Alexander Weinlein
Das Geschenk des Jupiters
Grenzenloses Römisches Reich
19. August 14 n. Chr.: In Nola bei Neapel stirbt der todkranke
Kaiser Augustus. Er hinterlässt ein Reich, das den gesamten
Mittelmeerraum und große Teile der dahinter liegenden
Landmassen umfasst. Das Imperium Romanum hat seine bis dahin
größte Ausdehnung erreicht. Von der Atlantikküste im
Westen bis zum Rhein und der Donau im Osten herrscht Rom
unangefochten über Europa. Die Küstenländer
Nordafrikas bis zum Rand des Atlasgebirges und der Sahara im
Süden hält der römische Adler ebenso in seinen
Krallen wie die Territorien des Nahen Ostens bis zum Euphrat, der
Syrischen und Arabischen Wüste.
"Der Ozean und weit entfernte Flüsse", schreibt der
römische Historiker Tacitus in seinen "Annalen", bilden beim
Tod des Augustus die Reichsgrenzen. Und so soll es es bleiben -
zumindest wenn es nach dem Willen des verstorbenen Kaisers geht.
Testamentarisch erteilt er seinen Nachfolgern den Rat, das Reich in
den bestehenden Grenzen zu belassen. Bemerkenswert, denn eigentlich
ist den Römern der Aspekt von Grenzen im Sinne einer
territorialen und politischen Selbstbegrenzung fremd. "Ein Reich
ohne Grenzen in Zeit und Raum" habe er den Römern gegeben,
lässt der Dichter Vergil den Jupiter in seinem Nationalepos,
der "Aeneis", sagen - ein wahrhaft göttliches Geschenk. Und
Kaiser August spricht in seinem "Tatenbericht" ganz
selbstverständlich davon, er habe "dem römischen Volk den
gesamten Erdkreis unterworfen".
Anspruch auf die Weltherrschaft
Der Anspruch auf Weltherrschaft wird bis zum Untergang des
Reiches aufrechterhalten. Was sich auf den ersten Blick als pure
Ideologie oder gar Caesarenwahnsinn darstellt, war in antiken
Kulturen Normalität. Schon die Ägypter, Babylonier,
Assyrer und Perser formulieren ihren Anspruch auf Weltherrschaft.
Gemeint sind damit aber jeweils "nur" jene Regionen, die relevant
waren: "Ihre" Welt ist deckungsgleich mit "der" Welt. Geografische
Aspekte spielen eine untergeordnete Rolle. Eine Ausnahme macht hier
allenfalls das Reich Alexanders des Großen. Seine
Feldzüge bis nach Indien, Südrussland oder zum Persischen
Golf stehen immer auch unter der Frage: Wo sind die geografischen
Enden der Welt zu finden?
In Rom hingegen glaubt man, diese Grenzen bereits erreicht zu
haben. Bis an den "alles umspülenden Ozean" sind sie im Westen
bereits gekommen, südlich der Sahara wähnen sie ebenfalls
nur Wasser. "Die Welt": Das ist für Römer in erster Linie
der Mittelmeerraum - und den beherrschen sie unangefochten. "Mare
nostrum" (unser Meer) nennen sie es. Schwieriger gestaltet sich die
Lage im Norden und Osten des Reiches. Die gewaltigen Landmassen an
Euphrat und Tigris und jenseits davon sind mit den Eroberungen
Alexanders des Großen in das Bewusstsein der
Mittelmeervölker gerückt. Doch dort widersetzt sich das
Reich der Parther allen Expansionsgelüsten. Augustus
schließt 20 v. Chr. einen Friedensvertrag mit den unbeugsamen
Parthern - der Euphrat wird Reichsgrenze.
Ähnlich gestaltet sich die Situation in Europa. Hatte
Augustus ursprünglich den Plan verfolgt, Germanien bis zur
Elbe zu unterwerfen, so lässt er diese Ambitionen nach der
"Schlacht im Teutoburger Wald" (9 n. Chr.) und dem Verlust von drei
Legionen - 28 standen dem Reich zur Verfügung - fallen; der
Rhein bleibt Reichsgrenze. Pragmatismus pur: Die Grenzen des
Machbaren definieren die territorialen Grenzen.
Die Wacht an Rhein und Donau
Zum ersten Mal nach Jahrhunderten einer ungebremsten Expansion
verfestigen sich die Grenzen des Reiches. Die Legionen und ihre
Hilfstruppen werden dauerhaft in den äußeren Provinzen
stationiert. Nach und nach entstehen gut ausgebaute Legionslager
und Kastelle, erst aus Holz, dann aus Stein - man richtete sich auf
Dauer ein. Das Bild dieser wie an einer Perlenkette entlang von
Rhein und Donau gelegenen Garnisonen - später auch an den
Grenzanlagen in Germanien (Limes) und Britannien (Hadrianswall) -,
hat die Vorstellung einer linearen Verteidigung entstehen lassen.
Natürlich waren Roms Legionäre mit der Sicherung der
Grenzen betraut, ebenso wie mit der Aufrechterhaltung
römischer Ordnung in den Provinzen. Doch das Bild einer
waffenstarrenden "Festung Europa" ist übertrieben. Selbst der
germanische Limes zwischen Rhein und Donau war nur bedingt eine
Verteidigungslinie. Zwischen dem heutigen Miltenberg und Lorch
verläuft er über 80 Kilometer kerzengerade unter
Ignorierung aller militärischen Geländevor- oder
-nachteile. Eine solche militärische Inkompetenz darf man den
römischen Militärs nicht unterstellen.
Selbst die Flüsse Rhein und Donau spielen nicht die Rolle
überdimensionierter Wassergräben, die sich besonders
einfach verteidigen lassen. Die Flüsse selbst bilden auch gar
nicht die Grenze: Sie sind Bestandteil des Reiches, und die
Legionen werden in ihrer unmittelbaren Nähe stationiert, da
sie so einfacher auf dem Wasserweg mit Nachschub versorgt werden
können. Deshalb finden sich auf der jeweils anderen Uferseite
Befestigungen, die diese Versorgungswege schützen. Die
konkrete Grenzlinie bleibt unsichtbar; solche zogen die Römer
meist nur innerhalb der Reiches zwischen den
Verwaltungsprovinzen.
Die Aufgabe der Grenzanlagen war bis zum Beginn des
Völkersturms auf Rom eher eine pragmatische und sehr
"moderne": Als der Philosoph Appollonius die Ostgrenze des
Imperiums überschreitet, wird er befragt, ob er Waren ins
Reich einführe. Appollonius antwortet: "Weisheit,
Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit und Ausdauer" - im
Lateinischen alles weibliche Nomina. Die Grenzer glauben, es
handele sich um fünf Sklavinnen und verlangen prompt Zoll.
Strikte Kontrolle des Warenverkehrs: Marktprotektionismus ist keine
Erfindung der Neuzeit. Alexander Weinlein
Der Autor ist Redakteur bei "Das Parlament".
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