|
|
Susi Koltai
Wiedergeburt aus Witz und Spielfreude
Neues aus dem alten Filmland Ungarn
Der erfolgreichste ungarische Spielfilm der
vergangenen Jahre war "Hukkle", was soviel heißt wie
Schluckauf. In György Pàlfys liebevoll gemachtem
Erstlingswerk ist der rhythmische Schluckauf eines betagten Mannes,
der in der Sonne auf dem Bänkchen vor seinem Haus sitzt,
gewissermaßen der Refrain des Filmes. Dialoge gibt es keine,
nur Geräusche und Laute des Dorflebens, die sich manchmal zu
einem synchronen Zusammenspiel verdichten.
Idyllisch wirkt der Leichenzug, der sich
durch das Dorf bewegt. Ebenso sanft und still ermittelt der
Dorfpolizist im Mordfall am friedlichen Fischerteich. Die Flasche
des Anglers liegt leer getrunken da. Häschen hoppeln,
Schneeglöckchen sprießen im Zeit-raffertempo aus dem
Boden, Schweine werden zum Begatten gebracht, ein Maulwurf frisst
begeistert einen Regenwurm. Und während das Spülwasser
fröhlich zum Abwasserrohr hinausgluckert, sackt ein
Fußgänger auf der Dorfstraße tonlos in sich
zusammen. Immer weniger Männer spielen auf dem Dorfplatz
Boccia. Eine nette Oma kocht aus den hübschen
Schneeglöckchen jenen merkwürdigen Saft, den sie unter
die Dorffrauen verteilt. Einen Schuss Saft in den Schnaps des
Ehemannes, ein wenig Saft ins Gulasch… Zerissen wird die
Idylle durch das enorme Gedonner eines Jagdflugzeuges, das in einem
surrealistischen Taumel unter der dörflichen Steinbrücke
hindurchrast. Einen Moment lang bleibt alles stehen. Doch dann
setzt der Schluckauf des Opas von Neuem ein, und alles nimmt wieder
seinen friedlichen Lauf…
Zu entdecken gibt es in der ungarischen
Filmlandschaft sehr viel. Die Originalität, Witz und
Experimentierfreude der ungarischen Filmer sind wohl auch der
Grund, weshalb das ungarische nationale Filmfestival in Budapest
seit Jahrzehnten eine ansehnliche Gruppe von illustren
Filmkritikern und Festivalveranstaltern aus aller Welt anzuziehen
vermag. Trotz gleich anschließender Berlinale erscheinen die
internationalen Gäste getreulich zum Festival, um sich
anschließend im jeweiligen Wirkungskreis tatkräftig
für den ungarischen Film einzusetzen. Auch beim einheimischen,
vorwiegend jungen Publikum ist das Festival überaus beliebt.
Dieses Jahr wurden 40.000 Eintrittskarten verkauft. Die Tendenz ist
seit einigen Jahren steigend. Der eigenen Filmproduktion wird in
Ungarn vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt, dennoch ist die
Vorherrschaft amerikanischer Streifen auf dem Markt
überdeutlich. 80 bis 85 Prozent der in Ungarn verkauften
Kinokarten gehen auf das Konto von
Hollywoodproduktionen.
Das Medium Film stieß in Ungarn seit
seinen Anfängen auf große Begeisterung. Bis 1919
entwickelte sich eine florierende Filmindustrie. Nach Machtantritt
des faschistischen Horthy-Regimes emigrierten in den 20er-Jahren
scharenweise ungarische Filmpioniere nach Amerika und waren am
Aufbau der Filmindustrie Hollywoods wesentlich beteiligt. Der Ungar
Adolph Zukor begründete die Paramount Pictures, William Fox
die 20th Century Fox. Auch Tony Curtis und Paul Newman haben
ungarische Vorfahren.
In den 30er-Jahren konnte das Vakuum, das
infolge des Weggangs dieser wichtigen Filmpioniere entstanden war,
durch eine gut organisierte Tonfilmindustrie gefüllt werden.
Allerdings waren die meisten der in dieser Zeit gedrehten Filme
Komödien der eher seichteren Art mit Stars wie Marika
Rökk, Géza von Cziffra und vielen anderen.
Bereits 1948 wurde der ungarische Film
verstaatlicht und fortan in den Dienst des staatlichen
Propagandaapparates gestellt. In den 60er- und 70er-Jahren lockerte
sich jedoch in Ungarn die politische Atmosphäre. Der
ungarische Film gehörte zu denjenigen Künsten, die am
weitesten gehen durften in der Kritik am sozialistischen System.
Ganz frei war er dennoch nicht. Denn die Filmschaffenden
produzierten ihre Filme im Rahmen der gut organisierten und recht
großzügig dotierten Filmfabrik, die aber immer noch Teil
des staatlichen Systems blieb. "Bei Bedarf" wurden dort die
Drehbücher zensiert.
Die Wende war für die ungarischen
Filmemacher bei aller Freude auch ein gewisser Schock. Die so
genannte Blumensprache (verklausulierte Sprache, "durch die Blume")
war unnötig geworden. Es musste eine neue Filmsprache gefunden
werden. Im Gegensatz zur sozialistischen Zeit, als die Filme noch
vom Staat bezahlt worden waren, fehlten zu Beginn der 90er-Jahre
auch die Finanzierungsmöglichkeiten. Darauf waren wenige
Filmschaffende gefasst. Eine Reihe von talentierten Filmemachern
kam mit den neuen Erfordernissen der freien Marktwirtschaft nicht
zurecht und wanderte in andere Berufe ab. Sie inszenierten im
Theater, machten Werbung oder eröffneten Kneipen. So kommt es
nahezu einem Wunder gleich, dass das ungarische Filmfestival
dennoch jedes Jahr durchgeführt wurde und dass dem enormen
Geldmangel zum Trotz jährlich mindestens 20 Spielfilme
produziert werden konnten.
Die Zukunft stimmt optimistischer. Beim
letztjährigen Filmfestival im Februar 2003 kündigte der
damalige Kulturminister György Görgey an, dass sich die
Filmförderung bis zum Jahre 2006 verdoppeln würde. Im
Dezember 2003 wurde das erste Filmgesetz verabschiedet, das die
staatliche Filmförderung verankerte und dem Film eine
finanzielle Grundlage von rund zehn Milliarden Forint (rund 40
Millionen Euro) zusicherte. Seither wächst die Bereitschaft
der Filmemacher wieder, sich neu zu formieren und
Produktionsstätten und -kollektive zu gründen.
Großes künstlerisches Potential gibt es in Ungarn auf
jeden Fall. Istvàn Szabò, Miklòs Jancsò,
Màrta Mészàros gehören zu der älteren
Generation derjenigen ungarischen Regisseure, deren Filme auch im
Westen gezeigt wurden. Von der jüngeren Generation sind
Béla Tarr und Peter Gothàr die bekanntesten
Vertreter.
Zwei der beim diesjährigen Filmfestival
gezeigten Filme seien erwähnt. Der neueste ungarische
Publikumserfolg ist "Kontrolle" von Nimròd Antal. Der Film
spielt ausschließlich in der Schattenwelt der Untergrundbahn.
Antals 20-jähriger Held Bulcsù versteckt sich in der
Metro vor der Welt und fristet als Fahrkartenkontrolleur, einer
allseits geächteten Berufsgattung, sein hartes Leben. Der
Umgang mit respektlosen Schwarzfahrern, Bandenkämpfe und
lebensgefährliche Wettläufe entlang der Metro
gehören zur Tagesordnung. Rauschhafte Neon-Beton-Tunnel-Bilder
von Kameramann Gyula Pados führen wie durch einen
Alptraum.
Altmeister Miklòs Jancsò,
inzwischen 83 Jahre alt, wartet mit einer quirligen Umarbeitung der
ungarischen Geschichte auf ("Die Schlacht bei Mohàcs"). Kapa
und Pepe, ewige Politclowns von Jancsò, werden mit Hilfe einer
Zeitmaschine ins Jahr 1526 zurückbefördert. Damals
verloren die Ungarn trotz ihrer Übermacht die Schlacht gegen
die Türken unter Suleiman wegen heftigen Regens. Ihre Wagen
versanken im Schlamm. Jancsò dreht das Rad zurück; die
Ungarn siegen. "Das heißt: Null Türken, Null Habsburger,
Null Faschisten, Null Russen". Weltweite Lingua Franca wird
Ungarisch... .
Eine wichtige Einnahmequelle für die
ungarische Filmindustrie ist die Zusammenarbeit mit
ausländischen Partnern. Meisterhafte Kameraleute wie
beispielsweise Oscarpreisträger Lajos Koltai oder Elemér
Ragàly haben den guten Ruf der ungarischen Filmschaffenden in
die Welt getragen. Die ungarische Filmbranche hat reiche Erfahrung
bei internationalen Koproduktionen. Yves Simoneaus epischer Film
"Napoleon" mit Gérard Dépardieu, Christian Clavier, John
Malkovich und Isabella Rossellini in den Hauptrollen war mit einem
Budget von 50 Millionen Euro eine der teuersten europäischen
Produktionen der letzten Jahre. Er wurde 2001 in Ungarn gedreht.
Popstar Madonna wurde 1996 als "Evita" von ungarischen Statisten
bejubelt und schließlich durch Budapests Straßen zu Grabe
getragen. Nach der Weigerung der Argentinier, den Film in Evita
Perons Heimat drehen zu lassen, entdeckten die Filmproduzenten
viele Ähnlichkeiten zwischen Buenos Aires und Budapest. In
Ungarn produziert wurden auch die US-Kassenschlager "Spy Game",
"Underworld", der Thriller "I Spy" mit Eddie Murphy und Peter
Greenaways "Tulse Luper Suitcases". Brad Pitt hat ebenfalls schon
in Ungarn gearbeitet, ebenso Robert Redford, Michael Jackson und
Ralph Fiennes. Oscarpreisträger Istvàn Szabò dreht
seine internationalen Koproduktionen oft in der Heimat.
Auf zwei neue internationale Koproduktionen,
die von Eurimages gefördert werden, darf man besonders
gespannt sein. Beispielsweise auf Béla Tarrs "London Man", ein
ungarisch-französisch-deutsches Gemeinschaftswerk. Der Film
ist eine Adaptation von George Simenons gleichnamigem
Kriminalroman. Wie schon oft, arbeitet Tarr dabei mit dem
ungarischen Schriftsteller Làszlò Krasznahorkai zusammen.
Das Gespann hat einzigartige Filme mit einer besonderen meditativen
Filmsprache ("Werckmeister Harmonien", "Satanstango") geschaffen.
Tarr wurde dafür mit zahlreichen internationalen
Auszeichnungen bedacht.
Von Eurimages gefördert wird auch "Roman
eines Schicksalslosen" (Koproduktion Ungarn-Frankreich-Deutschland)
nach dem gleichnamigen Roman des Literaturnobelpreisträgers
Imre Kertész. Die Dreharbeiten sind noch im Gange. Regie
führt Lajos Koltai, István Szabòs hervorragender
Kameramann. Es ist das erste Mal, dass Koltai selbst die Regie
übernommen hat. Ennio Morricone komponiert die Musik. Am Film
werden ungefähr 150 zumeist ungarische Schauspieler mitwirken.
Das Produktionsbudget beläuft sich auf zehn Millionen Euro.
Die Verfilmung dieses schwierigen Stoffes dürfte in jeder
Beziehung eine Gratwanderung sein.
Kulturminister Istvàn Hiller stellte
beim diesjährigen ungarischen Filmfestival im Februar in
Budapest das neu verabschiedete zweite Filmgesetz vor. Er
bezeichnete das am 1. April 2004 in Kraft getretene Gesetz als
Kulturoffensive, die dem Film einen stabilen finanziellen Rahmen
gibt, jedoch inhaltlich und politisch keinerlei Einfluss
ausübt. Das Gesetz wurde von 18 Organisationen der Filmbranche
in Form eines Roundtable erarbeitet und gutgeheißen, daher
erfreut es sich großer Akzeptanz bei den
Filmemachern.
Ungarn positioniert sich mit dem zweiten
Filmgesetz als einer der weltweit attraktivsten
Produktionsstandorte. Es geht um eine umfassende Strategie zur
Förderung des Films, in der die ungarische Filmindustrie als
ernstzunehmender Wirtschaftszweig betrachtet und der Eintritt in
den audiovisuellen europäischen Markt vorangetrieben wird.
Mittels eines Punktesystems werden die ungarische Beteiligung an
der jeweiligen Koproduktion und damit die Höhe des
gewährten Beitrages errechnet. In- und ausländische
Sponsoren, die eine ungarische Koproduktion finanzieren, erhalten
über einen dreijährigen Zeitraum einen Steuernachlass von
20 Prozent für in Ungarn ausgegebene Kosten. Außerdem
erhalten ausländische Investoren einen zwanzigprozentigen
Steuernachlass des für Ungarn vorgesehenen Budgets, wenn ein
ungarischer Koproduzent beteiligt und ein ungarischer Verleiher
angeschlossen ist.
Neben der Produktionsförderung ist auch
die Förderung der Distribution, der Drehbuchentwicklung, der
Filmarchivierung, der Filmforschung und der Ausbildung vorgesehen.
Bisher betrugen die jährlichen Koproduktionsaufträge aus
dem Ausland durchschnittlich 7 bis 9 Milliarden Forint (etwa 35
Millionen Euro). Man hofft, dass sich durch das neue Gesetz das
Volumen der internationalen Koproduktionen verdoppelt. Dabei steht
die ungarische Filmindustrie in harter Konkurrenz zu ihren
Nachbarn. Tschechen und Rumänen haben den Ungarn schon
mehrfach saftige Koproduktionsaufträge weggeschnappt. Die
Rumänen sind wegen der niedrigeren Arbeitslöhne billiger,
die Tschechen hingegen verfügen über sehr gute
Infrastrukturen, beispielsweise das Filmstudio Barrandov bei Prag.
Mit dem neuen Filmgesetz und der erweiterten Kapazität, sich
auch finanziell an Koproduktionen zu beteiligen, könnten die
Ungarn in Kürze den Vorsprung der Nachbarländer aufholen,
denn an gut ausgebildeten Fachleuten und interessanten Drehorten
mangelt es nicht. Auch die Infrastrukturen für internationale
Koproduktionen sollen ausgebaut werden. Außerdem profitiert
Ungarn ab 1. Mai 2004 nicht nur wie bisher vom Eurimages-Programm,
sondern auch vom Media Plus-Förderungsprogramm der
EU.
Susi Koltai lebt als freie Journalistin in
Budapest und Zürich.
Zurück zur Übersicht
|