|
|
Kathrin Lauer
Die SS machte vor dem Tod Fotos
Eine neue Gedenkstätte erinnert an die
vergasten ungarischen Juden
Auschwitz-Birkenau, 26. Mai 1944. Die zwei Brüder, neun und
elf Jahre alt, stehen nebeneinander auf einem Bahnsteig. Sie tragen
Wintermäntel, trotz der frühsommerlichen Jahreszeit. Auf
der Brust ist ein gelber Stern angeheftet. Der kleinere der beiden
Jungen blickt direkt in die Linse des Fotografen, der
Größere schaut mit zusammen gezogenen Augenbrauen
konzentriert vorbei. Knapp zwei Tage zuvor waren Zelig und Jakob,
so hießen die Brüder, mit ihren Eltern und vier weiteren
Geschwistern aus dem Ort Bilke in der damals zu Ungarn
gehörenden Karpato-Ukraine deportiert worden. Stunden nach
dieser Aufnahme, die ein SS-Mann nach ihrer Ankunft in Auschwitz
machte, starben die beiden Kinder in der Gaskammer. Es ist eines
der erschütterndsten Fotos der Ausstellung, mit der am 15.
April die neue Holocaust-Gedenkstätte in Budapest
eröffnet wurde, zum 60. Jahrestag der Deportation der
ungarischen Juden.
Die Sammlung, zu der das Bild mit den Brüdern aus Bilke
gehört, zählt zu den wichtigsten Dokumenten über den
Holocaust in Ungarn. Es ist das berühmte Auschwitz-Album, das
sich im Besitz der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel befindet.
Die 235 Fotos wurden im Sommer 1944 gemacht, als die Transporte
ungarischer Juden in Auschwitz eintrafen. Die Mitarbeiter des
Foto-Labors im Vernichtungslager erhielten ausnahmsweise von der SS
die Genehmigung, die "Endlösung" zu fotografieren.
Von 1939 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war Ungarn unter
der Führung von Admiral Miklós Horthy mit
Nazi-Deutschland verbündet. Im März 1944 wurde das Land
von deutschen Truppen besetzt, nachdem Horthy insgeheim Kontakte zu
den West-Alliierten gesucht hatte und für Hitler als
unzuverlässig galt. Im Sommer 1944 begann die Deportation von
437.000 Juden nach Auschwitz. Im Oktober bat Horthy die Sowjetunion
um einen Waffenstillstand. Daraufhin wurde er von den Deutschen in
Haft genommen, an die Macht gelangten die Pfeilkreuzler unter
Ferenc Szálasi. Sie übten eine Schreckensherrschaft gegen
Juden aus, die bis zum Einmarsch der Roten Armee in Budapest am 13.
Februar 1945 dauerte.
In Ungarn leben nach Schätzungen jüdischer Soziologen
derzeit etwa 100.000 Juden. Antisemitismus ist immer noch
verbreitet und wird von rechten und rechtsextremen Parteien offen
oder unterschwellig in der politischen Debatte genutzt. Die
Kommunisten hatten die Aufarbeitung dieses Themas unterlassen. Die
genaue Zahl der von den Nazis ermordeten ungarischen Juden ist
immer noch nicht bekannt. Jüdische Organisationen im Land
schätzen sie auf 600.000 Menschen. 60.000 Opfer sind bisher
namentlich bekannt. Ziel der Gedenkstätte ist es, die
öffentliche Aufklärung nachzuholen. Eine Forschungsstelle
soll Daten zum ungarischen Holocaust zentralisieren.
Um die Gestaltung der Gedenkstätte gab es unter den
jüdischen Experten in Ungarn heftigen Streit. Anlass für
großen Ärger im Kuratorium der staatlichen Stiftung, die
die Gedenkstätte leitet, war, dass die ständige
Holocaust-Ausstellung zur Eröffnung nicht fertig geworden ist.
Die Reproduktionen des Auschwitz-Albums wurden als Ersatz-Exponat
genommen. Uneinigkeit herrscht auch über den darzustellenden
Zeitraum. Führende Kuratoriums-Mitglieder meinen, es reiche
nicht, den ungarischen Holocaust auf die Jahre 1938 bis 1945
einzugrenzen. Dies sei "Geschichtsfälschung", meint der
Vorsitzende des Verbands der Jüdischen Gemeinden Ungarns,
András Heisler. Schließlich habe es bereits 1920 das
erste antisemitische Gesetz gegeben. Die ausschließliche
Präsentation des Auschwitz-Albums bedeute, dass Vorgeschichte
und Verantwortung der ungarischen Seite verschwiegen werde. Dem
widersprach der Gedenkstätten-Direktor András
Darányi. Immerhin zeige die Bilderfolge den gesamten Verlauf
des Massenmords, von der Ankunft in Auschwitz bis zur Gaskammer.
Darányi ist knapp über 30 Jahre alt. 25 Mitglieder seiner
Familie wurden von den Nazis ermordet.
Hintergrund für die Verspätung ist auch, dass das
gesamte Projekt mit Verzögerung angegangen wurde. Die bis Mai
2002 regierenden Rechtskonservativen gaben erst Ende 2001
grünes Licht für die staatliche Finanzierung von
insgesamt 1,7 Milliarden Forint (etwa 6,7 Millionen Euro). Die
sozialliberale Regierung musste die Bauarbeiten im Eiltempo
durchziehen, um bis zum 60. Jahrestag des Holocaust fertig zu
werden. Dafür kann sich das Objekt architektonisch sehen
lassen. Die meterhohe Hofmauer ist einer der besten Einfälle
des Architekten István Mányi, der die Gedenkstätte
im Auftrag des ungarischen Staates gestaltet hat. An der Innenseite
sollen die Namen der bisher bekannten Holocaust-Opfer angebracht
werden. Später sollen die restlichen hinzukommen, soweit sie
sich recherchieren lassen.
Kernstück des Komplexes, der Pathos und Strenge vereint,
ist eine alte Synagoge, die 1924 vom Architekten Lipót
Baumhorn (1860 - 1932) konzipiert worden war. Bis 1986 wurden noch
Gottesdienste abgehalten, danach wurde das Gebäude wegen der
schwindenden Gemeinde aufgegeben und verfiel. Jetzt wurde es
renoviert. Einlass in die grau-beige-farbenen Kalkstein-Mauern, die
wie eine Kombination aus mittelalterlicher Festung und Klagemauer
wirken, findet man durch ein enges Tor. Es ist eine etwa dreimal
mannshohe, schmale Stahlplatte. Sie erinnert an die Türen
jener Viehwaggons, die damals mit den Todeskandidaten nach
Auschwitz rollten. Die alte Synagoge soll nur noch als
Versammlungsort dienen. Die Kellerräume sollen der
ständigen Ausstellung Platz bieten.
Bis dahin bietet das Auschwitz-Album ein beklemmendes Zeugnis
des ungarischen Holocausts. Ausgerechnet Lili Jákob, die
Schwester der beiden ermordeten Brüder aus Bilke, fand es,
kurz nachdem die deutschen Bewacher des KZ Dora-Nordhausen im
Frühjahr 1945 vor den Amerikanern geflohen waren. Die
19-Jährige überlebte. Auf 40 Kilo abgemagert, suchte sie
in einer Baracke ihrer Schergen nach Essbarem. Die Fotos lagen im
Nachtkästchen eines SS-Mannes. Auf einem der ersten erkannte
Lili Jákob ihre beiden Brüder, die sie nie wieder sehen
sollte. Kathrin Lauer
Zurück zur
Übersicht
|