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Reinhard Mawick
"Sie tun einem nichts, die Katholiken"
Die Trennung in Katholizismus und
Protestantismus hat Europa geprägt - wie tief ist der Graben
heute noch?
"Einmal in der Woche fahre ich nach
Quakenbrück. Dann reicht es mir, dann muss ich mal wieder raus
aus diesem katholischen Muff. Quakenbrück ist evangelisch, da
kann ich richtig durchatmen", erzählt Frau M. Frau M. lebt in
einer Kleinstadt im oldenburgischen Münsterland
(Niedersachsen) und ist evangelisch. Die Protestanten sind in
dieser zu über 90 Prozent katholischen Region um die
Städte Vechta, Cloppenburg und Damme eine kleine Minderheit.
Prozessionen und anderes katholisches Brauchtum prägen dort
den Alltag. In diesem kleinstädtisch-ländlichen Milieu,
so meint Frau M., falle man als Protestantin wirklich auf. "Sie tun
einem nichts, die Katholiken, aber diese milde Herablassung ist
schon schwer zu ertragen."
Ist Frau M. überempfindlich oder hat das
Konfessionelle, der Gegensatz zwischen den aus der Reformation im
16. Jahrhundert hervorgegangenen protestantischen Konfessionen und
dem römischen Katholizismus, im 21. Jahrhunderts wirklich noch
so eine starke Bedeutung?
Generell ist der Einfluss der christlichen
Konfessionalität in Deutschland sicher nicht mehr so
groß, wie er noch vor einigen Jahrzehnten oder gar
Jahrhunderten war. Kriege führt man deswegen schon lange nicht
mehr. Dennoch ist Deutschland, das bevölkerungsreichste Land
Europas, für das Nebeneinander von Protestanten und Katholiken
das wichtigste Beispiel, denn in keinem anderen Land Europas sind
beide Konfessionen so gleichstark vertreten.
Deutschland war in der Vergangenheit der
Hauptschauplatz der Glaubenskriege. Aber es hat seine
Bikonfessionalität in Etappen bewältigt: Im Augsburger
Religionsfrieden (1555) werden beide Konfessionen anerkannt. Es
galt der Grundsatz: Wer das Land regierte, bestimmte die Konfession
(lateinisch: cuius regio, eius religio). Der Westfälische
Frieden 1648 beendete endgültig das Zeitalter der
Religionskriege in Europa. Es herrschten klare Verhältnisse:
Die Andersgläubigen müssen auswandern, wenn sie an einer
Konfession festhalten wollen, die der des Landesherren
widerspricht.
Doch im 18. Jahrhundert verwässert
langsam die konfessionelle Geschlossenheit der deutschen
Territorien: Friedrich II. von Preußen bestimmte für sein
immer größer werdendes Land den Grundsatz: "Die
Religionen müssen alle tolerieret werden (...), denn hier muss
ein jeder nach Seiner Faßon selig werden". Er rief
unabhängig von der Konfession Menschen in das große,
dünnbesiedelte Preußen. Dennoch blieb Deutschland im
Großen und Ganzen ein Flickenteppich konfessionell
geschlossener Territorien. Man lebte meist friedlich nebeneinander,
aber auch nebeneinander her. Es verfestigten sich die Meinungen
über die jeweils andere Konfession, und Eheschließungen
zwischen Katholiken und Protestanten sind jahrhundertelang extrem
selten beziehungsweise gar nicht möglich. Erst nach dem
Zweiten Weltkrieg wurde die konfessionelle Homogenität
Deutschlands gehörig durcheinander gewirbelt: Flüchtlinge
aus den Ostgebieten, meist evangelischer Konfession, siedeln sich
in bisher absolut homogenen katholischen Territorien an.
Trotz des protestantischen Zuzugs der
vergangenen Jahrzehnte ist Südoldenburg bis heute eine
katholische Vorzeigeregion in Deutschland. Nach der Meinung von
Frau M. ist sie noch heute so "schwarz" (gleich katholisch), dass
man "tagsüber mit Licht fahren" müsse. Ein sicheres Indiz
dafür: Die CDU erreicht bei den Wahlen in der Region an die 70
Prozent und teilweise darüber. Das liegt auch sicher an der
konfessionellen Prägung, die sich in Südoldenburg in sehr
deutlicher Form erhalten hat.
Katholiken sind in Deutschland in vielen
Dingen immer noch konservativer als Protestanten. Doch der
Gegensatz ist seit 1945 im Abnehmen begriffen, auch gibt es in
beiden Konfessionen sowohl sehr progressive als auch sehr
konservative Richtungen. Nach der Wiedervereinigung 1990 wurde
immer wieder der Leitsatz geäußert, Deutschland
würde "sozialdemokratischer und protestantischer werden". Aber
schon damals war nicht wirklich klar, was sich hinter der These
verbirgt.
Es ist also heute kaum möglich,
gesamtgesellschaftlich einen Gegensatz oder eine Frontlinie
zwischen den Konfessionen in Deutschland zu ziehen, denn die
Bedeutung der Konfession nimmt mit der zunehmenden
Säkularisierung und vor allem der zunehmenden Erosion
kirchlicher Bindungen beziehungsweise bewusster Emanzipation vom
kirchlichem Einfluss ab. Treffend schreibt der äthiopische
Aristokrat Asfa-Wossen Asserate in seinem Buch "Manieren": "Die
seit meiner Ankunft in Deutschland mir häufig vorgetragene
Anekdote (so häufig, dass ich inzwischen an ihrer
Wahrscheinlichkeit zweifle), am katholischen Fronleichnamstag
hätten die protestantischen Bauern Mist gefahren, um die
Prozession zu stören, am Reformationstag hingegen hätten
die Katholiken ein heftiges Teppichklopfen angefangen, beschreibt
schon geradezu legendär gewordene
Verhältnisse."
Dem ist nichts hinzuzufügen. Vielmehr
scheinen heute andere transzendente Kennzeichen für die
Volksmeinung wichtiger zu sein als die Konfession. So beschreibt
das Massenblatt "BILD" im Sommer 2004 in einer Serie Schlagerstars
wie folgt: "Stefanie Hertel (Löwe, evangelisch)" und "Stefan
Mross (Schütze, katholisch)". Das Sternzeichen scheint zu
Beginn des 21. Jahrhunderts in Deutschland fast bedeutender zu sein
als die Religionszugehörigkeit. Die Frage, ob jemand
gläubig ist, hat wieder mehr Bedeutung, doch die
traditionellen konfessionellen Verästelungen der
Religiosität sind dabei immer weniger von
Interesse.
Anders als in Deutschland und vielleicht noch
in den Niederlanden und der Schweiz sind die meisten übrigen
Länder Mittel- und Westeuropas klarer von einer Konfession
geprägt. Die skandinavischen Länder haben beziehungsweise
hatten bis vor kurzem eine lutherische Staatskirche, waren also
klar protestantisch geprägt. Sicher sind Züge des
spezifischen skandinavischen Luthertums in die Volksmentalität
eingeflossen, aber mangels Masse gab und gibt es kein direktes
Aufeinandertreffen von Katholiken und Protestanten.
Die Länder der iberischen Halbinsel
(Spanien, Portugal), Polen und natürlich Italien sind absolut
katholisch geprägt. Was Italien betrifft, so hat man
Katholizismus pur. Der berühmte Filmemacher Federico Fellini -
er ist besonderer Kirchennähe unverdächtig - sagte
einmal: "Ich weiß, dass ich der Gefangene von zweitausend
Jahren Katholizismus bin. Alle Italiener sind es." Die engen
Verbindungen zwischen Italien und dem Katholizismus lassen sich
schon an der Sprache festmachen. Das Wort "christlich" hört
man in Italien kaum, es ist im Italienischen fast vollständig
von dem Wort "katholisch" ersetzt. Mit Abstrichen gilt diese klare
katholische Homogenität auch für Spanien und Portugal.
Mangels Masse gibt es keine Konflikte mit Protestanten. Etwas
anders sind die Verhältnisse in Frankreich: Seit der
Revolution 1789 pflegt der Staat ein distanziertes Verhältnis
zur katholischen Kirche und auch zu den verschwindend geringen
protestantischen Minderheiten. Seit 1905 ist der französische
Staat streng laizistisch und hat deshalb ein völlig anderes
Selbstbewusstsein gegenüber dem katholischen Klerus entwickelt
als in den anderen traditionell katholischen
Ländern.
In Großbritannien ist das
Verhältnis zwischen der protestantischen anglikanischen und
der katholischen Kirche insofern von Bedeutung, da letztere in der
jüngeren Vergangenheit als Auffangbecken für jenen
konservativen Teil der anglikanischen Geistlichkeit diente, die
gewisse liberale Veränderungen, wie zum Beispiel die
Frauenordination, nicht anerkennen wollten. Irland hingegen ist ein
sehr katholisch geprägtes Land, in dem traditionelle
katholische Moralvorstellungen immer noch vorherrschend sind: Zum
Beispiel ist der Schwangerschaftsabbruch illegal und Ehescheidung
schwierig.
Das politisch zu Großbritannien
gehörende Nordirland wird immer als erstes erwähnt, wenn
von einem Gegensatz zwischen Protestanten und Katholiken die Rede
ist. Dafür taugt es aber überhaupt nicht. In Nordirland
ist über Jahrhunderte hinweg eine verworrene Lage entstanden.
Ein Drittel der Bevölkerung ist protestantisch und hängt
in einem teilweise übersteigerten Nationalismus an der
britischen Krone. Die zwei Drittel Katholiken fühlen sich
hingegen eher dem irischen Mutterland zugehörig und streben
mit ihren Interessenvertretern eine Annäherung beziehungsweise
Vereinigung mit Irland an. Die Konfession gehört untrennbar
zur nationalen Identität und ist eigentlich von ihr nicht
abzulösen. Von einem religiösen Gegensatz zu sprechen,
verkennt den im Kern nationalen Charakter des
Konfliktes.
Institutionalisierte Doppelmoral
Die sehr zugespitzten nordirischen
Zustände gelten in abgemilderter Form sicherlich für alle
westeuropäischen Länder. In Jahrtausenden beziehungsweise
Jahrhunderten haben das Christentum und die jeweils spezifisch
nationale Ausprägung des Christentums ihre Spuren im Charakter
einer Nation hinterlassen. Es ist aber schwierig, die
unterschiedlichen Nationalcharaktere eindeutig mit einer
konfessionellen Ausprägung in Verbindung zu bringen. Es bleibt
ein uneindeutiges Amalgam.
Religiöse und damit auch spezifisch
konfessionelle Identitätsmerkmale gelten jedoch besonders im
Bereich der (Sexual-)Moral und Sozialethik. Hier kann man sicher
feststellen, dass die protestantisch geprägten Nationen Nord-
und Mitteleuropas eine liberalere Grundeinstellung haben und nicht
so wie die homogen katholisch geprägten Länder des
Mittelmeerraumes eine quasi institutionalisierte Doppelmoral
aufgebaut haben. Ein gewichtiges Beispiel dafür: Italien hat
europaweit die niedrigste Geburtenrate, obwohl die dort
omnipräsente katholische Kirche strikt gegen jede
künstliche Geburtenkontrolle ist. Die allgegenwärtige
Kirche erzeugt unter der gesellschaftlichen Oberflächen einen
rigorosen Antiklerikalismus, der so in protestantischen
Ländern nicht festzustellen ist. Ein Kennzeichen findet sich
zum Beispiel auf Speisekarten in Italien: Dort, so weiß der
langjährige britische Italienkorrespondent Tobias Jones in
seinem 2004 erschienenen Bilanzbuch ("Italien - das dunkle Herz des
Südens"), gibt es in der Region Emilia Romagna eine Pastaform,
die strozza-preti (Priesterwürger) genannt wird.
Was die Allergie gegen eine Konfession und
ihre Vertreter angeht, so hat es Deutschland besser. Dort muss man
meist nicht sehr weit fahren, um in eine Region zu kommen, in der
mehrheitlich die andere Konfession vorherrscht. Frau M. jedenfalls
braucht nach Quakenbrück nur 20 Minuten und kann dann tief
durchatmen.
Der evangelische Pastor Reinhard Mawick ist
Redakteur bei "Chrismon".
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