Michael Jäger
Vom Familienurlaub zur Ballermannkultur
Der Balaton ist eine Hochburg der ungarischen
Tourismusbranche
Ob Kristof Festecics Angst hatte, vor Langeweile umzukommen, ist
nicht überliefert. Wie auch immer, ihm verdankt Keszthely, die
zweitgrößte Stadt am Balaton, eine einzigartige
Bibliothek mit mehr als 100.000 Bänden und Originalschriften.
Es war im 18. Jahrhundert, als Herr Festecics, ein kroatischer
Adelsmann, die Herrschaft über die Stadt übernahm und
Keszthely zum Stammsitz seiner Familie auserkor. Das Schloss, in
dem sich die Bibliothek befindet, zählt zu den
größten und schönsten Ungarns. Darüber hinaus
zeugen zahlreiche Bauten heute noch von dem kulturellen Glanz
dieser Epoche.
Die erste, von Festecics gegründete Schiffahrtsgesellschaft
am Balaton hat sich nicht so lange gehalten. Der Bau der
Eisenbahnlinie entlang dem See in den 60er-Jahren des 19.
Jahrhunderts hat ihr den Rang "abgefahren". Mit der Eisenbahn wurde
Keszthely zur Kur- und Badestadt, und überall am Balaton
setzte zu dieser Zeit der Fremdenverkehr ein.
Seitdem hat sich nicht nur in Keszthely vieles verändert,
sondern überall am Balaton. Insbesondere der Sozialismus hat
seine deutlichen Spuren hinterlassen. In steter Sorge um die
Produktivität der Werktätigen baute die Partei den
Balaton zur Erholungsstätte für die Arbeiter auch aus dem
Bruderland DDR um. Rund um den Balaton stehen noch heute, teils in
beklagenswertem Zustand, die Nachlassenschaften der sozialistischen
Stadtplanung: Plattenbauten, Hotels und Erholungsheime. Doch der
Reisende spürt die Bemühungen, ehemaligem Glanz zu neuem
Leben zu verhelfen. Viele alte Bauwerke sind restauriert und viele
neue Häuser errichtet.
Der Tourismus in Ungarn hat in den vergangenen Jahren an
Bedeutung gewonnen, und die Regierung hat große
Bemühungen darauf gerichtet, ihn weiterhin zu fördern.
Seit 1990 haben sich die Einnahmen aus dem Tourismus mehr als
vervierfacht. Im Jahr 2000 deck-ten diese Einnahmen das gesamte
Außenhandelsdefizit ab und erwirtschafteten sogar noch
Mehreinnahmen.
Doch was macht den Reiz Ungarns eigentlich aus? An
landschaftlichen Schönheiten und kulturellen
Sehenswürdigkeiten hat das Land, verglichen mit anderen
Urlaubsregionen, wenig zu bieten. Aber im Vergleich zu vielen
Reisezielen innerhalb der EU kann man dort noch ausgesprochen
günstig Urlaub machen. Das könnte ein Grund für die
Beliebtheit sein. Ein weiterer ist die Nostalgie, die viele
Erholungssuchende von früher zweifellos noch heute für
das Land empfinden. Sie ist besonders an den Thermalquellen zu
spüren, die seit Hunderten von Jahren Anziehungspunkt für
Erholungssuchende sind.
In dem sechs Kilometer vom Balaton-Nordufer gelegenen
Héviz, der Stadt mit dem zweitgrößten Warmwassersee
der Welt, nimmt diese Form des Gesundheitsurlaubs zum Beispiel fast
surreale Formen an. Die Badeanstalt des Sees ist eine Perle unter
ihresgleichen. Sie stammt aus dem vorletzten Jahrhundert und ist,
weil kaum verändert, absolut sehenswert. Im Zusammenspiel mit
dem von Seerosen geschmückten Wasser wirkt das Ganze beinahe
märchenhaft. Vor dieser Kulisse treiben ganzjährig
hunderte, meist ältere Menschen mit ihren Schwimmhörnchen
dicht an dicht wie Treibgut auf dem See.
Der Muff vergangener Tage
Aus der sozialistischen Zeit stammt allerdings auch noch so
manch schmucklose Einrichtungt rund um den Balaton, die dem Begriff
"Badeanstalt" alle Ehre macht. Noch heute ist darin der Muff
vergangener Tage deutlich zu spüren, und man fühlt sich
dahin zurück versetzt. Dennoch beklagen sich die Betreiber
nicht über einen Mangel an Gästen. Es sind meist
ältere Menschen, die diese heilsamen Bäder aufsuchen. Der
strenge Schwefelgeruch des heilsamen Wassers läßt sich
wohl am besten ertragen, wenn das körperli-che Zipperlein noch
größer ist als er.
Aber es gibt auch eine andere Seite des Urlaubs am Balaton und
zwar das südöstliche Ende, genauer, die Stadt
Siófok. Der Ballermann auf Mallorca zeigt nach vielen Jahren
Abnutzungserscheinungen, und durch die Euroumstellung und
Sonderabgaben für Touristen ist das Vergnügen auf
Mallorca längst kein billiges mehr. Die Horden
Vergnügungssüchtiger zieht es daher an neue Gefilde. Dort
am südöstlichen Ende des Balatons ist ein solches in den
vergangenen Jahren entstanden. Dabei verdankt es Siófok
möglicherweise dem Sozialismus, dass es die
Ballermannsüchtigen gerade in seine Gegend verschlagen hat.
Nirgends sonst am Balaton hat er seine weithin sichtbaren
Betonspuren so deutlich hinterlassen wie dort. Diese Quartiere
allein sind in der Lage, die neuen Massen aufzunehmen.
Wie auf Mallorca konzentriert sich diese Szene aber auf einem
relativ kleinen Teil des zur Disposition stehenden Areals. Der
restliche Teil des Sees wird überwiegend von Familien und
älteren Leuten bevölkert, die einfach günstig Urlaub
machen wollen. Hier liegt ein gravierender Unterschied zu Mallorca.
Dort ha-ben sich in mehr oder weniger friedlicher Koexistenz zwei
Urlaubsphilosophien entwickelt. Die einen lieben auf Mallorca wie
am Balaton das ungebremste Vergnügen und sein darauf
ausgerichtetes, reichhaltiges Angebot innerhalb der dafür
vorgesehenen Gemarkungen. Die anderen lieben Mallorca für die
Schönheit der Insel und schätzen ihren
Abwechslungsreichtum als Wander- und Radfahrparadies.
Da Ungarn derartige landschaftliche Attraktionen aber nicht
besitzt, ist es schwer vorstellbar, dass das Gros der Touristen den
Weg noch zum Balaton finden wird, wenn die Preise deutlich
anziehen. Diese Entwicklung hat aber bereits begonnen. Im Zuge der
EU-Erweiterung sind überall in Ungarn die Löhne und
Gehälter gestiegen. In wenigen Jahren will das Land
darüber hinaus der Eurozone beitreten. Damit könnte dann
der nächste Preisschub verbunden sein. Man denke an den so
genannten Teuro bei der Einfühung des Euro in Deutschland. Der
Euro könnte für Ungarn und speziell den Balaton eine
harte Be"Währungs"probe werden.
Vielleicht laufen deshalb die Bemühungen der ungarischen
Regierung auf Hochtouren, dem Tourismus ein klareres Profil zu
geben. Mit staatlicher Förderung wie dem so genannten
"Széchenyi-Plan" werden die Verbesserung der Infrastruktur und
der touristischen In-formationssysteme sowie die Qualität und
Ausbildung der im Tourismus Beschäftigten vorangetrieben.
Schwerpunkte dieses Tourismusplans sind die Weiterentwicklung der
Thermalangebote, des Konferenztourismus, die Einrichtung von
Ferienparks sowie die Entwicklung des Schlosstourismus.
Langfristig möchte man gerne auf Erscheinungen wie den
Partytourismus in Siófok verzichten. Das Regionale
Projektbüro für Tourismus am Balaton hat bereits den
naturschonendem Tourismus ausgerufen. Sein Programm lautet: Schluss
mit der grenzenlosen, "uferlosen" Bebauung des Balaton-Ufers.
Schluss mit der totalenVermüllung durch Dauerparties à la
Ballermann. Auch der adlige Kristof Festecics, seine reichhaltige
Bibliothek und das dazugehörige Schloss könnten sich
über mehr Kulturinteressierte übrigens nur freuen.
Michael Jäger lebt als freier Journalist und
Unternehmensberater in Köln.
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