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Thomas von Ahn
Das Statusgesetz und der Magyarenausweis
Ungarn und sein Umgang mit den eigenen
Minderheiten in den Nachbarländern
Von dem, was nach dem Zusammenbruch der sowjetischen
Vorherrschaft in Jugoslawien passiert ist, sind die Länder
Ostmitteleuropas bekanntlich verschont geblieben. Dort hat die
reformpolitische Alternative zu einem euro-atlantischen
Systemwandel die destruktive Kraft des Nationalen überwinden
können. Trotzdem ist die nationale Frage auch in diesen
Ländern ein brisantes Thema von gesamtgesellschaftlicher
Tragweite. In Ungarn artikuliert sie sich in Bezug auf die
über drei Millionen starke ungarische Minderheit jenseits der
Landesgrenzen, die seit der geopolitischen Neuordnung
Ostmitteleuropas dort lebt. An Grenzänderungen ist heute aber
nicht mehr zu denken. Gerade im Hinblick auf den europäischen
Integrationsprozess sind vielmehr Lösungen gefragt, die im
gegenseitigen Einverständnis der betroffenen Länder einen
angemessenen Minderheitenschutz ermöglichen.
Minderheiten gibt es heute auch in Ungarn. Ihr Schutz hat ebenso
Verfassungsrang wie die Sorge um das Wohlergehen der magyarischen
Minderheiten im Ausland, obwohl ihre Zahl im Vergleich viel
geringer ist. Ein 1993 verabschiedetes Minderheitengesetz
erwähnt ausdrücklich 13 Minderheiten. Das Gesetz
gewährt ihnen das Recht auf muttersprachlichen Unterricht.
Frei gewählte Selbstverwaltungen setzen sich zudem auf
kommunaler und auf Landesebene für die Wahrnehmung der
Minderheitenrechte ein. Das Gesetz ist aber auch Zeichen des
Budapester Willens, mit gutem Beispiel voranzugehen, um so auf
glaubwürdige Weise wiederum Gleiches von den Nachbarstaaten
fordern zu können. Profitiert haben von ihm vor allem die
nationalen Minderheiten, allen voran die deutsche, slowakische und
die rumänische. Die Roma - einzig erwähnte ethnische
Minderheit, die nicht auf ein "Vaterland" verweisen kann -
gehören nach wie vor zu den großen Verlierern der Wende.
So kann man zwar sagen, dass die Minderheitenproblematik in Ungarn
auf formaler Ebene einer positiven Lösung zugeführt
wurde. Ob das Gesetz auch dazu beigetragen hat, die Nachbarstaaten
zu einem besseren Schutz der ungarischen Minderheiten anzuspornen,
ist jedoch fraglich. Die Strategie krankt allein schon daran, dass
auf dem heutigen Staatsgebiet Ungarns wesentlich weniger
Minderheiten leben, als Ungarn in den Nachbarstaaten. Wenn zudem -
wie dies bei der ersten frei gewählten Regierung unter
József Antall der Fall war - die Qualität der bilateralen
Beziehungen vorrangig nach der Frage der Behandlung der ungarischen
Minderheiten in den Nachbarstaaten beurteilt wird, erschwert dies
obendrein bilaterale Einigungen über den
Minderheitenschutz.
Diese Politik, die so genannte Antall-Doktrin, wurde zudem
begleitet von einem ethnisch geprägten Begriff der eigenen
Nation, dessen prominenteste Definition ebenfalls von Antall
stammt: "Im Geiste fühle ich mich als Ministerpräsident
von 15 Millionen Magyaren." Das schwammige Bild von der eigenen
staatlichen Kompetenz, das diese unscharfe Trennung von
Staatsbürgerschaft und Ethnizität suggerierte, musste den
Nachbarstaaten ein Dorn im Auge sein. Auch dort ging man von einem
ethnisch geprägten Nationenbegriff aus und verstand es im
Bedarfsfall, die ungarischen Forderungen als versteckten
Revisionismus zu interpretieren und für eigene
nationalistische Belange zu instrumentalisieren.
Die zweite frei gewählte Regierung unter Gyula Horn behielt
die außen- und innenpolitischen Ziele ihrer Vorgängerin
bei, vermied aber eine ethnozentristische Rhetorik und betonte die
gemeinsamen europäischen Ziele aller osteuropäischen
Staaten. Sie war zudem davon überzeugt, die Lage der
Minderheiten erst verbessern zu können, wenn sich das
Verhältnis zu den Nachbarn normalisiert habe. Diese Umkehrung
der Antall-Doktrin führte schließlich, verbunden mit der
endgültigen Anerkennung der Grenzen, zu der die
Antall-Regierung nicht bereit gewesen war, zu
Grundlagenverträgen mit der Slowakei und Rumänien.
Allerdings hatte Budapest sein Forderungsniveau hinsichtlich der
Minderheitenrechte erheblich senken müssen, um den Erfolg der
Verhandlungen nicht zu gefährden.
Eine erneute Kehrtwende vollzog nach 1998 die Regierung unter
Viktor Orbán. Ihr außenpolitisches Ziel war die
"grenzüberschreitende Wiedervereinigung der ungarischen
Nation", wie der Premier sagte. Dazu sollte ihm das so genannte
Statusgesetz dienen, das Magyaren, die in den Nachbarstaaten leben,
erhebliche Sonderrechte im "Mutterland" einräumt: Neben
Vergünstigungen im Kultur- und Bildungsbereich vor allem einen
erleichterten Zugang auf den ungarischen Arbeitsmarkt. Das im Juni
2001 mit überwältigender Mehrheit verabschiedete Gesetz
stieß vor allem in der Slowakei und in Rumänien auf herbe
Kritik. Stein des Anstoßes war der so genannte
Magyarenausweis, dessen Besitz die Vergünstigungen
voraussetzt. Da er von ungarischen Behörden ausgestellt wird,
stellt er eine staatsrechtliche Bindung zwischen der Republik
Ungarn und dem Bürger eines Nachbarstaates dar.
Das Statusgesetz wurde nicht nur ohne die Konsultation der
Nachbarstaaten vorangetrieben, aufgrund seiner positiven
Diskriminierungsmaßnahmen verstößt es auch gegen
EU-Normen. Die seit April 2002 amtierende Regierung Medgyessy, die
das Gesetz prinzipiell für gut heißt, war deshalb unter
dem Duck der EU darum bemüht, sich bilateral mit Bukarest und
Bratislava über die Anwendungsbestimmungen zu einigen - mit
dem Ergebnis, dass das Gesetz in den sechs betroffenen
Nachbarstaaten heute auf drei verschiedene Arten angewendet wird,
denn die Ukraine, Serbien, Kroatien und Slowenien haben nicht auf
Sonderregelungen bestanden.
Rückblickend zeigt sich, dass die ungarische
Minderheitenpolitik ihre größten Erfolge auf der
bilateralen Ebene verzeichnen konnte. Doch hat die ungarische
Politik wiederholt die Neigung gezeigt, nationale Eigeninteressen
einseitig durchsetzen zu wollen. Der Preis dafür war eine
erhebliche Belastung der bilateralen Beziehungen - die Kosten
für eine solche Politik tragen in der Regel die ungarischen
Minderheiten. Doch besitzt die EU bisher so viel Autorität,
das Gleichgewicht von Westintegration, Nachbarschafts- und
Minderheitenpolitik wieder auszupendeln, wenn es zu kippen droht.
Nicht zu vergessen ist die Lage der Minderheiten selbst. Hier
stellen die Fortschrittsberichte der Europäischen Kommission
seit Ende der 90er-Jahre substanzielle Verbesserungen fest.
Instabil bleibt jedoch die Lage in der Vojvodina. Zuletzt sind im
Zusammenhang mit den serbischen Parlamentswahlen im Januar
Übergriffe auf Magyaren gemeldet worden.
Wie überall in Ostmitteleuropa sind auch die circa 600.000
bis 800.000 Roma in Ungarn überdurchschnittlich benachteiligt.
Das größte Problem ist die hohe Arbeitslosigkeit unter
ihnen, die in manchen Regionen Ungarns sogar 70 - 100 Prozent
beträgt. Zu Zeiten der Planwirtschaft versahen die Roma
Hilfsarbeiten in der Schwerindustrie oder in der Landwirtschaft.
Doch wird der Bedarf an ungelernten Arbeitskräften immer
geringer, und Romakinder besuchen selten weiterführende
Schulen. Ihre Familien leben häufig segregiert und werden so
leicht zu Opfern rassistischer Übergriffe. Die Integration
fällt nicht zuletzt auch deshalb so schwer, weil die Roma
keine in sich homogene Minderheit darstellen - es eint sie nur ihre
Armut.
Der Anwendung des Minderheitenrechts - aber auch der
Menschenrechte - auf die Roma in Ungarn wird von Experten als
halbherzig bezeichnet. Noch fehlt ein Antidiskriminierungsgesetz,
das mit EU-Normen konform geht. Ebenso wenig ist die Sprache der
Roma - so sie denn nicht Ungarisch ist - ausreichend
geschützt, obwohl Ungarn Unterzeichner der EU-Charta zum
Schutz von Minderheitensprachen ist. Es gibt aber auch gute
Zeichen: So hat die Regierung Medgyessy in fast jedes seiner
Ministerien Roma-Mitarbeiter berufen. Damit sich aber die
Plünderungen von Ämtern und Supermärkten durch Roma,
wie sie Ende Februar 2004 zu wiederholten Malen in der Slowakei
passiert sind, sich in Ungarn nicht wiederholen, sind
zukünftig noch massive Anstrengungen nötig.
Thomas von Ahn
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