Thomas von Ahn
Die Elitenrevolution am Runden Tisch
Das politische System der Republik
Ungarn
Es war einmal ein Systemwechsel" - so heißt das neueste
Buch des renommierten ungarischen Historikers Ignác Romsics.
Der Titel erregt Aufsehen in Zeiten, in denen die opponierenden
politischen Lager Ungarns noch darüber streiten, ob der
Systemwechsel bereits abgeschlossen ist oder überhaupt jemals
stattgefunden hat. Im Hinblick auf das politische System scheint
die Antwort jedoch eindeutig: Die von Romsics auf die Jahre 1988
bis 1990 datierte Zeit der politischen Wende brachte einen Wandel
von einer zuletzt autoritären Diktatur mit Zügen eines
"latenten Pluralismus" hin zu einer parlamentarischen Republik mit
inzwischen stabilen demokratischen Institutionen.
Dennoch: Die Tatsache, dass es in Ungarn eine "samtene
Revolution" gegeben hat, die von politischen Elitegruppen am Runden
Tisch ausgehandelt wurde und die Massen nur bedingt mobilisieren
konnte, wirkt sich heute auf die politische Kultur des Landes
aus.
Nichts symbolisiert diesen "ausgehandelten Systemwechsel" besser
als die ungarische Verfassung. Das Land hat als einziger
postsozialistischer Staat seine 1949 nach sowjetischem Muster
geschriebene Verfassung beibehalten und diese 1989/90 lediglich
durch zwei Verfassungsnovellen umgestaltet. Trotzdem änderte
sich das politische System entscheidend: Ungarn ist heute
parlamentarische Republik mit einem vom Parlament gewählten
Staatspräsidenten, einem Einkammersystem, einer dem Parlament
verantwortlichen Regierung und einem starken
Verfassungsgericht.
Als besonders charakteristisch für das ungarische
Regierungssystem hebt der ungarische Politologe András
Körösényi den starken Einfluss des Rechts auf die
Politik, das spezielle Verhältnis von Gesetzgebung und
Vollziehung sowie die starke Position von Parlament und Opposition
hervor.
Der starke Einfluss des Rechts auf die Politik geht auf die
weite politische Zuständigkeit des Verfassungsgerichts
zurück, das zwar nach deutschem Vorbild angelegt ist, aber ein
wesentlich "aktivistischeres" Rollenverständnis hat als das
Bundesverfassungsgericht. Der provisorische Charakter der
ungarischen Verfassung veranlasste die Verfassungsrichter zu
Anfang, de facto verfassungsgebend zu wirken und mit ihren
Entscheidungen eine "unsichtbare Verfassung" aufzubauen. Die
Kompetenzen des Gerichts gelten auch deshalb als besonders
weitreichend, weil es über seinen normalen Aufgabenbereich
hinaus bei Streitigkeiten zwischen Staatsorganen den politischen
"Schiedsrichter" spielen kann. Da es zudem keine Anträge
ablehnen darf, ist der Umfang seiner Tätigkeit nicht nur
besonders breit, häufig wird es auch von politischen Akteuren
instrumentalisiert.
Darüber hinaus gibt es die seit 1995 eingesetzten
Ombudsmänner. Der Ombudsmann für die Grundrechte der
Staatsbürger hat die Aufgabe, Verletzungen der Grundrechte zu
untersuchen. Zudem gibt es einen besonderen Ombudsmann für
Minderheiten sowie für den Datenschutz. Und obwohl sie kein
Vollzugsrecht haben, zeichnen sie sich in der Praxis durch eine
bedeutende Wirkungsmacht aus.
Der spezielle Dualismus von Legislative und Exekutive zielt auf
größtmögliche Stabilität. So kann einerseits
die Regierung nur durch ein Konstruktives Misstrauensvotum
abgesetzt werden, wobei Misstrauensvoten gegen einzelne Minister
nicht möglich sind. Andererseits hat der Regierungschef kein
Recht, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen ausschreiben zu
lassen.
Seine starke Stellung verdankt das Parlament der Tatsache, bei
besonders vielen Entscheidungen der Regierungen mitbestimmen zu
dürfen. Ungewöhnlich hoch ist auch die Hürde, die
Gesetze bei ihrer Verabschiedung nehmen müssen: In mehr als 30
Gesetzgebungsbereichen ist eine Zweidrittelmehrheit notwendig, um
entsprechende Gesetze zu verabschieden. Dies führt zu einem
"Quasi-Vetorecht" der parlamentarischen Opposition gegenüber
der Regierungsmehrheit und schränkt die Handlungseinheit von
Regierung und Parlament erheblich ein.
Das Wahlsystem Ungarns gehört zu den kompliziertesten der
EU-Beitrittsländer. Es kombiniert Verhältnis- und
Mehrheitswahlrecht, wobei ein Teil der Mandate nach einem
kompensatorischen System zugeteilt wird. Ein Parlamentsmandat kann
also auf drei Wegen errungen werden: nach absolutem
Mehrheitswahlrecht in Einerwahlkreisen, nach Verhältniswahl in
Mehrpersonenwahlkreisen und über das kompensatorische System,
das verlorene Stimmen aus den beiden anderen Wahlverfahren
berücksichtigt. Auf dem Weg der Volksabstimmung wurde auf
Initiative der Regierung über den Beitritt zur NATO und der EU
entschieden; aber auch volksinitiierte Gesetzesreferenden sind
möglich.
Zwei große Parteien
In Ungarn hat es seit 1990 jede Regierungskoalition geschafft,
eine ganze Legislaturperiode zu regieren, länger allerdings
nie. Die Bündnisse haben sich seit den 90er-Jahren nach einem
klassischen Links-Rechts-Schema formiert. Heute dominieren zwei
Großparteien das Spektrum: Auf der einen Seite steht die
Ungarische Sozialistische Partei (MSZP). Sie ist die
Nachfolgeorganisation der ehemaligen Kommunistischen Partei, hat
heute aber ein pragmatisch-sozialdemokratischem Profil. Auf der
anderen Seite steht der Bund der Jungen Demokraten (FIDESZ). Er
wurde ursprünglich als radikal-antikommunistische
Jugendorganisation gegründet, gab sich jedoch als Partei
zunächst pragmatisch-liberal, bis er Mitte der 90er-Jahre
schließlich auf einen national-konservativen Kurs
einschwenkte.
Abgesehen von der inzwischen marginalisierten rechtsextremen
Gerechtigkeitspartei (MIÉP) haben sämtliche ungarischen
Parteien den Beitritt zu NATO und Europäischer Union
unterstützt. Volksparteien gibt es in Ungarn allerdings noch
keine, die Wahlen werden zumeist bei relativ geringer
Wahlbeteiligung von den Wechselwählern entschieden - ein
Trend, der sich erkennbar erst mit den Parlamentswahlen von 2002
umgekehrt hat. Allerdings hat der vorangegangene Wahlkampf auch
gezeigt, dass populistische Polarisierungen ihre Wirkung bei der
Bevölkerung nicht verfehlen. Thomas von Ahn
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