|
|
Johannes L. Kuppe
Verschieden, aber nicht zu unterscheiden
Müssen und können sich die politischen
Parteien in Deutschland noch voneinander abgrenzen?
Unterschiede deutlicher machen und die Union attackieren, das
ist in der Tat wichtig", sagte der SPD-Parteivorsitzende und
Fraktionschef im Bundestag, Franz Müntefering, jüngst in
einem Interview im "Vorwärts". Er bestätigt damit den
scheinbar allgemeinen Befund, dass zumindest in der
öffentlichen Wahrnehmung die Grenzen etwa zwischen den beiden
großen Volksparteien verschwimmen. Ist das eine richtige
Diagnose und was hat sie, wenn sie stimmt, für Folgen? Der
Begriff der Grenze ist - gerade bezogen auf den politischen Raum -
komplex, höchst ambivalent und wenig geeignet, definitorische
Klärungen zu erreichen. Das liegt daran, dass das
Verständnis von einer Grenze stark perzeptionsabhängig
ist. Sehen wir uns deswegen zunächst das Grenzproblem an,
bezogen auf die einzelnen Parteien.
Für alle gilt, dass es verschwimmende Grenzen zu den so
genannten neuen (und alten) sozialen Bewegungen ebenso wie zu den
unzähligen Bürgerinitiativen und anderen
gesellschaftlichen Organisationen gibt. Zu denjenigen Gruppen, die
ihnen programmatisch nahe stehen, können sich die Parteien gar
nicht scharf abgrenzen, weil sich die Parteiprogrammatik in Teilen
mit den Zielen der Bürgerinitiativen und Bewegungen deckt. Sie
wollen es daher auch nicht, weil dies ihr potenzielles
Wählerreservoir verkleinern würde. Die Brisanz dieser
Entwicklung wird deutlich, wenn man sich erinnert, dass den
demokratischen Parteien erstmals in der deutschen Geschichte 1949
eine verfassungsmäßige Stellung eingeräumt wurde
(Artikel 21 GG), also eine klare rechtliche Abgrenzung zu anderen
gesellschaftlichen Formationen vollzogen wurde. Demgegenüber
gibt es jetzt eine neue Unübersichtlichkeit für den
Bürger, der erkennen können muss, ob er zum Beispiel mit
der grünen Partei nicht zugleich auch den Bund für Umwelt
und Naturschutz (teil-)legitimiert.
Diese programmatischen Grenzverwehungen gibt es inzwischen auch
und mit ansteigender Tendenz zwischen den demokratischen Parteien
selbst. Für alle Parteien korrodieren die Grenzen großer
Teile ihrer Programme bis hin zur Unkenntlichkeit. In vielen
Bereichen, vom zu Grunde liegenden Menschenbild bis zu den
Zielvorstellungen von Frieden, sozialer Gerechtigkeit und Schutz
der Menschenwürde gibt es so große Schnittmengen, so dass
unterscheidende Spezifikationen nur noch nach tiefschürfenden
Erklärungen verständlich werden - und dabei ist dann auch
noch viel Rabulistik im Spiel.
Tatsächlich gibt es aber noch genügend, teilweise
gravierende Unterschiede. Denken wir zum Beispiel an das, was
Regierungsparteien und Opposition im Bundestag zur Reform des
Gesundheitswesens vorgeschlagen haben: hier Bürgerversicherung
(SPD), dort Kopfpauschale (Union). Oder in der Arbeitsmarktpolitik,
wo sich die Unterschiede gerade im Problemfall
Kündigungsschutz besonders deutlich zeigen: SPD für mehr,
Union für weniger gesetzliche Sicherung der
Arbeitsplätze. Die Ziele beider Seiten sind dabei ziemlich
ähnlich. Alle Beteiligten wollen mehr Menschen in Lohn und
Brot halten beziehungsweise bringen.
Doch der Wahlbürger scheint diese Unterschiede nicht
wahrzunehmen oder, aus Verärgerung über soziale
Einschnitte, nicht mehr wahrnehmen zu wollen. Außerdem
scheinen gegenwärtig Unterschiede und damit Grenzen neu zu
entstehen. Zwischen SPD und den Gewerkschaften gibt es offenkundig
über die Agenda 2010 unüberbrückbare
Auffassungsunterschiede, auch wenn man nun nicht mehr so
öffentlich darauf herumreiten wird. Andererseits geriert sich
die CSU als soziales Gewissen der Union und setzt neue
Grenzmarkierungen gegenüber Kapitalinteressen. Sind hier
Tiefenumbrüche in der gesamten Gesellschaftsformation im
Gange? Vieles deutet darauf hin.
Die Zeiten, in denen das christliche Bürgertum die
Unionsparteien, Lohnarbeiter die SPD und Zahnärzte/
Rechtsanwälte/Kaufleute grundsätzlich die FDP
gewählt haben, weil etwa weltanschauliche Grenzen oder
durchgreifende Klientelinteressen bestanden, sind - falls es sie je
gab - endgültig vorbei. Das aktuelle Wahlverhalten der
Bürgerschaft mit Blick auf beide Volksparteien, die per se
keine Weltanschauungsparteien mehr sind, beweist das. Die
Stammwählerschaften schrumpfen, die so genannten
Wahlhochburgen sind schon geschliffen beziehungsweise verlieren
gänzlich ihre Wahlen entscheidende Funktion. Mit fast jeder
Wahl wächst die Gruppe der Wechselwähler. Bei der
vergangenen Europawahl sind immerhin knapp 900.000 Wähler von
der SPD zur Union und rund 240.000 zur PDS gewandert. Das war die
bisher größte Wählerwanderung in der Geschichte
dieser Republik.
In großen Städten mit hinreichend gemischten
Wählerschaften (Berlin, Hamburg), in denen sich soziale
Schichtung und generative Parameter kaum in Wahlperioden
ändern, werden wechselnde Mehrheiten ins Amt gewählt,
manche Wahlregionen (Thüringen, Sachsen, Hessen) wechseln
einfach über längere Zeit ihre Farbe - gegenwärtig
meist von Rot zu Schwarz. In diesen Fällen wurden jedoch kaum
programmatische und schon gar nicht weltanschauliche Grenzen
überschritten. Weil diese immer weniger wahrgenommen werden,
wählt der Bürger eben diejenige Partei, die über die
glaubwürdigsten Köpfe verfügt, die über
parteiübergreifende Integrationsfähigkeiten verfügen
beziehungsweise zu verfügen scheinen und zugleich virtuos auf
dem Klavier eingängiger, grenzenlos unverbindlicher Parolen
spielen können. An die Stelle einer programmatischen Grenze,
also der Unterscheidbarkeit, ist der alles zudeckende Begriff der
so genannten Bürgernähe getreten. In allen Parteien
stehen heute die programmatisch denkenden Köpfe, die
Theoretiker der politischen Inhalte, mit einer klaren, also zur
programmatischen Abgrenzung fähigen Sprache, in der zweiten
Reihe.
Wohin führt die neue "Grenzenlosigkeit" im deutschen
Parteiensystem? Schaffen die ungeheuer komplexen Probleme der
Globalisierung einen neuen inhaltlichen Mischmasch an politischen
Antworten, wo alles zu allem passt und nur ein bisschen anders
formuliert wird? Befördert der Prozess der verschwimmenden
Grenzen die Entwicklung einer humanen Zivilgesellschaft? Die
Parteienforschung gibt darauf keine klare Antwort.
Tatsache ist allerdings, dass es für die in der Wahrnehmung
der Bürger verschwimmenden Grenzen zwischen den Parteien auch
reale Gründe gibt. Der in Deutschland 1949 etablierte
"Parteienstaat" ist einmal als "rationalisierte Erscheinungsform
der plebiszitären Demokratie" und als "Surrogat der direkten
Demokratie im modernen Flächenstaat" (Leibholz, Hennies)
verstanden worden. Dieser Parteienstaat, nach 50 Jahren enorm
verfestigt und zum Teil in den Apparaten erstarrt, scheint
gegenwärtig aufzutauen, wie sich auch die traditionellen
Milieus der Parteien auflösen. Das kann positive Folgen haben
- etwa, wenn es stimmt, dass sich die Grenzen zwischen Parteien und
den neuen sozialen Bewegungen verwischen. Die letzteren haben eine
größere Informationsverarbeitungskapazität,
reagieren schneller auf neu entstehende Konflikte, auf
Strömungen und Stimmungen, auf soziale Unruhen. Wenn deren
Frühwarnfunktion auch in die Parteien diffundiert, dürfte
dies die Aufgabe der Parteien erleichtern, zwischen Gesellschaft
und Staat zu vermitteln und Entfremdungen zu vermeiden.
Andererseits stellt das Abgleiten in eine diffuse
Ununterscheidbarkeit hohe Anforderungen an die
Orientierungsfähigkeit des Wahlbürgers. Erschwerend kommt
hinzu, dass ja Grenzen nicht nur im engeren politischen Raum
verschwimmen, sondern dieses Phänomen überall im
gesellschaftlichen Bereich zu beobachten ist. Spätestens seit
der Mitte des vergangenen Jahrhunderts ist zu erkennen, dass
Grenzen immer zugleich mit ihrer Verwischbarkeit, das heißt
mit ihrer Auflösung, diskutiert werden. Standesgrenzen
verschwanden, aus ziemlich klar umschreibbaren Klassen werden
morphologisch kaum fassbare Schichten, aus einst strengen
Moralgrenzen werden, bei Festhalten an einigen unverrückbaren
Standards, promiskuitiv genutzte Wertefelder, aus kirchlicher
Orthodoxie führt der Weg in die Ökumene, aus
Agrarwirtschaft und Industrie wird unausweichlich die
Agrarindustrie, aus Buch und Radio entstand das Hörbuch. In
den Wissenschaften erleben wir geradezu osmotische
Durchdringungsprozesse: Aus Biologie, Physik und Chemie ist
längst eine Biochemie beziehungsweise Biophysik, wenn nicht
gar eine Biochemophysik geworden, die ohne einen hohen Anteil von
fortgeschrittener Mathematik gar nicht mehr zu betreiben ist. In
den Ethikräten sitzen ebenso Theologen wie Philosophen und
Ingenieure, die sich vor 100 Jahren, schon semantisch, gar nicht
verstanden hätten. Es gibt zahllose weitere Beispiele. Dieser
Prozess der Verwischung von Grenzen verläuft so stetig wie
unaufhaltsam, dass wir vielfach darüber gar nicht mehr
nachdenken, weil er uns, ebenso wie die immer durchlässiger
werdenden Landesgrenzen in Europa, offensichtlich nicht beunruhigt.
Warum sollten dann nicht auch Parteien - wenigstens partiell -
ununterscheidbar werden?
Ein letzter Hinweis auf den philosophischen Hintergrund des
Grenzbegriffs gilt seiner Doppeldeutigkeit und relativiert zugleich
die Forderung nach wieder mehr Unterscheidbarkeit, nach klarer
Grenzziehung, auch zwischen den Parteien. Es lohnt sich daran zu
erinnern, dass die Zwiespältigkeit des Grenzbegriffs auf Hegel
zurückgeht. Für ihn beschreibt die Funktion einer Grenze
die Tatsache, dass eine Sache, ein Ding, mit etwas Anderem sowohl
zusammengefügt wird, als auch von ihm abge- beziehungsweise
unterschieden wird. Wer Grenze sagt, macht zugleich etwas mit einem
anderen zum Ganzen, lässt aber auch beides unterschieden,
getrennt sein.
Es ist wie in der Malerei: Verschwimmende Konturen schaffen neue
Freiheiten der Betrachtung und Interpretation. Doch wehe, wenn man
sich fragen muss, ob das Bild nicht einfach verkehrt herum
aufgehängt wurde. Wer da nicht über genügend eigene,
innere Orientierung verfügt, wird die Galerie enttäuscht
verlassen. Im politischen Haus Deutschland hätte aber eine
derartige Flucht (in die politische Abstinenz) desaströse
Folgen.
Johannes L. Kuppe
Der Autor war langjähriger Leitender Redakteur bei "Das
Parlament".
Zurück zur
Übersicht
|