Karl-Otto Sattler
Überwachung und Kontrolle
Der neue Grundrechte-Report
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hegt eine Hoffnung: Eine
"mobilisierte Öffentlichkeit" könne vielleicht noch
Abhilfe schaffen, meint die Ex-Justizministerin. Von der Politik
erwartet die FDP-Politikerin jedenfalls nicht allzu viel beim
Bemühen um die Zähmung von SIS II, des "Schengener
Informationssystems der zweiten Generation": Das nämlich drohe
sich zu einem "Albtraum des auf die Wahrung der Grund- und
Freiheitsrechte bedachten Datenschutzes auszuwachsen".
SIS II soll auf EU-Ebene noch mehr polizeiliche Personenangaben
sammeln, soll "computergestützte Personenprofilrecherchen"
ermöglichen, soll die Speicher- und
Übermittlungskapazitäten für biometrische Daten
erweitern und manches mehr. "Wer kann", fragt die
FDP-Bundestagsabgeordnete, "diese Entwicklung stoppen, wer dieses
System kontrollieren?" Niemand, lautet die ehrliche Antwort, es sei
denn, eine "kritische Öffentlichkeit" wird aktiv.
Die Bürger wachrütteln angesichts der wachsenden
Gefahren der sich immer mehr ausformenden Repressions- und
Überwachungsgesellschaft und angesichts der damit verbundenen
Bedrohungen von Freiheit und Rechtsstaat: Das ist das Anliegen des
gesamten "Grundrechte-Report 2004". Dieser von mehreren
Bürgerrechtsorganisationen wie etwa der
Gustav-Heinemann-Initiative oder der Humanistischen Union (HU)
herausgegebene Sammelband, der zum achten Mal erscheint, nimmt
"Verstöße gegen Geist und Buchstaben des Grundgesetzes"
unter die Lupe.
Einschränkungen
Die 39 Beiträge dokumentieren, in welchem Umfang inzwischen
Grundrechte eingeschränkt werden - ein Prozess, der bereits
vor dem 11. September 2001 einsetzte und der sich seither unter
Verweis auf die Terrorbekämpfung massiv verstärkt hat.
Der Kampf gegen den Terrorismus wird nicht auf die leichte Schulter
genommen; immer bleibt das schwierige Abwägen zwischen den
Rechten des einzelnen und dem Schutz der Allgemeinheit. Generell
wird davor gewarnt, allzu eifrig und allzu schnell in die
Grundrechte einzugreifen.
Unter den Autoren findet sich manch prominenter Name, neben
Leutheusser-Schnarrenberger etwa der FDP-Politiker Burkhard Hirsch,
die nordrhein-westfälische Datenschutzbeauftragte Bettina
Sokol oder Thilo Weichert, demnächst Datenschutzbeauftragter
in Schleswig-Holstein (wo er bislang als Vize amtiert).
Was die Lektüre spannend, aber auch bedrückend macht:
Das Buch beleuchtet vor allem den schleichenden Prozess der
zunehmenden Überwachung und damit der Beschneidung des freien,
weil unkontrollierten Alltagslebens der Bürger. Verwundert und
erschreckt reibt man sich die Augen, wenn diese Eingriffe einmal in
der Gesamtschau offenbart werden.
Von einer "Zertrümmerung" des Fernmeldegeheimnisses spricht
Burkhard Hirsch: Über 20.000 Telephonüberwachungen werden
mittlerweile jährlich angeordnet. Da kommen Zweifel an der
Wahrung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit auf. Es
werden ja nicht nur die eigentlichen Ziel-, sondern auch deren
Kontaktpersonen abgehört. Der Autor: "Es müssen etwa
500.000 Personen jährlich sein."
HU-Geschäftsführer Nils Leopold schildert detailliert,
dass die "Vollbiometrisierung" der Menschen mit der Aufnahme von
Fingerabdrücken oder gesichtsgeometrischen Merkmalen in
Ausweisdokumenten bereits im Gang ist und wie auf diese Weise in
vielen Bereichen von der Arbeitswelt bis zum polizeilichen
Datenabgleich oder zum Grenzübertritt eine Totalkontrolle der
Bürger möglich wird.
Stigmatisierung
Da erscheint die Perspektive der erkennungsdienstlichen
Behandlung von jedermann nicht aus der Luft gegriffen. Leopold:
"Die Abnahme von Fingerabdrücken symbolisiert Stigmatisierung
und Kriminalisierung." Der Datenschutzrechtler führt den
Lesern auch vor Augen, in welch enormem Ausmaß private
Besitzer und Nutzer von Gebäuden Passanten auf Trottoirs und
Straßen und damit im öffentlichen Raum mit
Überwachungskameras filmen.
In keineswegs eifernder, sondern in eher nüchterner Sprache
reihen die Autoren Beispiel an Beispiel: die Übermittlung von
Flugpassagier-Daten an die USA, die Einführung bislang nicht
existierender behördenübergreifender Personenkennziffern,
die Installierung eines zu Kontrollzwecken technisch problemlos auf
alle Fahrzeuge ausdehnbaren LKW-Maut-Systems, die ausufernde
Speicherung genetischer Daten durch die Polizei - es läuft
wahrlich viel.
Der Report erweist sich als Lehrbuch über den
Spannungsbogen zwischen Verfassungsanspruch und
-wirklichkeit. Die Autoren wollen sich in die politische
Auseinandersetzung einmischen. Angesichts der fortschreitenden
Beschneidung freiheitlicher Grundrechte scheint dieses Engagement
freilich nicht von großem Erfolg gekrönt zu sein. Bleibt
nur Resignation?
Ein Beitrag Nils Leopolds schildert die Klage gegen ein Berliner
Kaufhaus, dessen Kameras die Passanten im öffentlichen Umfeld
überwachen. Das Gericht ordnete zwar nicht wie erhofft die
Demontage der Kameras an, beschränkt aber die Videokontrolle
auf einen Gehweg-Streifen von einem Meter neben dem Gebäude,
und dieses Filmen des öffentlichen Raums jenseits der
Grundstücksgrenze dürfe auch nicht generell, sondern nur
ausnahmsweise erfolgen.
Jetzt macht sich in Berlin eine Bürgerinitiative daran, von
anderen privaten Kamerabetreibern die Beachtung dieses Urteils
einzufordern. Der Report, ohnehin keine Kampfschrift und kein
Pamphlet, stimmt also nicht nur Klagelieder an. Karl-Otto
Sattler
Grundrechte-Report 2004.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2004;
224 S., 9,90 Euro
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