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Herfried Münkler
Die hohe Kunst der politischen Grenzziehung
Austausch ja, aber nicht zu viel: Vom Kompromiss
zwischen Stabilität und Flexibilität
Wenn von politischen Grenzen die Rede ist, wird
fast immer auf das Einengende, Blockierende und Negative verwiesen.
Politische Grenzen sind zu einem Synonym für die
Einschränkung individueller Freiheit geworden. Wenn
Grenzzäune abgebaut werden und Grenzziehungen ihre Bedeutung
verlieren, ist dies fast immer von der Zustimmung des Publikums
begleitet. Darüber wird die Produktivität politischer
Grenzen übersehen: Grenzziehungen im Raum sind immer auch ein
Schutz gegen politische Maßlosigkeit, gegen immer weitere
Expansion, gegen das Versickern politischer Projekte in der Weite
des Raumes. Am Umgang mit politischen Grenzen zeigt sich der
Unterschied zwischen staatlicher und imperialer Macht. Vor allem
aber: erst durch Grenzziehung nach außen wird Integration im
Innern möglich.
Im Unterschied zur Politik hat die Wirtschaft
das Grenzziehen nie sonderlich geschätzt. Sie nämlich
integriert Räume nicht durch das Ziehen von Grenzen, sondern
durch das Bahnen von Strömen und Kanälen, in denen sich
dann Waren und Menschen, Informationen und Kapitalien bewegen
lassen. Insofern bedienen sich Politik und Wirtschaft seit jeher
unterschiedlicher Methoden und Formen der Integration. Politische
Grenzen zielen eher auf eine statische, wirtschaftliche Kanäle
dagegen auf eine dynamische Integration. Gelegentlich finden beide
auch zusammen, wie etwa in der Hochzeit der Nationalökonomie,
als sich das Bahnen von Strömen auf den politisch umgrenzten
Raum konzentrieren und ihn zum Blühen bringen sollte. Die
politischen Grenzen sollten zugleich Prosperitätsgrenzen
werden. Das Problem dieses Projekts war, dass es die Anreize
für eine gewaltsame Grenzüberschreitung der Nachbarn
erhöht hat. Oder auch das Gefühl der Prosperierenden, sie
könnten der Nachbarn leicht Herr werden und diese würden
ihrer Eroberung zustimmen, weil sie dann Teil des
Prosperitätsraums sein dürften. Der zeitweilig in Europa
unternommene Versuch, politische und wirtschaftliche Grenzen zur
Deckung zu bringen, hat die Wahrscheinlichkeit von Kriegen
erhöht.
Schon nach dem Ersten Weltkrieg gab es darum
Vorschläge, einen europäischen Integrationsprozess durch
die Entflechtung der politischen von den wirtschaftlichen
Grenzziehungen in Gang zu setzen beziehungsweise die Ströme
des wirtschaftlichen Austauschs nicht länger durch politische
Grenzziehungen blockieren zu lassen. Was nach dem Zweiten Weltkrieg
zunächst als Montanunion und dann als Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft in Gang kam, folgte weitgehend diesem
Modell der Grenzentflechtung. Erst im Verlauf der 80er- und
90er-Jahre hat sich in Europa wieder die Idee durchgesetzt,
politische und wirtschaftliche Grenzen müssten zur Deckung
gebracht werden, und dementsprechend sollte der inzwischen
entstandene Wirtschaftsraum auch als einheitlicher politischer Raum
ausgestaltet werden. Ob das gut gehen kann, wird man noch sehen
müssen. Der Entschluss, den politischen und den
wirtschaftlichen Raum wieder zur Deckung zu bringen, war sicherlich
auch eine Reaktion darauf, dass die Ströme der Wirtschaft sich
inzwischen der politischen Kontrolle zu entziehen drohten, weniger
im europäischen als im globalen Rahmen. Europäische
Grenzen sollten darum die Flut der Globalisierung
eindämmen.
Das ist die andere Seite der Grenzziehung:
die Abschottung nach außen, die Abschließung von
Räumen gegen alle, die in sie hineinwollen. Solche
Grenzziehungen folgen zumeist den Imperativen der
Besitzstandswahrung und des Vermögensschutzes. Man hat, was
man hat, und möchte es mit niemandem teilen - schon gar nicht
mit den Habenichtsen aus aller Welt. Vielleicht lassen sich
Grenzziehungen aus politischer Urteilskraft von Grenzziehungen aus
Furcht unterscheiden? Zumindest analytisch müsste dies
möglich sein, während bei tatsächlichen
Grenzziehungen wohl beide Elemente stets zusammenspielen und immer
sowohl das eine als auch das andere anzutreffen ist. Aber die
Gewichtungs- und Einflussverhältnisse unterscheiden sich von
Fall zu Fall, und dementsprechend kann der Charakter dieser
Grenzziehungen genauer bestimmt werden.
In Europa begann die politische Karriere der
Grenzziehungen mit dem Übergang vom Personenverbandsstaat zum
institutionellen Flächenstaat. Personenverbandsstaatliche
Ordnungen, wie sie die antike Polis, aber auch der mittelalterliche
Lehensverband darstellen, begründen Zugehörigkeit und
Loyalität auf der Grundlage persönlicher Merkmale und
Verbindungen. Nicht das Territorium von Attika, sondern die
athenische Bürgerschaft machten den Stadtstaat Athen aus, und
wer als athenischer Bürger zu gelten hatte, wurde in inneren
Machtkämpfen und Beschlussfassungen festgelegt. Expansion nach
außen vergrößerte nicht das Staatsgebiet, sondern
nur die Anzahl der von Athen abhängigen Städte. Dies gilt
in ähnlicher Weise auch für die Zeit der Lehensordnungen.
Herkunft, Beziehungen und personale Loyalitäten bildeten den
Kern der politischen Ordnung; territoriale Grenzen konnten sich
daraus ergeben, aber sie spielten eine eher marginale Rolle. Dies
zeigt sich auch darin, dass Konflikte und Kriege so gut wie nie aus
Grenzstreitigkeiten entstanden. Tatsächlich vorhandene Grenzen
waren politisch nur schwach codiert.
Das änderte sich in Europa zwischen dem
14. und 17. Jahrhundert. Der zentralen Formel des Augsburger
Religionsfriedens, wonach dem, der das Land beherrsche, auch die
Entscheidung über die konfessionelle Ausrichtung der darauf
lebenden Menschen zustehe (cuius regio, eius religio), kam dabei
eine herausgehobene Bedeutung zu. Sie ist ein Meilenstein bei der
Entstehung des modernen institutionellen Flächenstaates, der
Ordnung nicht mehr über Personen, sondern über
Territorien definiert und infolgedessen territoriale Grenzen
politisch erheblich stärker codiert. Diese Grenzen markieren
von nun an die Reichweite der institutionell gesicherten Ordnung.
Was jenseits dieser Grenzen liegt, gehört zu einer anderen
institutionellen Ordnung. Und der Versuch, die Reichweite der
jeweiligen Ordnungen zu verschieben, läuft zwangsläufig
auf die Führung eines Krieges hinaus. Die Grenze im Raum ist
insofern immer auch eine Grenze zwischen Krieg und
Frieden.
Staaten arrangieren sich miteinander, indem
sie sich auf klare Grenzziehungen verständigen und alle
Zwischen- und Übergangsräume tilgen. Der Fortbestand von
Übergangsräumen, in denen die Geltung einer rechtlichen
und politischen Ordnung allmählich abnimmt und sich
schließlich in der Weite des Raumes verliert, ist ein
Indikator dafür, dass wir es hier nicht mit Staaten, sondern
mit Imperien zu tun haben, für die äußere
Begrenzungen immer semipermeabel sind: von innen nach außen
sind sie beliebig überschreitbar, von außen nach innen
keineswegs. Dagegen herrscht an zwischenstaatlichen Grenzen das
Prinzip der Reziprozität; für beide Seiten gelten gleiche
Rechte und gleiche Pflichten. Diese Reziprozitätsstrukturen
der Staatenordnung, die unabhängig von der jeweiligen Macht
und Größe der Staaten Gültigkeit haben, werden
nirgendwo so sinnfällig wie an den zwischenstaatlichen
Grenzen; allenfalls die Etikette der Diplomatie ist damit
vergleichbar. Nichts ist darum so aufschlussreich wie ein Blick auf
das Grenzregime.
Die innerdeutsche Grenze war bis 1989 ein
gutes Beispiel für die Folgen fehlender Reziprozität. Die
Staatsgrenze war zugleich eine Grenze politisch und wirtschaftlich
unterschiedlicher Systeme. Sie hatte vor allem die Funktion, den
sonst in Gang kommenden Menschenstrom von einem in den anderen
Staat zu blockieren. Die Systemgrenzen der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts waren in einer Weise übercodiert wie kaum
eine Grenzziehung zuvor. Das Niederreißen dieser Grenze war
zweifellos ein Akt der Befreiung. Aber deswegen ist noch lange
nicht jede Art von Grenzbeseitigung ein Schritt zu
größerer Freiheit.
In der Geschichte kann man zwei Strategien im
Umgang mit politischen Grenzen beobachten: die Bündelung
politischer und wirtschaftlicher, nationaler, kultureller und
religiöser Grenzen auf der einen und deren Dissoziation auf
der anderen Seite. Welche der beiden Strategien erfolgreicher ist,
hängt von den Rahmenbedingungen und den jeweils verfolgten
Zielen ab. Grenzbündelung kann der inneren Integration zugute
kommen und die Solidarität einer politischen Gemeinschaft
stärken; ebenso kann sie aber auch zu einer gesteigerten
Konfliktfähigkeit dieser Gemeinschaft nach außen
führen und die Auseinandersetzungen um den genauen Verlauf
dieser Grenzen intensivieren. Das war in der europäischen
Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Fall, als es um das
Zur-Deckung-Bringen nationaler und staatlicher Grenzen ging. Aber
auch die Separierung von staatlichen und nationalen Grenzen, wie
sie für den südosteuropäischen Raum typisch ist,
kann konfliktintensivierend wirken, wie der Zerfall der
Donaumonarchie am Anfang und der Jugoslawiens am Ende des 20.
Jahrhunderts zeigen.
Politische Grenzziehung ist eine Kunst, die
mit mehr oder minder großem Geschick gehandhabt werden kann.
Die Geschichte dieser Grenzziehungen zu studieren kann angesichts
der nach wie vor nicht endgültig fixierten
EU-Außengrenzen überaus lehrreich sein. Politische
Pazifizierung und wirtschaftliche Konsolidierung dürften dabei
die Maßstäbe bilden. Gelegentlich wird auch kulturelle
Identität als Maßstab geltend gemacht. Aber damit droht
ein weiteres Mal die Gefahr der Übercodierung von Grenzen. Die
Mehrfachcodierung von Grenzen soll diesen Akzeptanz und
Stabilität verleihen. Aber sie nimmt der Grenze dadurch an
Flexibilität. Die Kunst der Grenzziehung besteht also in der
Verbindung von Stabilität und Flexibilität. Wer sie
beherrscht, wird von späteren Generationen als großer
Staatsmann und Politiker gepriesen.
Herfried Münkler ist Professor für
Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität
Berlin.
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