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Ernst-Andreas Ziegler
Die europäische Einheit begann in
Kosice
"Wuppertal 1190 Kilometer" oder der slowakische
Friedensmarathon
Spätabends im Sommer. Die Innenstadt ist in weiches,
sympathisches Licht getaucht. Das Motto lautet: Sehen und gesehen
werden. Tausende flanieren über den "Korso", die
Hauptstraße, entlang an traumhaft schönen Fassaden
wundervoll restaurierter Stadthäuser und den Auslagen guter
Fachgeschäfte. Die meisten, die auf und ab gehen, sind jung,
modisch gekleidet und haben fröhliche Gesichter, studieren
vermutlich, wie mehr als 20.000 an einer der drei renommierten
Universitäten oder an der ebenso anerkannten Musikhochschule.
Aber auch viele Familien mit Kind und Kegel sind unterwegs.
Der Hauptstrom hält sich rechts. Von der Grünanlage,
wo man über Bodenfenster mit Sicht auf unterirdisch
freigelegte einstige Stadtmauern spaziert, als erstes zum
prachtvollen gotischen Dom der Heiligen Elisabeth. Dann zum
Musikbrunnen am Barocktheater, auf dem Wasserfontänen im Takt
klassischer Musik tanzen. Anschließend weiter auf der
platzartigen Flaniermeile, in deren Mitte ein künstlicher Bach
plätschert, in dem Kinder Papier-Schiffchen schwimmen lassen.
Und immer wieder vollbesetzte Straßencafes, vor denen
Teufelsgeiger spielen, und zwar phantastisch gut. Vor dem Denkmal
des Marathon-Läufers schließlich dreht der Menschenstrom
um, spaziert auf der anderen Seite wieder zurück. Wie oft wohl
noch an diesem Abend?
Gegenüber der Zeit vor der politischen Wende von 1989 ist
Kosice (deutsch Kaschau, ungarisch Kassa), nicht mehr
wiederzuerkennen. Spürte der Fremde in jenen Tagen beim ersten
Besuch vor allem Tristesse, weil das meiste grau in grau war und
die Gesichter vieler Einwohner müde wirkten, so ist das heute
völlig anders. Die Metropole der Ostslowakei, mit ihren
230.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt der slowakischen
Republik, ist aufgeblüht und voll pulsierenden Lebens. Ihre
Altstadt kann sich inzwischen sehr wohl mit der von Krakau,
Salzburg, Siena oder Bratislava (Preßburg) messen, und
letzteres ist den Ostslowaken eine Herzblutangelegenheit. Denn die
Konkurrenz zur Hauptstadt, der es wirtschaftlich viel besser als
Kosice geht und die politisch angeblich immer bevorteilt wird, ist
ein Reizthema für die Ostslowaken. Mit einer Mischung aus Wut
und Scham nehmen sie zur Kenntnis, dass hervorragend ausgebildete
junge Kosicer, die wegen der hohen Arbeitslosigkeit zu Hause keine
Arbeit finden, nach Bratislava gehen (müssen), wo praktisch
Vollbeschäftigung herrscht.
Zu Zeiten der alten Strukturen, so umschreibt man hier die
Epoche der kommunistischen Kommandowirtschaft, spürten die
Gäste die wahre Kraft dieser Stadt und die mitreißende
Weltoffenheit ihrer Bewohner nur einmal im Jahr. Das war am ersten
Sonntag im Oktober beim Internationalen Friedensmarathon-Lauf, wenn
Fahnen- und Blumenschmuck sowie Hunderte von Transparenten die von
Abgasen der Industrie und dem Ruß der Schornsteine
zerfressenen Fassaden verbargen und aus der resignierten eine
fröhliche Gastgeberstadt machten. Dann überraschten die
Kosicer die aus aller Welt angereisten Läufer und deren
Begleiter mit weltmeisterlicher Gastfreundschaft, getreu dem
slowakischen Sprichwort und Anspruch, jeden Gast müsse man
ehren wie Gott.
In Kosice ist übrigens Langstreckenlauf so populär wie
in München das Fußballspiel oder in Köln der
Karneval. Seit 1924 wird hier Europas ältester Marathonlauf
veranstaltet (weltweit ist lediglich der von Boston ein Jahr
älter). Deshalb sind die Zuschauer, die schon als Kleinkinder
von Eltern und Großeltern mitgenommen wurden und das mit ihrem
eigenen Nachwuchs ebenso machen, fast ausnahmslos Experten. Sie
feuern nicht nur die Spitzenläufer an, sondern auch jeden
anderen, der mitmacht. Den Siegerinnen und Siegern verspricht diese
Stadt fast unsterblichen Ruhm. Ihre Namen werden in goldenen
Lettern auf schwarzem Marmor am Denkmal des Marathon-Läufers
verewigt.
Die lebensgroße Bronze-Statue steht hoch über dem
Marathon-Platz, dem größten der Stadt. Dort fällt
ein nach Westen zeigendes Verkehrsschild ins Auge, das manche
überrascht: "Wuppertal 1190 Kilometer". Es erinnert an
legendäre Freundschaftsläufe zwischen Kosice und seiner
deutschen Partnerstadt aus den Jahren 1988 und 1998, wobei sich
beim ersten für die slowakischen und deutschen Läufer bei
Furth im Wald sogar ohne Paß- und Zollformalitäten der
Eiserne Vorhang öffnete. Bis dahin war das unvorstellbar, und
nicht wenige schwer bewaffnete Grenzschützer hatten auf beiden
Seiten Tränen in den Augen.
Obwohl die in Etappen aufgeteilte Strecke von den slowakischen
und deutschen Sportlern enorme Kondition verlangte, lag das
Außergewöhnliche dieser Freundschaftsläufe weniger
im sportlichen Bereich. Es waren vielmehr politische
Demonstrationen von europäischer Dimension. Der erste Lauf
warb unter dem Motto "Wer miteinander redet, schießt nicht"
für mehr Dialog zwischen Ost und West, der zweite, nach der
Wende, für Solidarität und aktive Unterstützung der
demokratischen Kräfte in Ostmitteleuropa.
Vieles, was im Rahmen dieser 1979 von Hans-Dietrich Genscher und
seinem damaligen tschechoslowakischen Amtskollegen Bohuslav
Chnoupek vereinbarten Modellstädtepartnerschaft zwischen
Kosice und Wuppertal über den Eisernen Vorhang hinweg
möglich war, verblüffte die politischen Beobachter. So
verabschiedeten beide Stadtparlamente in der wohl frostigsten Phase
des Kalten Krieges eine Resolution für ein friedliches,
gutnachbarschaftliches Miteinander, die sowohl im Westen als auch
im Osten Zustimmung fand. Beide Städte realisierten eine
Vielzahl von direkten Bürgerbegegnungen einschließlich
Kinder- und Jugend-Austauschprogrammen mit Unterbringung in
Familien, was ebenfalls lange einmalig zwischen den verfeindeten
Systemen blieb.
Treibende Kraft auf Kosicer Seite war mit Rudolf Schuster ein
Oberbürgermeister ("Primator"), der als Angehöriger der
deutschen Minderheit in der Slowakei während der
kommunistischen Zeit vor allem wegen seiner Kompetenz als Ingenieur
und Krisenmanager Karriere gemacht hatte. So hatte er gegen den
Widerstand der KP-Elite wegen der gesundheits- schädlichen
Emmissionen ein Bauxit-Werk geschlossen und nach dem Zusammenbruch
für die alte Wasserversorgung innerhalb kürzester Zeit
ein neues, leistungsfähigere System geplant und
realisiert.
Auch nach der politischen Wende blieb Schuster für Kosice
eine wichtige Persönlichkeit. Nachdem er in der entscheidenden
Zeit von November 1989 bis Juli 1990 zunächst
Parlamentspräsident in Bratislava und anschließend
Botschafter in Kanada war, bewarb er sich Mitte der 90er-Jahre in
seiner Heimatstadt erneut um das Amt des Oberbürgermeisters.
Er wurde mit knapper Mehrheit gewählt und engagierte sich
für die Sanierung der Innenstadt. Er selbst zeichnete
Pläne, warb um politische Zustimmung und um Investoren,
ermutigte Hausbesitzer, kontrollierte Baustellen, versammelte jeden
Montag sieben Uhr früh alle Dezernenten und Amtsleiter vor
Ort, vergab Aufträge, setzte Termine und wachte darüber,
das jeder tat, was ihm aufgetragen war. Die Seele der Bürger
setzte er beim Stolz, ihrer empfindlichsten Stelle, unter Druck, in
dem er sowohl den Papst (Schuster ist gläubiger Katholik) als
auch den Weltstar Pavarotti überzeugte, Kosice zu besuchen.
Kaum hatten sie zugesagt, verlangte er von den Einwohnern, den
Umbau der Stadt noch intensiver zu unterstützen, weil sie sich
sonst vor dem Heiligen Vater, dem berühmten Tenor und vor den
Fernsehkameras der ganzen Welt blamieren und Schande über die
Ostslowakei bringen würden.
So schaffte er die an ein Wunder grenzende Wandlung von Kosice
zu einer attraktiven Metropole. Das machte ihn im ganzen Land
populär. Als er sich dann der zweiten demokratischen
Oberbürgermeister-Wahl stellte, wurde er mit 77 Prozent
Ja-Stimmen im Amt bestätigt. Wenig später gründete
er seine eigene Partei, bewarb sich um das Amt des
Staatspräsidenten und setzte sich in der Direktwahl gegen den
Rechtspopulisten Meciar durch. Untreu wurde er der Stadt Kosice
dadurch nicht. Viele Staatsgäste, die er in seinem
Präsidentenpalast in der Hauptstadt zu Gast hatte, begleitete
er anschließend nach Kosice und machte sie mit seinem
Amtsnachfolger Zdenko Trebula bekannt, einem seiner politichen
Zöglinge.
Als Verwalter einer schwierigen Erbschaft begleitete Trebula vor
allem die Sicherung von mehr als 20.000 Arbeitsplätzen beim
wichtigsten Arbeitgeber, den Kosicer Eisenhüttenwerken, und
die Übernahme dieses die Stadt noch immer prägenden
Großunternehmens durch US-Steel. Obwohl sich in Kosice in den
vergangenen Jahren einige mittelständische Unternehmen neu
ansiedelten, kämpft die ostslowakische Metropole nach wie vor
mit hoher Arbeitslosigkeit.
Jedem Investor wird zwar der Rote Teppich ausgerollt, doch
scheitern die meisten Vorhaben an der nach wie vor unbefriedigenden
Verkehrsanbindung. Die Stadt hat zwar einen leistungsfähigen
Flugplatz, doch solange der von der Politik versprochene Ausbau der
Autobahn und die Erneuerung der Schienenwege zwischen der
Hauptstadt und Kosice nicht abgeschlossen sind und weiterhin so
zögerlich verlaufen, bleibt das die politisch und
wirtschaftlich dringlichste Herausforderung für die
Ostslowakei.
Zurück zur Flaniermeile zwischen Dom und
Marathon-Läufer-Denkmal. Viele Jahre, nachdem er Kosice als
Partner von Wuppertal vorgeschlagen hatte, wurde der ehemalige
tschechoslowakische Außenminister Chnoupek gefragt, ob die so
überaus große Entfernung zur West-Grenze den Ausschlag
dafür gegeben habe, dass er sich für diese und keine
andere Stadt entschieden habe. Seine Antwort: "Ach was. Ich hatte
aus meiner Studentenzeit so wunderbare Erinnerungen an den Korso
von Kosice. Da war ich sehr verliebt." In solchen Fragen haben sich
die Zeiten nicht geändert.
Ernst-Andreas Ziegler
Ernst-Andreas Ziegler lebt als Autor und Kommunikationsberater
in Wuppertal.
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