ton angab. Dies lehnten nicht nur die in
der Tschechoslowakei lebenden Deutschen ab, die nach der
Gründung der CSR um die Eingliederung in den
österreichischen Nationalstaat kämpften und sich nur
langsam an die neue Republik gewöhnten. Unzufrieden waren auch
große Teile der slowakischen Bevölkerung, also ein Teil
des Staatsvolkes, die davon überzeugt waren, dass ihre
politischen Rechte nicht ausreichend berücksichtigt wurden.
Dabei übersahen die slowakischen Nationalisten, dass sich ihre
moderne Nation erst in der CSR voll entfalten konnte: an der 1919
gegründeten Universität von Bratislava haben tschechische
Professoren die erste Generation der slowakischen kulturellen und
politischen Elite ausgebildet, die slowakischen Kultur- und
Wissenschaftsorganisationen konnten ungestört arbeiten.
Andererseits dürfen aber politische Fehler der tschechischen
Regierungen, vor allem in der Zeit der Weltwirtschaftskrise (nach
1929) nicht übersehen werden.
1935 ersetzte der frühere
Außenminister Edvard Beneš (1884 - 1948) den
legendären und integrierend wirkenden T. G. Masaryk im Amt des
Präsidenten. Seine Politik vor und nach dem Zweiten Weltkrieg
wurde sehr unterschiedlich bewertet. Vor allem die sich
radikalisierenden Sudetendeutschen, aber auch die tschechischen und
slowakischen rechten Kreise lehnten ihn vehement ab. Die politische
Rechte warf ihm unter anderem seine Zusammenarbeit mit der
Sowjetunion Stalins vor. Die Deutschen sahen in ihm einen
rücksichtslosen Nationalisten, der an der Überwindung der
Folgen der Wirtsaftskrise im Sudetenland nicht interessiert war.
Heute wird in der Tschechischen Republik diese Kritik als ungerecht
empfunden. Es kann aber nicht bestritten werden, dass Beneš
der geistige "Vater" der nationalstaatlichen Lösung
war.
Nach einer kurzen "Föderalisierung" der
um ihre Grenzgebiete beraubten CSR 1938/39 billigte am 14.
März 1939 das slowakische Parlament die Bildung einer
Slowakischen Republik von Hitlers Gnaden, des ersten
Nationalstaates der Slowaken in ihrer Geschichte. Dieser
Ständestaat unter der Führung des katholischen Priesters
Jozef Tiso (1887 - 1947, hingerichtet), war ein Vasallenstaat der
deutschen Nationalsozialisten, der, nicht anders als das
Protektorat Böhmen und Mähren die Nürnberger Gesetze
Hitlers übernommen und das Dritte Reich teils wirtschaftlich
und teils sogar militärisch unterstützt hat. Ob die
Anlehnung an Deutschland eine freie Entscheidung der Slowaken oder
durch die Furcht vor dem ungarischen Nachbarn motiviert war, ist
umstritten. Die erste selbständige Republik der Slowaken ist
zweifellos nicht ein Staat, an dessen Traditionen die demokratische
Slowakei anknüpfen könnte. Zwar haben die Slowaken in
ihrem "National"-Aufstand im Jahre 1944 versucht, sich aus der
nationalsozialistischen Umarmung zu lösen. Die Befreiung
brachte ihnen aber erst das Kriegsende. Diesen Staat
überlebten nur einige in den Jahren 1939 - 1945
gegründete Institutionen, zum Beispiel die Slowakische
Akademie der Wissenschaften.
Nach der Wiedererrichtung der CSR kam es
zunächst nicht zu einer von den Slowaken erwarteten
Föderalisierung des Landes, was wiederum zur Stärkung der
nationalistischen Kräfte führte. Doch erst der Prager
Frühling (1968/69) brachte den Slowaken die erwünschte
Schaffung einer Föderation. Zu dieser Zeit war die
Industrialisierung der Slowakei bereits weitgehend
abgeschlossen.
Nach der friedlichen Revolution im Herbst
1989 begann ein Kampf um die tschecho-slowakische
"Konföderation", einem lockeren Zusammenschluss zweier
weitgehend unabhängiger Republiken, die von großen Teilen
der tschechischen politischen Elite abgelehnt wurde. Es dauerte
drei Jahre, bis die Slowaken, oder genauer gesagt ihr
nationalistischer Teil unter der Führung der "Bewegung
für eine unabhängige Slowakei" Vladimír Meciars,
begriffen hatten, dass ihre Maximalforderungen nicht durchsetzbar
waren. Sie entschlossen sich daraufhin, einen souveränen
slowakischen Staat auszurufen. Heute kann die Frage, ob der Zerfall
der Tschechoslowakei verhindert werden konnte, nicht eindeutig
beantwortet werden. Auf der tschechischen Seite gab es zwei
Richtungen, die durch die zwei späteren Präsidenten der
Tschechischen Republik, Václav Havel und Václav Klaus,
repräsentiert werden. Der erste setzte sich für die von
den Slowaken zunächst angestrebte Bildung einer
Konföderation ein und verlangte ein Referendum, dessen
Ergebnis in anbetracht der Mehrheitsverhältnisse in der
Slowakei unsicher war. Der Wirtschaftsfachmann und pragmatische
Politiker Klaus, der eine schnelle wirtschaftliche Entwicklung der
tschechischen Teilrepublik anstrebte und alle potentiellen Ursachen
für politische Instabilität beseitigen wollte, einigte
sich aber mit seinem schon immer separatistisch denkenden Gegner
Meciar und überzeugte auch die Mehrheit seiner Landsleute,
dass eine Trennung unumgänglich sei. Die chaotische politische
Entwicklung in dem jungen slowakischen Staat schien auch lange
seine Meinung zu bestätigen. Die Ergebnisse des EU-Referendums
der Slowaken und die letzten Parlamentswahlen, die zur
Stärkung der Demokratie geführt haben, deuten an, dass
auch der geduldigere Havel keineswegs im Unrecht war. In
wirtschaftlicher Hinsicht hat die Teilung der Tschechoslowakei den
Slowaken möglicherweise geschadet. Sie war aber auch die lange
ersehnte Verwirklichung eines romantischen Traums eines kleinen und
Jahrhunderte vergessenen mitteleuropäischen Volkes.
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