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Hans-Heinrich Nolte
Die Schlupflöcher schließen sich
Grenzen und Grenzziehung in Europa vom Wiener
Kongress bis zur Gegenwart
Die Radikalisierung von Grenzen, die sich seit
dem Mittelalter beobachten lässt, ist auch im 19. und 20.
Jahrhundert weitergegangen. Der Zugriff des Staates, aber auch die
politische und ökonomische Integration der Bürger wurden
intensiviert, was mit innerer Schlüssigkeit zu einer
Verschärfung der Grenzregimes führt, wie den
hochtechnisierten Kontrollen an der Schengen-Grenze oder dem Zaun
im Süden der USA. Diese Grenzen widersprechen zwar der seit
mehreren Jahrhunderten zunehmenden Globalisierung von
Warenproduktion, Information und Arbeitsmärkten, sind aber
nach wie vor wirksam - auch wo durch Unionen die Außengrenzen
verlegt wurden.
Der Friede von 1815 war der letzte umfassende
Friede des alten europäischen Systems. Er wurde zwischen
Dynastien geschlossen, die seit Jahrhunderten um ihren Platz in
Europa fochten und in den frühmodernen Staaten zusammen mit
hohem Adel und Bürokratie als politische Klasse ihrer Zeit
gemeinsame Verhaltensregeln entwickelt hatten, auch wenn diese
gerade durch den napoleonischen Imperialismus erschüttert
worden waren. Der Friede ging vom Potenzial der Mächte aus und
bestimmte Grenzen, die von vielen anerkannt werden konnten und auch
anerkannt wurden. Der Friede bildete die Voraussetzung für ein
allgemeines Wachstum von Wohlstand und Demokratie im Kern des
Systems zwischen den USA und Europa, das erst mit dem Ersten
Weltkrieg abbrach. Im Westen Europas sind die Grenzen von 1815 noch
heute weithin erhalten - Elsass und Lothringen bei Frankreich und
die südlichen Niederlande weder bei Frankreich noch beim
Deutschen Bund. Im Osten dagegen sind diese Grenzen fast alle
aufgehoben - zerbrochen von jenen Mächten, welche die neue
Gewalt der Nationalbewegungen ausnutzten, um eine neue "nationale"
Imperiumsgründung zu versuchen (Deutschland), um die drei
osteuropäischen Imperien zu zerschlagen und kleine oder
mittlere Nationalstaaten an ihre Stelle zu setzen, oder um eine mit
"Klassengrenzen" begründete übernationale Föderation
zu erzwingen (UdSSR).
Clausewitz hatte notiert, dass die
Mächte das von Napoleon eingeführte
Nationalitätsprinzip kaum würden ungenutzt lassen, da sie
ihre Machtmittel damit vermehren konnten. Aber was war eine Nation?
Im Westen Europas war das eine Koalition von Ständen, die
durch Teilhabe an der Macht innerhalb des durch äußere
Grenzen definierten Staats politisch integriert war. Die Grenzen
waren international anerkannt; Nationen existieren nur in
Systembeziehungen. Polen war eine Nation, aber eine vormoderne,
weil nur ein Stand - der Adel - an der Macht teilhatte. Mit dem
Kompromiss von Parlament und Königtum 1688 wurde England zur
ersten modernen Nation - Adel, Staats-Kirche und Besitz-Bürger
waren sich mit der Krone in Nationalstolz, Antikatholizismus und
expansiver Außenpolitik einig. Die USA wurden 1776, Frankreich
1789 eine Nation, und die Machtergreifung der Besitzenden
integrierte die Bürger sowohl des deutsch redenden
Straßburgs wie des okzitanisch redenden Südens - nicht
aber die französisch redenden in Genf, das als Kanton der
Schweiz eine andere Form der Selbstbestimmung gefunden hatte. Die
Nationen boten der Wirtschaft in der Periode der indus-
triellen Revolution einen großen
Binnenmarkt, den die "Nachzügler" (zu denen am Anfang des 19.
Jahrhunderts auch die USA gehörten) mit hohen
Außenzöllen schützten.
Der 1815 gegründete Deutsche Bund
bildete keine Nation, da die Bundesverfassung keine Integration der
Bürger sicherte. Der Bund umfasste außerdem Teile des
übernationalen Imperiums Österreich-Ungarn sowie des
Königreichs Preußen, das mit den nicht zum Bund
gehörenden Provinzen Posen und Preussen weit in das wieder
aufgeteilte Polen hineinragte. Von Herder ausgehend schuf die
deutsche Romantik einen Begriff von Volk, der die Gemeinsamkeit von
Sprache und (oft nur vermuteter) Herkunft in den Vordergrund und
die politische Mitbestimmung in den Hintergrund schob
beziehungsweise zur "Einigkeit" mystifizierte. In diesem Sinn
konnte die preußische Dynastie den deutschen Nationalismus
nutzen, um die kleinen deutschen Dynasten zur Unterordnung zu
veranlassen, Österreich aus Deutschland auszuschließen,
Frankreich zu besiegen und Elsass-Lothringen zu annektieren. Mit
der deutschen Form des Nationalstaats wurde auch die
Durchlässigkeit der Grenze geändert - wie die
absolutistischen Staaten vor ihnen nahmen die westlichen Nationen
anderssprechende Zuwanderer auf, wenn sie fanden, dass das in ihrem
Interesse lag. Sie gingen davon aus, dass diese sich im Alltag
assimilieren würden und boten unter Umständen die
Bürgerschaft (USA, Arbeitsmigrationen nach Holland und
Frankreich). Staaten mit genetischem Volksbegriff konnten dagegen
Zuwanderung auf Dauer nur von Menschen gleicher Sprache
begrüßen.
Die Gründung der modernen deutschen
Nation 1871 wurde ein großer Erfolg. Deutschland
übernahm, geschützt durch Außenzölle, die
Industrielle Revolution und entwickelte zwei neue Industriezweige
(Elektroindustrie und Chemie). Das Land wurde nach wirtschaftlichen
Kriterien umstrukturiert: Millionenstädte und Industriegebiete
entstanden, andere Regionen wie Mecklenburg wurden zu inneren
Peripherien. Waren vom 16. bis zum 18. Jahrhundert Deutsche zu
Saisonarbeit oder Ansiedlung in die Niederlande gezogen, so zogen
nun Polen und Ukrainer nach Deutschland, um in der Ernte oder im
Bergbau einen Job zu finden. Ansiedeln durften sie sich aber nicht,
wenn sie nicht schon vor der Migration zum Beispiel als Posener
deutsche Staatsbürger waren - sie mussten stets zum Winter das
Land verlassen. Wirtschaftswachstum, Bevölkerungsvermehrung
und expansive Außenpolitik - man erwarb Kolonien und baute
eine Hochseeflotte, welche Großbritannien herausforderte -
bildeten die Grundlage für ein neues deutsches
Nationalgefühl, das im Reichstag eine, wenn auch in den
Zuständigkeiten eingeschränkte und durch das
Dreiklassenwahlrecht in vielen Bundesstaaten konditionierte
Integration bewirkte, die sogar die kommunistische Periode in der
DDR überdauerte.
Die deutsche Nationsgründung
stärkte die Gefahren für die drei osteuropäischen
Imperien Russland, Österreich und das Osmanische Reich, weil
sie allen nach der Sprache definierten "Völkern" - und an
erster Stelle selbstverständlich Polen und Ungarn, bei denen
Traditionen vormoderner Adelsnationen fortwirkten - nahe legte,
ebenfalls den Weg in den modernen Nationalstaat zu suchen. Nach den
Niederlagen der drei Imperien zwischen 1911 und 1918 und dem Sturz
der Dynastien wurde deshalb ein Gürtel von meist kleinen
Nationalstaaten zwischen Estland und Albanien geschaffen:
"Ostmitteleuropa" zwischen Deutschland und der UdSSR.
Überwiegend waren die neuen Staaten ethnisch heterogen, hatten
also selbst wieder große Minderheiten. In einigen Fällen
wurden die Minderheiten "ausgetauscht", zum Beispiel zwischen
Griechenland und der Türkei. Die neuen Nationalstaaten
besaßen selten stabile Bürokratien und versuchten alle
trotz kleiner Märkte eine nachholende Industrialisierung. Wo
es Anfangserfolge gab, wurden sie durch die Weltwirtschaftskrise
zunichte gemacht. Da die Bevölkerung des Raumes schnell wuchs,
ohne dass die Arbeitsplätze zunahmen, stieg fast überall
der nationalistische Druck auf Minderheiten wie Juden oder
Aromunen, die jedoch in die Nachbarländer nicht aufgenommen
wurden. Grenzen wurden undurchlässiger - nicht nur für
Waren, sondern auch für Saisonarbeiter und
Flüchtlinge.
Der Friede von Versailles 1918 wurde von
Nationalisten ausgearbeitet, welche die (ja auch mühsam genug
erarbeitete) politische Klugheit der Dynasten von 1815 nicht
besaßen, die Verlierer an den Verhandlungen nicht beteiligten
und ihnen nur einen fertigen Entwurf zur Unterschrift vorlegten.
Während das Selbstbestimmungsrecht der Völker auch
für kleine Staaten in Anspruch genommen wurde, galt es nicht
für Deutschland: nicht nur Elsass-Lothringen, sondern auch der
Korridor zur Ostsee kamen ohne Abstimmung an Frankreich
beziehungsweise Polen, und den über drei Millionen geschlossen
siedelnden Deutschen in der Tschechoslowakei wurde genauso die
Mitgliedschaft in der neuen deutschen Republik untersagt wie
Österreich, dessen Parlament dafür votierte (eine
Abstimmung wurde von den Siegern verboten).
Es hätte die internationale
Rechtsordnung gestärkt, wenn das nun demokratische Deutschland
- auch Frauen besaßen jetzt das Wahlrecht - trotz dieser
Doppelmoral seinen Weg im Rahmen des Systems gesucht hätte. Es
gab durchaus Möglichkeiten zu einer gesicherten und
einflussreichen Entwicklung wie auch mäßigen Korrekturen,
wie Gustav Stresemann sie anstrebte. Deutschland entschied sich
1933 jedoch für eine nationalistische Diktatur, welche die
Minderheiten radikal ausgrenzte und das Ziel von Korrekturen von
Versailles nur vorschützte, um ein Imperium zu errichten, das
tendenziell die Welt umfasste und also unbegrenzt war. Die
Nationalsozialisten hielten Krieg für die normale Form des
Zusammenlebens auf der Erde, und dementsprechend war die Front
eigentlich die angemessenste Form der Grenze. An die Stelle eines
festen Konzepts, bis wohin das Imperium denn reichen solle, setzte
man scharfe innere Grenzen: zwischen "guten" und "schlechten"
Deutschen; zwischen Deutschen, Romanen und Slawen, zwischen
"Ariern" und Juden. Die inneren Ausgrenzungen wurden in einem
vielfältigen Lagersystem realisiert: HJ-Lager für die
Guten, Arbeitslager verschiedener Grade für Angehörige
unterworfener Völker, Kriegsgefangenen-Lager,
Konzentrations-Lager für politische Gegner wie Kommunisten
oder Christen sowie Nationalisten (anderer Nationen),
Vernichtungslager für Juden und Roma. Die Durchlässigkeit
der inneren Grenzen nahm in dieser Reihenfolge ab, Ghetto und
Vernichtungslager wurden auch wirtschaftlich isoliert, und
schließlich gab es kein Entkommen mehr aus ihnen.
Kontrolle von Information
scheiterte
Der Sieg der Alliierten befreite Europa und
auch Deutschland von diesem Unrechtsregime. Allerdings war der Sieg
nur möglich im Bündnis mit der UdSSR, die selbst nicht
nur im Innern ebenfalls ein System von Zwangsarbeit und Lagern,
sondern vor allem die schärfsten Außengrenzen geschaffen
hat, die bisher realisiert wurden. Das folgte schlüssig aus
dem Anspruch umfassender Planung - man kann keine freie
Beweglichkeit von Personen über Grenzen hinweg zulassen, wenn
man die Zahl der Ärzte, der Fabrikarbeiter etc. für die
kommende Generation ausbilden will, und freier Warenverkehr
über Grenzen hinweg ist systemfremd, wenn man die Gesamtmenge
der Konsumwaren mit der Lohnsumme in Übereinstimmung bringen
möchte. Zu den radikalen Außengrenzen - konkretisiert
durch die Mauer quer durch Berlin, aber auch die langen
Grenzkontrollen bei einer Einreise oder Ausreise - gehörte
auch der Versuch, alle Informationen an den Grenzen zu
kontrollieren.
Für Mitteleuropa bewirkte der Sieg der
Alliierten auch umfangreiche ethnische Säuberungen, da die von
Deutschland unterdrückten Nationalbewegungen nun homogene
Staaten schaffen wollten und die deutschen Minderheiten vertrieben,
so weit sie nicht vor der Roten Armee geflohen waren. An erster
Stelle und mit grundsätzlicher Zustimmung der Alliierten
wurden die Deutschen aus den Gebieten zwangsweise umgesiedelt, die
Polen zum Ausgleich für die an die UdSSR verlorenen Ostgebiete
erhielt; dem folgten aber die meisten anderen Staaten
Ostmitteleuropas. Entsprechend wurden polnische und ukrainische
Menschen über den Bug hinweg "ausgetauscht."
Ein entscheidender Schritt der deutschen
Demokratisierung nach 1945 war die Anerkennung der neuen Grenzen.
Sie bedeutete de facto (wenn auch nicht de jure) eine
Übernahme des westlichen Nationenbegriffs: diejenigen bilden
die Nation, welche an der Politik eines Staates in vom
internationalen System anerkannten Grenzen teilhaben. Erst die
Anerkennung des Verlustes der Gebiete östlich der Oder machte
es einerseits unmöglich, das innere Gleichgewicht der Republik
durch Forderungen nach Rückeroberung und entsprechende
Rüstungen infrage zu stellen, und andererseits Polen und der
Tschechoslowakei möglich, sich von dem Bündnis mit der
UdSSR zu lösen.
Dieser Zusammenhang wurde relevant, als der
Monopolsozialismus nach dem gescheiterten Reformversuch
Gorbatschows zusammenbrach - vor allem wegen der immensen
Rüstungslast, nicht zuletzt aber auch, weil der Versuch,
Informationen an den Grenzen zu kontrollieren, gründlich
misslang und an die Stelle des gewünschten Negativ-Bildes vom
"sterbenden Kapitalismus" ein auch eher irreführendes Bild von
Massenwohlstand in den Osten gelangte, sozusagen die Fernsehversion
der westlichen Welt. Die Staaten östlich der Oder lösten
sich von der Kooperation mit der UdSSR, die nur noch als Zwang
gesehen wurde, und suchten den Weg in den Kapitalismus sowie
schließlich in die Europäische Union. Die Emanzipation
von der UdSSR und die Zurückdrängung auch des russischen
Einflusses stellte Ostmitteleuropa als politisch selbständigen
Raum wieder her, den Deutschland ab 1938 vernichtet hatte.
Ökonomisch hat dieser Raum aber bisher seine halbperiphere
Stellung nicht hinter sich lassen können.
Erneut änderte die deutsche Grenze im
Osten ihre Funktion nach der Wiedervereinigung an Oder und
Erzgebirge. War es bis zum Sturz des Sozialismus darum gegangen,
Flüchtlinge aus dem befeindeten Osten möglichst schnell
und freundlich aufzunehmen, so geht es nun darum, möglichst
viele Arbeitssuchende aus dem Osten von Arbeitsmarkt oder
Sozialansprüchen in Deutschland fernzuhalten. Auch die
Eindämmung von Frauen- und Kinderhandel sowie Drogenverkauf
und organisierter Eigentumskriminalität, die vorher durch die
hochkontrollierten Systeme des Sozialismus weithin in den
Ländern selbst unterbunden wurden, wurden nun zur Aufgabe der
Grenzer. Die Mitgliedschaft Polens und Tschechiens in der EU wird
die Bedeutung der deutschen Ostgrenze zurücktreten lassen;
ansteigen wird allerdings die Bedeutung der neuen Außengrenze
der EU zu den ostslawischen und orthodoxen Nationen.
Hans-Heinrich Nolte ist emeritierter
Professor für Geschichte in Hannover und Herausgeber der
"Zeitschrift für Weltgeschichte".
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