|
|
Jeannette Goddar
Gefährliche Tendenz zum Ghetto oder die ganz
gewöhnliche Suche nach Nestwärme?
Chinatown, Little Italy, türkisches
Viertel: Einwandererquartiere sind häufig ethnisch homogen -
das Beispiel Berlin-Kreuzberg
Rita Kielhorn war eine junge Ärztin, als ihr eine Praxis in
einem fast leer stehenden Stadtteil angeboten wurde. Zu Tausenden
waren seit dem Mauerbau all jene Menschen verschwunden, die nicht
länger in einem von drei Seiten eingeschlossenen Bezirk leben
wollten. Die Altbauten schimmelten vor sich hin; die Mieten sanken,
Kaputtes wurde nicht repariert. Ende der 60er-Jahre, als die
Stadtplaner noch glaubten, dass jedes Viertel besser wird, wenn man
es erst einmal abreißt, stand Kreuzberg kurz davor, erst nach
einer vollständigen Entmietung wieder bewohnbar zu werden.
Bis die Männer aus der Türkei kamen und in die maroden
Wohnungen gesteckt wurden - weil sie ja ohnehin nur ein paar Jahre
bleiben sollten. Plötzlich hatte die Ärztin einen ganzen
Schwung neuer Patienten: Gastarbeiter, fast alle männlich, die
allein von Anatolien nach Berlin gekommen waren, um ein paar Mark
zu verdienen. Kaum einer konnte lesen und schreiben, kaum einer
kannte sich mit den Standards des Zusammenlebens in einer
Großstadt aus. Anstatt Termine zu vereinbaren, standen sie
morgens in Dreierreihen vor der Praxis; manche trugen noch ihre
Nachthemden und Pantoffeln. Geduldig warteten sie da, bis sie
hereingelassen wurde.
Rita Kielhorn nahm sich ihrer Krankheiten an. Sie kümmerte
sich um Beschwerden, die durch körperliche Arbeit, und solche,
die durch Heimweh hervorgerufen worden waren. Irgendwann behandelte
sie die ersten Ehefrauen, begleitete Schwangerschaften und
Geburten. Inzwischen hat sie die Enkel als Patienten gewonnen. Von
denen kämpft der größte Teil entweder mit
katastrophalen schulischen Leistungen oder sitzt ohne Ausbildung in
Kreuzberg auf der Straße. Ausnahmen bestätigen, wie
immer, die Regel.
So ist er entstanden, der Berliner Stadtteil Kreuzberg, den man
heute in der ganzen Republik kennt - oder zu kennen glaubt. In
Kreuzberg, so hat es sich herumgesprochen, kann man von der Wiege
bis zur Bahre türkisch sprechen. Es gibt Schulen ohne deutsche
Schüler, Kitas ohne deutsche Kinder, Nachbarschaftsheime ohne
deutsche Nachbarn. Kreuzberg ist ein Synonym geworden: für
Klein-Istanbul und Multikulti, aber auch für Gettoisierung
oder Parallelgesesellschaft. Zwar gibt es auch Duisburg-Marxloh,
Hamburg-Wilhelmsburg oder Köln-Mülheim; meist ist es aber
das immer noch nach dem alten Postzustellbezirk benannte SO 36, das
als Stellvertreter für die Folgen von Einwanderung und
Integration herhalten muss.
Kreuzberg - jedenfalls ein guter Teil davon - ist aber nicht nur
überwiegend türkisch; Kreuzberg ist auch ein
hervorragendes Beispiel dafür, wie schwer es ist, ethnische
Mischung zu erzwingen. Bis 1990 mühte sich der Berliner Senat,
an der Bewohnerstruktur, die er selbst erschaffen hatte, wieder
etwas zu ändern. Mit Hilfe von Zuzugssperren und anderen
Maßnahmen sollte Kreuzberg wieder deutscher werden. Nur: Die
umworbene deutsche Mittelklasse wollte gar nicht kommen, nicht
einmal, als die Mauer gefallen war und der Bezirk wieder mitten in
der Stadt lag. Nichttürken, die nach Kreuzberg ziehen, sind
Araber, Bosnier oder Kosovoalbaner; oder: zwar deutsch, aber arm
und, bis auf ein paar Künstler und Studenten, nicht ganz
freiwillig hier. An der Zusammensetzung der Bevölkerung werden
die (weißen) Deutschen schon deswegen nichts ändern, weil
sie die niedrigere Geburtenquote haben. Kreuzberg wird
türkisch bleiben.
Man könnte dies für eine rein Berliner Geschichte
halten. Das ist es aber nicht. In ein paar Jahren werden die
meisten deutschen Großstädter Segregation bei sich
zuhause besichtigen können. Das Deutsche Institut für
Urbanistik rechnet vor, dass bis 2015 weitere fünf Millionen
Ausländer zuziehen und sich überwiegend dort
niederlassen, wo schon Kollegen aus dem Herkunftsland leben. Das
wird in den Innenstädten sein: 80 Prozent der Ausländer
in Deutschland leben in Großstädten; genauer: in den
alten Innenstadtquartieren oder den großen Neubausiedlungen
der 60er- und 70er-Jahre.
Über die Frage, ob Segregation - also die räumliche
Trennung verschiedener Bevölkerungsgruppen - etwas Positives
oder Negatives ist, wird in der Stadtsoziologie trefflich
gestritten. Die einen halten Stadtteile eingewanderter Communities
für ethnische Kolonien aus freien Stücken: Dass
Neuankömmlinge in der Nähe ihrer Landsleute, die ja oft
auch Verwandte oder Bekannte seien, wohnen wollten, sei doch ganz
normal. Als selbst gewählter Aufenthaltsort seien ethnische
Kolonien das genaue Gegenteil von diskriminierend: Sie
förderte die Selbstorganisation von Migranten,
ermöglichten ein ethnisches Vereinswesen, religiöse
Gemeinden, informelle Treffpunkte sowie eine ethnische
Ökonomie.
Die Gegenposition argumentiert, dass Bezirke, in denen nur oder
überwiegend Menschen einer anderen als der deutschen Herkunft
leben, eine Tendenz zum Ghetto in sich trügen: Statt eines
freiwillig gewählten Zustandes handle es sich entweder um eine
von der Außenwelt erzwungene Wohnform, oder - auch nicht
besser - um Selbstghettoisierung in einer als feindlich empfundenen
Umgebung. In jedem Fall, sagen die Gegner abgeschlossener
ethnischer Viertel, führten diese dazu, dass eine Integration
in die Mehrheitsgesellschaft nicht stattfinde und Armut,
Bandenbildung und Kriminalität gefördert würden.
Für Kreuzberg darf wohl attestiert werden: Mehr als
anderswo leben Deutsche und Ausländer isoliert nebeneinander
her. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass schon die
Spachbarriere enorm ist. Die erste Generation spricht häufig
gar nicht, die zweite oft lückenhaft Deutsch. Die Folge:
Kontakte finden vor allem in der eigenen ethnischen Gruppe statt.
Viele deutsche Mieter fühlen sich in der ungewohnten Umgebung
nicht mehr wohl; spätestens wenn sie Kinder bekommen, ziehen
sie in der Regel um.
Im internationalen Vergleich ist das allerdings etwas ganz
Normales: In New York und Paris, London oder Amsterdam gehört
das, was hierzulande zuweilen als "blickdichte Parallelwelt"
tituliert wird, zur Normalität von
Einwanderungsgesellschaften. In der Tat sind viele der Vorteile,
die einer gemischten Bevölkerung traditionell angedichtet
werden, an mehreren Beispielen widerlegt. Dass die
"Kontakthypothese", die davon ausgeht, dass Menschen sich schon
konstruktiv miteinander beschäftigen werden, wenn sie einander
nah sind, nicht stimmt, konnte man in Berlin schon vor 150 Jahren
beobachten. Damals wurden die Beamten und der Mittelstand in den
großräumigen Vorderhäusern untergebracht; die
proletarischen Massen zogen ein paar Meter weiter in die
dazugehörigen Hinterhäuser. Dort sollten sie am Vorbild
der besser Verdienenden charakterlich wachsen und so auch ihre
eigene Lage verbessern. Geschehen ist das nur höchst
selten.
Nach Ansicht des Berliner Stadtsoziologen Hartmut
Häußermann basiert die These, Kontakt führe zu
Integration, auf einer tautologischen Annahme:
Erfahrungsgemäß werde das Miteinander durch Kontakt nur
dort verbessert, wo es schon einen konstruktiven Dialog gäbe.
"Wenn die Integration gelungen ist, bringt Kontakt sie weiter
voran", sagt Häußermann. Anderenorts kann das
Aufeinandertreffen verschiedener Gruppen den Kontakt durchaus
erschweren - bei einem angespannten sozialen Klima, bei
gegensätzlichen Normen oder erhöhter Konkurrenz, zum
Beispiel um Arbeitsplätze.
Häußermann sieht die zunehmende ethnische Trennung
innerhalb der Städte vor allem skeptisch, weil er in ihnen
eine Abwärtsspirale der Lebensqualität beobachtet.
Entscheidend für die Beurteilung von Segregation sei die
Anzahl der Brücken, die von einem Quartier in die
Mehrheitsgesellschaft existieren. "Die zentrale Frage ist, ob die
Menschen sozial und ökonomisch integriert sind oder ob sie an
einem Ort der Exklusion leben. In letzterem Fall gibt es ein
Problem - in ersterem nicht."
Mit der sozialen und ökonomischen Integration ist es nun
häufig nicht weit her. Nirgends sind so viele Berliner
arbeitslos wie in Kreuzberg (29,2 Prozent); nirgends leben so viele
von Sozialhilfe (17,3 Prozent). Mehr als jeder Dritte hat schon
deshalb wenig Aussicht auf Arbeit, weil er gar keine Ausbildung
hat; auch damit hält der Bezirk eine traurigen Rekord. Vor
allem aber: Der statistisch am häufigsten vorkommende
Kreuzberger ist weder Türke noch Deutscher. Sondern ein
Berliner, der knapp über oder knapp unter der Armutsgrenze
lebt. In ihren materiellen Verhältnissen unterscheiden sich
deutsche und türkische Nachbarn so gut wie nicht. Jeannette
Goddar
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Berlin.
Zurück zur
Übersicht
|