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Georg Kreis
Der Alte Kontinent war nie eine Einheit
Wo Europas Grenzen liegen, wird weniger von der
Geschichte als von der Gegenwart definiert
Keine der früheren Erweiterungsschritte der
Europäischen Gemeinschaft hat eine Debatte über die
Grenzen Europas provoziert. Im Falle des Europarates sind in den
vergangenen Jahren auch Staaten des ferneren Ostens bis hin zu
Aserbaidschan mit sonderbarer Selbstverständlichkeit
aufgenommen worden. Jetzt aber wirft die EU-Osterweiterung wegen
ihres verbindlicheren Charakters die Frage auf, wo denn der
europäische Osten seine Grenzen hat. Who's next? Die Ukraine?
Sie hat immerhin schon mal den Europäischen Schlagerwettbewerb
gewonnen. Und Polen lässt uns wissen, dass es nicht am Rand
der EU bleiben, sondern eine mittlere Stellung zwischen Westen und
Osten einnehmen will.
In den vergangenen Monaten haben die Medien
noch und noch über organisch gewachsene Regionen berichtet,
die durch die neue EU-Außengrenzen zerschnitten werden. Die
alte Teilung von 1945 ist um den Preis neuer Teilungen
rückgängig gemacht worden. So sieht sich die EU vor die
Aufgabe gestellt, ein Modell der Nachbarbeziehungen zwischen
Mitgliedern und Nichtmitgliedern zu entwickeln, das die
Draußenbleibenden nicht zu stark diskriminiert und sie auch
nicht ganz im Integrationssog aufgehen lässt. Denn wenn es
eine Grenze gibt, dann ist es die der organisatorischen
Handhabbarkeit der EU, wobei auch diese Grenzen unterschiedlich
eingeschätzt werden.
Europa erschien schon immer als im Osten auf
unheimliche Weise offen, jedenfalls trotz Ural und Kaukasus nicht
durch klare geografische beziehungsweise "natürlichen" Grenzen
abgeschirmt. Zudem weiß man, dass auch die "natürlichen"
Grenzen in vielen Fällen keine sind, sondern im Gegenteil
recht eigentliche Brücken, wie das im Mittelmeer immer wieder
in drastischer Weise vorgeführt wird.
Die Annahme, dass Europa im Süden und
Westen klare Grenzen habe, ist zu relativieren. Im Süden war
das Mittelmeer über Jahrhunderte eine Art Binnensee; es war
der erste große Wirtschaftsraum und mehr "zone de contact" als
"ligne de fracture". Im Westen gibt es bis heute enge politische,
kulturelle, militärische Bande, welche aus der alten und der
neuen Welt so sehr eine atlantische Einheit machen, dass das kleine
Kap des asiatischen Kontinents (Paul Valery 1919) näher beim
Hudson und Potomac liegt als beim Dnjepr oder bei der Wolga. Und im
Norden kommt ohnehin vieles nahe zusammen: Europa, Russland,
Amerika.
Sofern man schematisierende Raumbilder
benötigt, dürfte der Entwurf des Historikers Theodor
Schieder eines der brauchbarsten sein: Er trägt in seiner
Einleitung zum Handbuch der europäischen Geschichte der
relativen Offenheit Europas nach allen Seiten Rechnung, indem er
von drei Vorfeldern spricht: dem eurasischen, dem atlantischen und
dem mittelmeerisch-afrikanischen. Vorfeld, Überlappungen,
variable Geometrie: Wir müssen und wir können damit
leben, dass die Dinge kompliziert sind und dass Regionen
geomorphologisch, aber nicht kulturell oder - umgekehrt -
kulturell, aber nicht geomorphologisch (und klimatisch) zu Europa
zählen.
Es gibt einen verständlichen Hang,
Europa auf Grund vorgegebener Tatsachen definieren zu wollen. Zum
Beispiel eben mit Hilfe der Geografie als der härtesten
Prämisse, dann auf Grund von Geschichte, Kultur, Religion, et
cetera. Diese Verstehensweise geht davon aus, dass sich die
Gegenwart nach der Vergangenheit zu richten oder dieser wenigstens
- wissend und verstehend - zu entsprechen habe. Gegenwarts- und
Zukunftsarbeit wäre demnach so etwas wie ein permanentes
Wiederentziffern des Vergangenen.
Dem steht die Gegenauffassung gegenüber,
dass der gegenwärtige Realisationswille das Verständnis
und die entsprechenden Definitionen bestimmt. Die karolingische
Zeit ist, um nur gerade dieses Beispiel zu nennen, bloß in dem
Maße eine noch immer nachwirkende und mitbestimmende Kraft,
als wir dies hier und heute so sehen und so haben wollen, zum
Beispiel zur Rechtfertigung von "Kerneuropa". Damit ist nicht einer
völligen Beliebigkeit das Wort geredet, sondern die Geschichte
nur als gegebenes Potenzial verstanden, das man - wiederum wissend
und verstehend - aktivieren kann, so man will.
Es gibt keine absoluten Antworten. Man muss
sich fragen, welche Funktion diese oder jene Betrachtungsweise hat.
Man kann, man muss aber nicht über eine
Verfassungspräambel zum Ausdruck bringen, dass in Europa
während einer gewissen Zeit die christliche Kultur ein
bestimmendes Moment gewesen ist. Und man kann, muss aber nicht, das
als eine Tatsache verstehen, welche die Mitgliedschaft nicht eines
muslimischen Staates, sondern eines säkularen Staats mit
muslimischer Gesellschaft ermöglicht oder
verunmöglicht.
Oft wird die Erweiterung als Chance einer
Wiedervereinigung Europas gesehen. Wiedervereinigung nach der
Teilung durch die militärischen Ergebnisse des Zweiten
Weltkrieges (Stichwort: Jalta) oder Wiedervereinigung des
Habsburger Imperiums, Wiedervereinigung des
römisch-katholischen Kirchengebiets, oder gar, wie der
italienische Kommissionspräsident ausgerufen hat, des
Römischen Reiches. So verständlich diese
Wiedervereinigungsrhetorik ist - ihr gegenüber wäre
Skepsis angebracht: Denn erstens entspricht sie nicht den
historischen Realitäten: Europa war nie im heutigen Sinn eine
Einheit; zweitens verträgt sich die Metapher von der
Verschmelzung schlecht mit der harten Realität der weiterhin
national geführten Wirtschaftsbuchhaltungen und Beitrags- wie
Bezugsrechnungen; drittens sollte man gerade als Historiker davor
warnen, dass Gesellschaften ihren Status stärker durch
Retrospektive als durch Prospektive definieren.
Zukunftsidentitäten sind besser als
Vergangenheitsidentitäten.
Für die neuen Mitgliedsländer ist
die Idee nicht wichtig, dass man eine historische Einheit, die so
nie bestanden hat, wieder herstellen möchte. Es geht nicht um
eine Rückkehr in die Vergangenheit, sondern um einen Aufbruch
in bisher nicht gehabte Verhältnisse - in echte Zukunft also.
Statt mit geografischem und historischem Lexikonwissen Europa zu
definieren, kann man mit einer neuen Art von Normativität
sagen, dass Europa da liegt, wo dieser Aufbauwille vorhanden
ist.
Europa war im vergangenen halben Jahrhundert
wegen des "Eisernen Vorhangs" markanter zwischen Westen und Osten
aufgeteilt, als dies den historisch-kulturellen Gegebenheiten
entsprach. Jetzt, da dieser Limes aufgehoben ist, meldet sich aber
nicht automatisch die "Einheit" zurück, die es in gewisser
Hinsicht in gewissen Momenten vielleicht einmal gab. Was sich vor
allem zurückmeldet, ist Zentraleuropa, die Mitte zwischen
Westen und Osten, und dieses wiederum in eine westliche und
östliche Region unterteilt.
Der so genannte "Osten" ist in vielen
Köpfen des "Westens" eine dunkle Gefahrenzone, vermeintliche
oder reale Quelle anhaltender Bedrohung, von den Hunnen über
die Türken zu den Bolschewisten. Für diese
Einschätzung steht die mehrfach geäußerte Annahme,
dass mit der Osterweiterung nun die Kriminalität in Westeuropa
zunehmen wird. Dem polizeilichen Kooperationsmodell von "Schengen"
wird a priori Wirkungslosigkeit gegen derartige Gefahren
unter-
stellt und dabei völlig übersehen,
dass für die erweiterten Gebiete "Schengen" noch gar nicht in
Kraft gesetzt und so trotz der Erweiterung vom 1. Mai die
"schützende" Grenze zwischen den alten und neuen
EU-Mitgliedern noch gar nicht aufgehoben worden ist. Die Neuen sind
dagegen verpflichtet worden, ihre östlichen Außengrenzen
zusätzlich zu sichern.
Der Blick auf Mittel- und Osteuropa ist
manchmal auch von Mitleid, oft aber auch von Geringschätzung
beziehungsweise Überheblichkeit geprägt. In diesen
Fällen ist nicht das Gemeinsame, sondern das Trennende
wichtig. Der "Osten" wurde auch im 19. Jahrhundert immer wieder als
negative Folie zur positiven Selbstdefinition verwendet. Und das
tatsächlich bestehenden West-Ost-Gefälle bezüglich
Industrialisierung, Wohlstandsverbreitung und Demokratie schien
diesen Bewertungen Recht zu geben. Eine Aufgabe der
"Osterweiterung" besteht darin, diesen historischen Trend
auszugleichen. Dabei wird der Westen nicht nur der Gebende, sondern
auch der Nehmende sein.
Kann man von der Europäischen
Gemeinschaft sagen, dass sie eine Willensgemeinschaft ist? Nicht
mehr und nicht weniger als im Falle der Nationen. Da man aber
generell geneigt ist, gegenüber der EU einen anderen, einen
anspruchsvolleren Maßstab anzuwenden als gegenüber den
(eigenen) nationalen Gemeinschaften, hat man Mühe, sich
"Europa" als Willensgemeinschaft vorzustellen. Und doch muss man
bei genauerem Überlegen zum Schluss kommen, dass in dem
beschränktem Maß, in dem dieser Grundsatz auch für
den Nationalstaat überhaupt zutrifft, dies für die EU
ebenfalls gelten kann und gelten muss.
Wille wozu? Man muss sich Europa als
Vertragsgesellschaft vorstellen, wobei es weniger um den
Rousseau'schen Gesellschaftsvertrag geht als um die Bejahung einer
Reihe von Verträgen (Rom, Maastricht, Amsterdam, Nizza).
Zusammengehalten durch die Vielzahl der seit 1948 zustande
gekommenen Verträge, verbunden durch die im Dezember 2000 auf
dem Gipfel von Nizza verabschiedete Grundrechtcharta und durch die
seit Jahrzehnten stets in Arbeit befindliche und jetzt sich
vielleicht sogar auf der Zielgeraden befindende Verfassung. Der
Wille gilt der Gemeinschaft, er ist aber nicht einfach
hingebungsvoll altruistisch, sondern beruht auf der berechnenden
und nicht uneigennützigen Einsicht, dass die eigene Position
(als Großgruppe oder Einzelperson) in dieser Gemeinschaft
besser aufgehoben ist als in einem Alleingangszenario (oder einer
anderen Allianz) und dass es gerechtfertigt ist, im Falle von
untergeordneten Interessenkonflikten im übergeordneten
Interesse auch Kompromisse einzugehen und "Preise" zu
bezahlen.
Die Europäische Gemeinschaft will oder
kann zwar kein Staat sein. Sie hat aber mit dem Wesen Staat gemein,
dass ihre Grenzen die Reichweite des eigenen Rechts, des
Europarechts, bestimmen, dass sie einen Rechtsraum bilden, für
den bestimmte Gesetze gelten, Gesetze, die das gesellschaftliche
Leben in bestimmten Punkten regeln. Insofern also Europa und EU
identisch sind, kann man Europa als Rechtsraum mit elastischen
Konturen bezeichnen und mit Wolfgang Schmierer feststellen: "Europa
hat keine klaren Grenzen, aber die Europäische Union schafft
welche."
Und die Identität? Sie ist das
Sekundärprodukt von geschaffenen Tatsachen auf
institutioneller Ebene. Wie im Falles des nation-buildings folgt
auch beim supranation-building (im nichtmarxistischen Sinn) das
Bewusstsein dem Sein. Zuerst die gemeinsame Verwaltung, das
gemeinsame Gericht, die gemeinsame Währung, dann die
Gemeinsamkeitsvorstellungen. Ge-
nährt wird europäische
Identität durch die Reproduktion und Zirkulation gemeinsamer
Zeichen wie Fahne, Passbüchlein und Fahrausweis, Autoschilder,
seit Januar 2002 durch das gemeinsamen Erscheinungsbild der
Euro-Münzen und -Noten. Hinzu kommen die mit europäischem
Klang versehenen Ortsnamen und die bisher allerdings nicht sehr
einprägsamen Außenaufnahmen von EU-Gebäuden
(insbesondere des Straßburger Parlamentes) und beispielsweise
das subkutane Einspeisen von Europabildern in Form von Wetterkarten
oder Kulissenbebilderung von Pressekonferenzen.
Was es offenbar braucht, ist ein Gefühl
der selbstverständlichen Zusammengehörigkeit, welche
nicht mit letztlich doch artifiziellen Willensakten bekräftigt
werden muss. Jürgen Kocka nennt das zutreffend "einen
gemeinsamen Fundus von innerer Kommunikation und relevanten
Gemeinsamkeiten". Das scheint sich wenig vom üblichen, auf die
Nationen fokussierenden Diskurs über gemeinsame Kultur und
Geschichte zu unterscheiden. Gemeint ist aber nicht in
fundamentalistischer Weise selbstwirkende Vergangenheit, sondern
der aktuelle und öffentliche Austausch zwischen
Angehörigen einer Großgruppe, die dadurch definiert ist,
dass in ihr ein privilegierter und verbindlicher
Kommunikationsaustausch stattfindet.
Es sind, zusammengefasst, nicht die
vorgegebenen Grenzen, nicht die Geografie, nicht externe Faktoren,
die Europas Grenzen bestimmen. Auch ist das Sein in der
territorialen Dimension nur eine Art des Existierens. Die andere
ist die der Außenwirkung, der Präsenz in der Welt, ohne
imperiale Ambition, im Gegenteil sogar mit der Absicht, das zum
Teil wieder gutzumachen, was in früheren Phasen der
außereuropä-
ischen Präsenz ungut verlief - als
verantwortungsbewusster Teil der Welt. Da hat man die redundante
Gewissheit, dass die Art, wie Europa diese Verantwortung
einlöst, europäisch sein wird. Europa definiert sich
weniger durch die Geschichte als durch die Gegenwart. Seine Grenzen
liegen dort, wo im globalem Rahmen die verbindliche Präsenz
Europas endet.
Georg Kreis ist Direktor des Europainstituts
der Universität Basel und Autor des Buches "Europa und seine
Grenzen", Haupt-Verlag, 2004.
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