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Andrea Dunai
Die Behandlungsmethoden des
Gesundheitswesens
Viele Reformen in der ungarischen Medizin haben
zu einem Wirrwarr für die Patienten geführt
Normalerweise gehört der Besuch von
Krankenhauspatienten nicht zu den Aufgaben von Dr. Mihály
Kökény, dem Gesundheitsminister der Ungarischen Republik.
Am 17. Februar dieses Jahres jedoch waren die Fernsehkameras auf
ihn gerichtet, als er in der Chirurgie eines Provinzkrankenhauses
zwei frisch operierten Patienten je einen Umschlag
überreichte. Diese enthielten Rechnungen in Höhe der
Aufenthalts- und Behandlungskosten in der Klinik. Der feierliche
Akt sollte eine aufklärerische Lektion für die gesamte
ungarische Nation sein.
Durch das Wirrwarr der seit Jahren
andauernden Reformversuche im Gesundheitswesen sind sich die
ungarischen Bürgerinnen und Bürger nicht mehr
darüber im Klaren, wie viel eine Behandlung überhaupt
kostet und wer die Kosten dafür zu tragen hat. In diesen
Fragen haben sie längst die Orientierung verloren. Jede neu
gewählte Regierung - nunmehr vier an der Zahl seit der Wende -
versucht, ihre Wählerschaft mit großartigen
Versprechungen zu lenken, zu beeinflussen, zu motivieren und
nachträglich zu beruhigen.
Die junge Demokratie verbucht bereits mehrere
verschiedene Innovationen im Gesundheitsbereich: die Privatisierung
der Praxen, die Einführung des hausärztlichen Dienstes,
die gesetzlich geregelte Reduzierung der Betten pro
Krankenhauszimmer, das Volksgesundheitsprogramm (es ermöglicht
der Bevölkerung kostenfreie Vorsorgeuntersuchungen) und
schließlich das so genannte Krankenhausgesetz. Letzteres kam
bereits in der Amtszeit der rechtskonservativen Regierung Viktor
Orbáns (1998 - 2002) in Mode. Merkwürdigerweise
befürworteten beide sonst so heftig rivalisierenden Lager, die
Links- und die Rechtsparteien, damals das Krankenhausgesetz. Das
heißt, alle waren sich darüber einig, dass die Gemeinden
ihre Krankenhäuser samt Einrichtung an juristische Personen
oder Investitionsgemeinschaften verkaufen könnten, wenn diese
über einen akzeptablen Finanzierungs- und Betreibungsplan
verfügten. Von dieser Regelung haben sich die Politiker vor
allem schneeweiße Klinikwände sowie schnellere und
schmerzfreie Genesungsprozesse erhofft.
Der verdächtige Konsens quer durch die
Parteienlandschaft erwies sich allerdings nicht als langlebig: Seit
2002, als die linksliberale Opposition zur Regierungspartei
avancierte, mehrten sich die Stimmen, die das Krankenhausgesetz
verhindern wollten. Ende 2003 hat das Verfassungsgericht jetzt
endgültig gegen das Gesetz entschieden. Das Urteil entsprach
der Haltung der jetzigen oppositionellen Parteien, oder besser
gesagt, des einmaligen Zweckbündnisses zwischen der linken
Arbeiterpartei und der rechtskonservativen Fidesz, derzufolge durch
eine "wildkapitalistische Privatisierung der ungarischen
Krankenhäuser" dem Land der totale Ausverkauf drohe. Die
Menschen haben das letzte Wort der Justiz mit Gelassenheit
aufgenommen. Ihnen ist es letztendlich egal, ob der verschuldete
Staat oder der verschuldete Kapitalist hinter den Krankenhausmauern
steht.
Die Patienten haben bereits mit der staatlich
geförderten Privatisierung ihre ersten Erfahrungen gemacht.
Mitte der 90er-Jahre übernahmen nämlich Privatärzte
die Grundversorgung der Patienten in den von den Gemeinden
gemieteten Räumen - im Prinzip den Patienten gegenüber
kostenfrei. In der Praxis aber ging dies mit einer "Stimulierung"
der "Dankbarkeitszuschüsse" von seiten des Patienten einher.
Das heißt, dass er aus seinem eigenen Portemonnaie dem
behandelnden Arzt in einem weißen Umschlag eine Prämie
für die eigentliche Pflichterfüllung des Arztes
gewährt.
Als zweite Stufe der marktwirtschaftlichen
Umstellung wurde 2001 ein weiteres Gesetz verabschiedet, das die
Hausärzte in ihren Ambitionen unterstützte, ihre
Praxisräume von den Stadtverwaltungen zu erwerben. Ihnen
stehen seitdem günstige Kredite zur Verfügung,
während das staatliche Gesundheitsamt aufgrund eines
Regierungserlasses desselben Jahres denjenigen Ärzten, die
nicht Eigentümer ihrer vier Wände sind, die monatliche
Unterstützung von 50 - 100.000 Forint (250 - 400 Euro)
gekündigt hat. Durch den Erwerb der Immobilien entstehen echt
profit-orientierte Formationen, die nicht mehr nur an der
Existenzsicherung der Mitarbeiter interessiert sind. Solche
Ärzte fühlen sich verpflichtet, ihre Ausstattung selber
zu kaufen, um die Qualität der Behandlung zu verbessern. Die
Gegenleistungen des staatlichen Gesundheitsamtes und der inzwischen
gegründeten privaten Krankenkassen können den
Unternehmensgeist dieser Ärzte jedoch nicht entsprechend
honorieren. Im real existierenden Sozialismus absolvierten
jährlich im Durchschnitt 1.200 Studenten ein Medizinstudium.
Heute sitzen bis zu 700 Studierende in den Hörsälen der
Semmelweis-Universität, von denen jeder Zweite nach dem
Staatsexamen aus dem Beruf ausscheidet. Die Wände der
Krankenhäuser, von denen die schlechte Farbe abblättert,
die Beschwerden der Patienten und die äußerst geringen
Gehälter in den Praxen schrecken den Nachwuchs ab.
Die anarchischen Verhältnisse in der
ungarischen Medizin sind allerdings keine unmittelbare Folge der
Marktwirtschaft. Das System der Parasolvenz etablierte sich bereits
in der Ära Kádár, in jenen Jahren, als Ungarn in der
weltweiten Statistik bei den Herz-, Gefäß-, Leber- und
tumorösen Erkrankungen den ersten Platz errang. Diese
Situation verbesserte sich seit Mitte der 90er-Jahre durch die
gesündere Lebensform der Bevölkerung. Eine der
möglichen Erklärungen hierfür ist die Tatsache, dass
die Ungarn nicht mehr wie früher gleichzeitig zwei oder sogar
drei Jobs ausüben. Sie freuen sich, wenn sie überhaupt
einen Arbeitsplatz haben. Nur die Polikliniken, in denen heute die
meisten Ärzte ihre Räume mieten, spiegeln die
Atmosphäre der 70er- und 80er-Jahre wieder. Die
Warteräume wurden allerdings ein wenig aufgemotzt, aber es
steht kein Garderobenmann mehr bei der Anmeldung, der die
Mäntel der Kranken entgegennimmt. Solche Arbeitsplätze
wurden längst abgewickelt, obwohl der Staat vergangenes Jahr
seine Ausgaben im Gesundheitswesen um 170 Milliarden Forint
erhöht hat. In welche Kanäle das Geld fließt, ist
nicht nachweisbar; von einem EU-Mitglied wird jedoch erwartet,
einen bestimmten Anteil seines Bruttosozialproduktes im Bereich des
Gesundheitswesens auszugeben.
Die Angelegenheit ist Chefsache. An der
Spitze der Regierung steht ein studierter Ökonom und
praktizierender Bankier. Der derzeitige Ministerpräsident,
Péter Medgyessy, möchte sich nicht nur mit langweiligen
statistischen Angaben in das Buch der Gesundheitsreformen Ungarns
einschreiben. Er möchte vielmehr sehenswerte und vor allem
nachhaltige Investitionen vorzeigen. Im Januar dieses Jahres wurde
in Ungarn das "Modell der gelenkten Krankenversorgung" ins Leben
gerufen und eingesetzt. Demnach sorgen ausgebildete Manager
dafür, dass dem Patienten immer das höchste Niveau der
Behandlung zuteil und das billigste Medikament verschrieben
wird.
Die Augen der Kontrolleure müssen
unnötige Überweisungen zu Fachärzten und
unüberlegte Einweisungen ins Krankenhaus herausfiltern.
Experten rechnen mit Einsparungen von jährlich 100 - 200
Milliarden Forint, die laut Plan zugunsten der Modernisierung der
medizinischen Einrichtungen umgeschichtet werden. Mit dieser Reform
möchte Medgyessy den Widerspruch relativieren, demzufolge das
ungarische Gesundheitswesen gleichzeitig arm wie verschwenderisch
sei.
Am Vorabend des EU-Beitritts wird noch eine
andere "Fassadenarbeit" betrieben: Als Teil des "Europa-Projektes"
brüstet sich der Gesundheitssektor vor den Behörden in
Brüssel mit dem "Programm der Krankenhausrekonstruktionen".
Seit 2003 beschäftigen sich Bauarbeiter mit der Renovierung
von zwölf Provinzkrankenhäusern und 33 Notaufnahmen. Als
ob die Bauherren im Parlament vor der Niederlage des
Krankenhausgesetzes am Jahresende 2003 geahnt hätten, dass
keine Massenprivatisierungswelle zu erwarten ist. Die EU belohnte
die Regierung für die ambitionierten Pläne und
gewährte unlängst mehr als 20 Millionen Euro für die
Modernisierung des ungarischen Gesundheitswesens. Den Betrag
möchte das Land um sechs Millionen aufstocken. Aus diesen
Fonds werden die Einrichtungen in den besonders schwachen Regionen,
vor allem in der großen ungarischen Tiefebene in Schuss
gebracht. Es wird eine Informationstechnologie entwickelt, um die
Kommunikation zwischen Haus- und Fachärzten zu
erleichtern.
Die Öffentlichkeit betrachtet all diese
Vorhaben skeptisch, Kranke und Gesunde erfahren bereits am eigenen
Leib, dass die Mitgliedschaft in der EU keine kosten- und
opferfreie Angelegenheit ist. An dieser inneren Unruhe ändert
auch die PR-trächtige Idee des Gesundheitsministeriums
voraussichtlich nicht viel: Minister Kökény nimmt
persönlich jeden Donnerstag Telefonanrufe aus der
Bevölkerung entgegen und beantwortet die Fragen seiner meist
unbekannten Patienten. Schließlich war er vor seiner Ernennung
zum Minister selbst praktizierender Arzt.
Andrea Dunai ist freie Journalistin in
Berlin.
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