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Kathrin Lauer
Die große Hoffnung Europäische
Union?
Karriere machen junge Ungarn nur durch gute
Fremdsprachenkenntnisse
Er strahlt über sein ganzes freches
Jungsgesicht. "Das ist meine kleine Tochter", sagt der
22-Jährige und deutet auf die Zweijährige. Ausnahmsweise
sitzt das Kind heute auf seinem Schoß, neben der Kasse des
kleinen Ladens an einer Straßenecke in Pest, dem quirligen und
lauten Teil der ungarischen Hauptstadt. "Kezét csókolom"
- Küss die Hand -, begrüßt der junge Vater die
Kundinnen in gesetzterem Alter. Für die jüngeren Damen
genügt auch die Kurzform "Kéz-csók". Wenn er allein
ist im Laden, vor allem kurz vor Mitternacht, wenn kaum noch ein
Kunde kommt, tänzelt er zum Radio-Gedudel an den Regalen
vorbei.
Wir nennen ihn Zoltan - seinen richtigen
Namen möchte er nicht gedruckt sehen. Er ist ungelernter
Verkäufer in einem der unzähligen Gemischtwarenläden
in Budapest, die bis spätabends geöffnet haben. Er hofft
auf Kunden, die mit ten in der Nacht ein Pfund Zwiebeln, Bier,
Papiertaschentücher oder Geschirrspülmittel kaufen
wollen.
Für den gesetzlichen Minimallohn von
60.000 Forint (umgerechnet 230 Euro) im Monat steht der
blass-blonde, schlaksige junge Mann acht Stunden am Tag in dem
Laden im 13. Bezirk. Nach Feierabend geht Zoltan nach Hause zu Frau
und Kind, in eine Ein-Zimmer-Wohnung im 8. Bezirk. Dort bezahlt er
35.000 Forint Miete - kalt. Zum Glück bekommt seine Frau, die
wegen des Kindes ihren Job als Kassiererin an den Nagel hängen
musste, noch insgesamt 25.000 Forint vom Staat - Kindergeld und
Familienzuschuss zusammen. Vom bevorstehenden EU-Beitritt seines
Landes erhofft sich Zoltan vor allem, dass er der Jugend mehr
Unterstützung bringt. Dass er nicht mehr vergeblich eine
Sozialwohnung suchen muss. Auch dass die Grenzen sich öffnen,
findet er gut, obwohl er sich nicht vorstellen kann, jemals Geld
für Reisen zu haben. Ins Nachbarland Rumänien würde
er gerne mal fahren, oder nach Deutschland. In beiden Ländern
sei es schön, weiß er vom Hörensagen. Er hat Ungarn
noch nie verlassen.
Zoltan, geboren in Budapest als Sohn einer
Krankenschwester und eines Krankenpflegers, hätte gerne eine
Ausbildung gemacht, vielleicht sogar Englisch gelernt. "Es ist ein
Vorteil, Sprachen zu können", meint er. Aber dann kam die
kleine Tochter, und mit ihr die Geldsorgen. Das Kind war nicht
geplant, aber ausdrücklich gewollt. "Wir haben uns hingesetzt
und besprochen, ob wir es haben sollen, oder" - und das sagt er
leise, fast verschämt - "ob es nicht sein soll". Er
überlegt, ob er sich nicht doch per Abendkurs weiterbilden
sollte, um weiterzukommen. Um vielleicht in der nahen oder fernen
Zukunft, einen eigenen Laden aufzumachen. Verkaufen ist seine
Leidenschaft.
Wissenschaftlich gesehen, gehört Zoltan
zu den 39 Prozent jungen Ungarn, die laut einer Studie des
Soziologen Béla Bauer noch ein Lebensziel haben und nur eine
etwas bessere Ausbildung bräuchten, um zu annähernd
westlichem Lebensstandard zu gelangen. Dramatische 43 Prozent der
Ungarn zwischen 15 und 29 Jahren zählt Bauer in seiner
Untersuchung zu den "Verlierern" der Gesellschaft. Für sie ist
das nackte Überleben die größte Herausforderung,
heißt es in der Studie. Sie sind schlecht ausgebildet,
sprechen keine Fremdsprachen, kennen die Möglichkeiten der
Informationsgesellschaft nicht und haben wegen ihrer schlechten
materiellen Lage keine Chance auf Anschluss an die
Mittelklasse.
Nur 18 Prozent der jungen Ungarn gehören
den Soziologen zufolge zu den "Gewinnern". Sie leben auf
westeuropäischem Niveau, haben höhere Schulbildung und
gebildete Eltern. Nicht zuletzt beherrschen sie Fremdsprachen und
erfüllen damit eine der entscheidenden Voraussetzungen
für eine gute Karriere in Ungarn. Paradoxerweise lernen die
Ungarn höchst ungern fremde Sprachen, obwohl ihre Wirtschaft
seit der Wende von ausländischen Investoren dominiert wird.
Der Anteil der Fremdsprachenkundigen in Ungarn liegt weit unter dem
EU-Durchschnitt. Die Rentner-Generation spricht zum Teil Deutsch,
weil dies in ihrer Kindheit die lingua franca in der Region war,
deren Kenntnis zur bürgerlichen Bildung gehörte. Die
Jüngeren hingegen hatten während des Kommunismus
weitgehend nur Russisch als Pflichtfach in der Schule.
So kam es, dass kurz nach der Wende nur die
wenigen Ungarn Jobs bei den anrückenden Multis bekamen, die
mit Deutsch- oder Englischkenntnissen dienen konnten. Fachkompetenz
war deshalb nachrangig, erzählt Hajnalka Nikli. Sie ist
Head-Hunterin bei einem führenden Unternehmen zur Vermittlung
von Spitzenmanagern in der Region. Die 29-Jährige hat ihr
Büro in einer festungsartigen Villa auf dem feinen
Rosenhügel im beschaulichen Buda.
Geheimnisvolle Stille herrscht in diesem
Tempel, in dem Karriere-Fäden gesponnen werden, dicke
Teppichböden schlucken jedes Geräusch auf den ohnehin
leeren Korridoren. Lautlos, aber dynamischen Schrittes tritt die
zierliche, natur-rotblonde Frau in das elegante Konferenzzimmer zum
Gespräch. Vom EU-Beitritt erwartet Hajnalka "weniger radikale
Änderungen, als wir früher gedacht haben". Es wird, so
sagt sie, "ein sanfter Übergang". Dann kommt sie schnell auf
den wunden Punkt zu sprechen: Viele Ungarn sind enttäuscht
darüber, dass die meisten EU-Staaten ihre Arbeitsmärkte
nicht sofort für die Beitrittsländer öffnen werden,
sondern sich dafür mehrjährige Übergangsfristen
ausbedungen haben. Und dies, obwohl Ungarn dem Westen sowohl den
Arbeits- als auch den Immobilienmarkt anstandslos geöffnet
habe. Immerhin aber, meint Hajnalka, werde das Land auf lange Sicht
durch EU-Finanzierung eine bessere Infrastruktur bekommen, bessere
Straßen und Verkehrsmittel. Wie viele andere Experten sieht
auch die Jung-Unternehmensberaterin, dass Ungarn sich nicht mehr
lange als Billiglohnland und verlängerte Werkbank Westeuropas
halten könne, sondern andere Standortvorteile bieten
müsse. Sie ist zuversichtlich, dass die Multis anstelle ihrer
Billig-Produktionsstätten nun Forschungs- und
Entwicklungseinrichtungen nach Ungarn verlagern: "Nokia ist schon
da, und IBM kommt auch." Am meisten aber hofft sie, dass der Druck
der Brüsseler Normen "etwas im Kopf der Ungarn" bewegt. Dass
die "kommunistische Mentalität verschwindet", dass es weniger
Korruption gibt und mehr öffentliches Engagement und
Umweltbewusstsein. "In Amerika gibt es doch tatsächlich
Städte, wo das Rauchen auf der Straße verboten ist",
schwärmt sie, "bei uns schmeißen die Leute die
Zigarettenkippen auf das Pflaster."
Der Soziologe Béla Bauer würde
Hajnalka in eine besonders interessante Unter-Kategorie in seiner
Gruppe der "Gewinner" einordnen: jene Klasse der Aufstrebenden
entfernt von der Hauptstadt, die er als sehr empfänglich
für Macht, öffentliches Leben und Politik beschreibt.
Hajnalka kommt aus der tiefsten ungarischen Provinz und hat sich
hart nach Budapest hochgearbeitet. Ihre Mutter ist Buchhalterin im
Rathaus von Tótszerdahely, ihr Vater repariert
Kühlschränke. Als nach der Wende 1989 in Ungarn einige
wenige zweisprachige Gymnasien gegründet wurden, bewarb sie
sich in der englisch-ungarischen Internatsschule von
Balatonalmádi am Plattensee. Sie gehörte zu den 75
Zöglingen, die aus rund 2.000 Kandidaten nach einem Test
ausgewählt wurden. Geprüft wurde dabei neben Mathematik
und Literatur auch "Logik" - ein Fach, von dem Hajnalka bis dahin
nie etwas gehört hatte. Nach dem Abitur studierte sie
Anglistik und Hungarologie in Budapest, arbeitete zwischendurch ein
Jahr lang in einem internationalen Londoner Konferenz-Zentrum.
"Meine erste multikulturelle Erfahrung", nennt sie diesen
Aufenthalt. Da sie wegen der schlechten Bezahlung nicht Lehrerin
werden wollte, schaute sie sich gleich nach dem Abschluss an der
Job-Börse der Volkswirtschafts-Fakultät in Budapest um
und fand prompt eine Anstellung bei einem österreichischen
Head-Hunter. Parallel belegte sie Kurse an einer Budapester
Management-Schule. Die Schul-Gebühren fraßen etwa ein
Drittel ihres damaligen Gehalts. Jetzt, beim neuen Arbeitgeber, hat
sie eine höhere Position. Sie recherchiert selbständig,
mit viel Diskretion, wer von den ungarischen Top-Managern mit
seinem Job unzufrieden ist, und eventuell in einem anderen
Unternehmen die Chance hat, die Karriereleiter noch weiter
hochzuklettern. Sie hat einen Arbeitstag von mindestens zehn
Stunden. Sie lebt als Single, denn "der Richtige" ist noch nicht
erschienen. Sollte der auftauchen, sagt sie, würde sie ihren
Beruf aufgeben. Mann und Kinder seien das Wichtigste.
Zoltan und Hajnalka haben wohl nur den
traditionellen Familiensinn und die relativ bescheidene Herkunft
gemeinsam, ansonsten trennen sie Welten. Er war zum Zeitpunkt der
Wende 1989 gerade sieben Jahre alt, sie fast 15. Zoltan hat vom
Kommunismus so gut wie nichts mitbekommen. "Mich interessiert die
Vergangenheit nicht, denn die kann man sowieso nicht ändern",
meint er, "wichtig ist das, was ist, und was sein wird." Hajnalka
hingegen war als Kind "Junge Pionierin" in der kommunistischen
Jugendorganisation. Diese Erfahrung trennt sie von ihren
Altersgenossen in Westeuropa. Das hat sie während ihres
London-Aufenthalts zu spüren bekommen, wo sie mit jungen
Leuten aus Ost und West zusammenkam. Mit den Osteuropäern
konnte sie den Stolz auf die vorkommunistische Vergangenheit ihrer
Länder teilen. Die Briten hätten aber mit der
Geschichtseinteilung in Vor- und Nach-Kommunismus nichts anfangen
können.
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