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Barbara Minderjahn
Ein Ansporn für die Verwöhnten im
Westen?
Der gespannte Blick nach Ungarn, Slowenien und
der Slowakei
"Guten Tag, meine Damen und Herren, ich bin der
Kapitän und begrüße Sie an Bord. Auf dem Weg von
Frankfurt nach Wien fliegen wir gerade über die Tschechische
Republik." Nur in Gedanken ist es noch leichter, Grenzen zu
überqueren und Zusammenhänge zu erkennen, als in der
Luft. Wir springen daher gedanklich über den drei neuen
EU-Ländern Ungarn, Slowenien, Slowakei ab. Denn dort gibt es
viel zu entdecken.
Zum Beispiel Budapest oder Bratislava, zwei
wunderbare und noch nicht zu sehr von Touristen überlaufene
Hauptstädte, oder die ungarischen und slowakischen
Provinzmetropolen Kosice, Pécs, Szeged oder Eger. Keiner
dieser Orte ist so prominent wie Prag oder Warschau. Doch genau das
macht einen Teil ihres Reizes aus. Die alten und historischen
Cafés strahlen noch ein wenig von ihrem ursprünglichen
Flair aus. Häuser, von deren Fassade der Putz blättert,
bilden einen angenehmen Kontrast zur blendenden Pracht der
restaurierten Altbauten. Studenten und viele andere junge Leute
bevölkern die Kneipen und Kunstcafés. Echte Lebensfreude
liegt über den Städten. Obwohl es den Menschen in allen
drei Beitrittsländern meist schlechter geht als den
Deutschen.
Die Arbeitslosigkeit ist trotz
überdurchschnittlichem Wirtschaftswachstum hoch, die
Löhne vergleichsweise niedrig, und die Arbeitsbedingungen sind
schlechter geregelt als hierzulande. Von einer 40- oder gar
38-Stunden-Woche können die meisten Angestellten nur
träumen. Wer arbeiten kann, tut dies, egal wie hart die
Bedingungen auch sein mögen. Viele Ungarn streiken zum
Beispiel erst, wenn es darum geht, die gewohnte Umgebung für
den Job zu verlassen. Ungarische Arbeitnehmer gelten als relativ
immobil, weil sie es ablehnen, dorthin zu ziehen, wo
ausländische Investoren ihre Produktionsstätten besitzen.
Dafür nehmen sie andererseits in Kauf, mehrere Stunden
täglich bis zur Arbeitsstelle unterwegs zu sein.
Einer der Gründe, warum sich die
Menschen diesen Stress antun, ist die Bedeutung der Familie. Selbst
alleinstehende, beruflich erfolgreiche Mittdreißiger scheuen
sich, den Ort, in dem sie groß geworden sind, zu verlassen, um
ihre Eltern nicht allein zu lassen. Viele, die zum Studium nach
Budapest oder Pécs gegangen sind, kehren später
zurück. Und sobald die jungen Berufstätigen ihre eigene
Familie gegründet haben, verbietet ein handfestes Problem den
Umzug: Die Großeltern kümmern sich, während die
Eltern arbeiten, um die Kinder. Der traditionelle Familiensinn hat
sich in Ungarn bis heute gehalten, nicht zuletzt weil man darauf
angewiesen ist. Ähnlich ist es übrigens - im Vergleich zu
Westeuropa - mit dem ebenfalls engen Verhältnis zwischen
Freunden. Wer ein Haus bauen will, ruft selten Bauarbeiter und
Handwerker, sondern versucht es selber. Familie, Freunde, manchmal
sogar das ganze Dorf helfen unentgeltlich mit.
All das erleichtert den Alltag gerade dort,
wo die Menschen wenig Geld haben, um ihr Leben unabhängig
voneinander zu meistern. Abgesehen davon vermittelt diese
gemeinschaftliche Lebensart aber auch eine enorme Wärme und
Geborgenheit. In dieser Hinsicht könnte die
westeuropäische Gesellschaft von den Gepflogenheiten in den
neuen EU-Staaten lernen. Wie sieht es mit den anderen Eigenarten
der Ungarn und ihrer Nachbarn aus?
Ein weiterer Grund für die starke
Verhaftung in Dorf und Gemeinschaft ist die Scheu vor Neuem. Die
Ungarn waren zwar wegen der Reisefreiheit die ersten, die noch zur
Zeit des Kommunismus über die Grenze schauen durften.
Kosmopoliten und offene Weltbürger sind auch sie dadurch
jedoch nicht geworden. Der typische Ungar - den gibt es
natürlich nicht, aber auch Stereotype haben ihre gewisse
Berechtigung - isst noch immer am liebsten Braten oder Gulasch in
all seinen Varianten, manchmal auch Wild mit hausgemachten Nudeln
dazu. Und das, obwohl das Land in seiner Geschichte nicht nur
österreichischen und türkischen Einflüssen
ausgesetzt war. Die vielen Minderheiten beispielsweise hätten
die kulinarische Tradition des Landes viel stärker
beeinflussen können, wenn die Menschen in dieser Hinsicht
offener wären. Doch gerade die Minderheiten leben unter sich.
Es gibt ganze Doerfer, in denen deutsch, rumänisch oder
serbisch gesprochen wird und sich alles um das kulturelle Erbe
dieser Gemeinschaft dreht. Schon ein Dorf weiter haben die Bewohner
von all dem keine Ahnung. Hinzu kommt der in allen drei neuen
EU-Länder stark vorhandene Nationalismus und die damit
verbundene Ausländerfeindlichkeit. Was wird aus dem Potential,
das die Neuen in die EU mitbringen?
Nun gibt es Skeptiker und Optimisten, und
beide haben in Bezug auf die EU-Erweiterung und die damit
verbundenen Probleme und Chancen eine eindeutige Meinung. Die einen
glauben beispielsweise fest daran, dass sich die Minderheitenfrage
noch zu einem bedeutenden und bisher nicht geahnten Ausmaß
ausweiten könnte. In Osteuropa leben sechs Millionen Roma.
Viele von ihnen in den am 1. Mai beitretenden Staaten, Menschen,
die in den ärmsten Verhältnissen leben, ohne Ausbildung
und Beruf. Wenn sie überall hin reisen können,
prophezeien die Skeptiker, wird das unser Sozialsystem gravierend
verändern. Auch die alten EU-Staaten haben nicht so viel Geld,
um diese Menschen zu integrieren. Zuerst wird die
Kriminalität, dann Nationalismus und
Ausländerfeindlichkeit ausufern.
Dieses Problem sollte man nicht
unterschätzen. Doch vielleicht bietet es ja genau den
richtigen Anlass, um den Umbau der Gesellschaft, der sich im Moment
so schwierig gestaltet, voranzutreiben, hoffen die Optimisten.
Tatsächlich steht Deutschland zurzeit nicht allein mit dem
Problem. Sowohl in Ungarn als auch in der Slowakei hat die
Bevölkerung in den vergangenen Monaten ähnlich wie in
Deutschland oder Frankreich massiv gegen Reformen im Sozialwesen
protestiert. Doch wenn gar nichts mehr geht, besinnen sich
vielleicht Alle auf sinnvolle Maßnahmen. Im Alleingang
scheinen die sozialen Probleme Europas jedenfalls nicht zu
lösen zu sein. In der Slowakei beispielsweise haben Roma in
vielen Städten bereits Geschäfte geplündert, nachdem
die Regierung angekündigt hatte, die Sozialhilfe um 50 Prozent
zu reduzieren.
Um zu einem gemeinsamen Ansatz zu kommen,
müssten die Menschen im "alten" und "neuen" Europa allerdings
beginnen, sich gegenseitig besser wahrzunehmen, als sie es bisher
tun. So könnten die Bescheidenheit und der Ehrgeiz der
Neuankömmlinge aus dem Osten ein Ansporn für die
Wohlstandsverwöhnten im Westen sein, sich ebenfalls ein wenig
mehr anzustrengen. Denn die besten Gesetze können Firmen nicht
verbieten, dorthin zu gehen, wo fleißige Leute auf Arbeit
warten. Die Vogel-Strauß-Mentalität hilft nicht weiter.
Doch um dies zu erkennen, müss-ten die Betroffenen diejenigen
kennen, mit denen sie um Arbeitsplätze
konkurrieren.
Umgekehrt würde den Nationalisten in den
aufstrebenden Staaten vermutlich sofort jede Gefolgschaft
verweigert, sobald der Bevölkerung klar würde, wie sehr
sie auf Ausländer, ihre Nachbarn und die EU angewiesen sind.
Die Firmen, die sie ernähren, gehören, zumindest in
Ungarn und der Slowakei, zum großen Teil Investoren aus dem
Ausland. Gute Geschäfte machen sie allerdings nur, so lange
das politische Umfeld stabil bleibt. Wir leben bald in einem
größeren vereinten Europa. Doch zu viele machen ihre
eigene Situation immer noch zum Maßstab aller Dinge. Dabei
täten mehr Wärme, Zusammenhalt und Lebensfreude allen
gut. Deshalb reicht der gedankliche Sprung in die drei neuen
EU-Partner nicht aus. Manche Grenzen muss man mindestens einmal zu
Fuß überschreiten.
Barbara Minderjahn ist Rundfunkjournalistin
und freie Publizistin in Köln.
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