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Frank R. Pfetsch
Konfliktlösung oder ewiger Unruheherd?
Der Abbau von Schlagbäumen zwischen den
EU-Ländern gilt als friedenssichernd - auf dem Balkan waren
dafür neue Mauern nötig / Von Frank R. Pfetsch
Territorien und ihre Umgrenzung gehören zu
den ersten ursprünglichen Gütern, auf die sich Besitz-,
Habgier- und Herrschaftsanspruch gerichtet und um die sich
Stämme und Staaten gestritten haben. Politisch bedeutet das
Streben nach Besitz von Land oder Meeresfläche beziehungsweise
die Kontrolle über Territorien eine Vergrößerung von
nationalstaatlicher Verfügung und damit von Macht. Mit der
Ausbildung des territorialen Flächenstaates wurde das
Territorium zur Basis zunächst dynastischer Herrschaft, dann
ethnischer, kultureller oder völkischer Identität. Das
völkerrechtliche Prinzip staatlicher Souveränität
schützt diese territorial definierte Herrschaft und ist in
beinahe allen Statuten internationaler Organisationen - vor allem
der UN-Charta - festgeschrieben.
Der Drang, ein bestimmtes Land zu besitzen,
hängt - neben dem nationalen Prestige - ab von Faktoren wie
Fruchtbarkeit, Klima, Reichtum an Bodenschätzen,
geostrategischer Lage, das heißt von der wirtschaftlichen und
militärischen Bedeutung für Dritte, etc. Insbesondere der
Reichtum an Rohstoffen - oder allgemein an ökonomisch
wichtigen Gütern - ist ein wichtiger Beweggrund für
territoriale Eroberungen gewesen. Nationalismus und Imperialismus
waren auf Territorien fixiert und haben Grenzen gezogen, um
zwischen dem eigenen "wir" und dem fremden "anderen" ab- und
auszugrenzen. Mit diesem Prozess nationalstaatlich-territorialer
Abschottung ist ein internationaler, nichtstaatlicher Prozess der
Weltmarktöffnung ("Globalisierung") parallel gelaufen. Das
Handels- und Industriekapital hat Grenzen überschritten und
nationale Schranken durchlässig gemacht. Damit sind zwei
entgegengesetzte Kräfte am Werk: Sicherheitspolitische
Abgrenzung staatlich-territorialer Souveränität
einerseits, Durchlöcherung dieser Abgrenzung durch
nichtstaatliche, wirtschaftliche Transfers bei Beibehaltung
physischer Grenzen andererseits.
Bei Grenzkonflikten geht es im engeren Sinne
um physische Land- oder Meeresgrenzen. Diese müssen bei
gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht immer - und in neuerer Zeit
immer weniger - Gegenstand erstrebter Veränderung sein.
Während es im ersten (Iran - Irak) und im zweiten Golfkrieg
(Irak - Kuwait) noch um solche territoriale Veränderungen
benachbarter Staaten ging, war dies im zurückliegenden
Irakkrieg (USA/Allianz - Irak) nicht Gegenstand der
Auseinandersetzung. Vielmehr ging es um politische und
ökonomische Kontrolle von Seiten der intervenierenden Staaten.
Carl Schmitt schreibt im "Nomos der Erde" hierzu: "Der territoriale
Boden-Status des gelenkten Staates wird nicht in der Weise
verändert, dass sein Land in das Staatsgebiet des lenkenden
Staates verwandelt wird. Wohl aber wird das Staatsgebiet in den
spatialen Bereich des kontrollierenden Staates und dessen special
interests, das heißt in seine Raumhoheit, einbezogen. …
Die politische Kontrolle oder Herrschaft beruht hier auf
Interventionen, während der territoriale Status quo garantiert
bleibt."
Staatsgrenzen müssen also bei
politischen Herrschaftsansprüchen nicht verändert werden.
Die Sowjetunion hat die Grenzen ihrer Satellitenstaaten nicht
verändert, und die USA haben ihre Einflusssphärenpolitik
ohne territoriale Änderung ausgeübt. Wohl aber haben die
Siegermächte des Ersten und des Zweiten Weltkriegs in den von
ihnen beherrschten Gebieten willkürliche Veränderungen
vorgenommen, die einen Großteil der kriegerischen
Auseinandersetzungen in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts erklären.
Daraus folgt in Bezug auf Grenzen, dass
physische Grenzen weiterhin ein für den Erhalt und die
Sicherheit nationaler Gesellschaften wichtiges Gut sind, dessen
Wahrung nach wie vor als eine bedeutende Aufgabe staatlichen
Regierungshandelns angesehen werden muss. Denn dort, wo von der
Zentralregierung die Sicherheit nicht gewährleistet werden
kann, zerfällt der Staat, und kleine Territorialfürsten
(warlords) kontrollieren Teilgebiete wie in Somalia, Peru, im
ehemaligen Afghanistan und in zahlreichen Ländern des
afrikanischen Kontinents. Die staatlichen Grenzen zu sichern und
die Integrität zu erhalten ist in solchen Fällen
friedenserhaltend. Allerdings gilt dies nicht immer. Dort, wo der
Wille zur Selbstbestimmung groß ist, kann die Aufgabe von
Grenzen - die Separation - ein Heilmittel der Friedenssicherung
sein. Die Teilung Pakistans, der Tschechoslowakei, Äthiopiens,
ja selbst Jugoslawiens kann als friedenssichernd bewertet
werden.
Die Geografie von Staaten entscheidet auch
mit über die Bedrohung von außen: Mittellagen sind
bedrohter als periphere Regionen, Staaten mit vielen angrenzenden
Nachbarn zeigen ein höheres Konfliktpotential als Staaten ohne
Grenzen, Insellagen sind sicherer als zentralkontinentale Lagen.
Die Geografie entscheidet aber auch über die Reichweite von
Beherrschbarkeit. Raum wird zum Konfliktfaktor; Luft, Meer und Land
werden zur Interessensphäre erklärt und in
außenpolitischen Doktrinen führender Mächte
formuliert; sie bleiben keine geografisch neutralen
Größen. So genannte "mental maps" grenzen Räume nach
Interessensphären ab. Räume werden auch nach der
Reichweite militärischer Mittel ausgemessen. Im Kalten Krieg
haben die Supermächte stillschweigend ihre jeweilige
Einflusssphäre anerkannt. Weder haben die USA in
Ostdeutschland 1953, in Ungarn und Polen 1956, in Prag 1968
eingegriffen, noch die Sowjetunion in den zentralamerikanischen
"Vorhof". Dort, wo dies dennoch versucht wurde
(US-Aufklärungsversuche in Osteuropa, Raketenstationierung der
Sowjetunion in Kuba), sind solche Versuche durch Drohung oder
Gewalt zurückgeschlagen worden.
Seit Ende des Zweiten Weltkriegs sind immer
wieder Konflikte um Grenzen und Territorien entstanden, ja es sind
global gesehen die am meisten umstrittenen Güter der
Nachkriegszeit gewesen. Im Vergleich zu anderen Streitgütern
wie ethnische, religiöse oder regionale Autonomie, Ideologie,
nationale und internationale Macht oder Ressourcen waren
Territorium, Land- und See-Grenzen die am häufigsten
umstrittenen Konfliktgegenstände in fast allen Kontinenten.
Von den 661 Konflikten zwischen 1945 und 1995, die in der
Heidelberger Datenbank Kosimo gespeichert und ausgewertet wurden,
hatten exakt 223 unter anderem Grenzen zum Gegenstand. Allerdings
besitzen solche Grenzkonflikte viel weniger Potenzial zur
Gewaltsamkeit als zum Beispiel ideologische
Auseinandersetzungen.
Plausibel scheint die Annahme, dass eine
Vielzahl von Anrainerstaaten und damit einhergehend eine Vielzahl
von Grenzen die Konfliktwahrscheinlichkeit erhöht. Die
empirische Überprüfung dieser These über alle
beobachteten Fälle von Grenzkonflikten hinweg zeigt allerdings
nur einen schwachen Zusammenhang. Die Folgerung: Grenzen sind somit
nicht unbedingt Konflikt treibend; schon gar nicht müssen sie
zu Gewaltkonflikten führen.
Nach der territorialen Eroberung und
Besiedelung außerhalb Europas liegender Gebiete
(Kolonialismus, Imperialismus) sind in neuerer Zeit die Meere
wichtiger geworden, nicht nur als Schifffahrtswege oder wegen des
Fischreichtums, sondern auch wegen der mineralischen Vorkommen. Die
1994 in Kraft getretene UN-Seerechtskonvention teilt das Meer in
verschiedene Zonen auf: das Hoheitsgewässer von zwölf
Seemeilen gehört zur Souveränität des
Küstenstaates, eine Wirtschaftszone von 200 Seemeilen bleibt
dem Küstenstaat zur Ausbeutung vorbehalten. Erst danach
beginnt die "Freiheit" der Hohen See, das "gemeinsame Erbe der
Menschheit" und der Bereich, der von der internationalen
Meeresbodenbehörde für den Rohstoffabbau geregelt wird.
Diese Konvention hat bei sich überlappenden Seegebieten in
allen Kontinenten der Erde zu Konflikten zwischen Nachbarstaaten
geführt. 15 solcher Meereskonflikte wurden gezählt, in
Europa vor allem in der Nord- und Ostsee und in der
Ägäis. Dort, wo sich die Grenzen benachbarter Länder
überschneiden, drohen Konflikte um Fischereirechte, Bohrrechte
oder am Seeboden befindliche Rohstoffe.
Konfliktlösung durch
Bündnisse
Mit dem Funktionswandel des Staates in
westlichen Gesellschaften haben Staatsgrenzen eine neue
Qualität erhalten. Mit dem europäischen
Integrationsmodell und durch moderne Kommunkationstechnologie sind
Grenzen durchlässiger geworden. Der Wille zu europäischem
Zusammenschluss hat auch dazu geführt, dass zahlreiche
Territorial- beziehungsweise Grenzabkommen zwischen Deutschland und
den Niederlanden (Grenzgebiete mit Elten, Tuddern und Dinxperlo),
zwischen Deutschland und Frankreich (Saarland), zwischen
Deutschland und Polen (Oder/Neiße), zwischen Belgien und den
Niederlanden (um Baerle-Duc) abgeschlossen werden konnten, die
entweder die Anerkennung jeweiliger Territorien oder einen
Gebietsausgleich vorsahen. Die freiwillige Einbindung von Staaten
in Regionalbündnisse ermöglichte die Einigung über
Grenzen und Grenzverläufe. Auch das Ende des
Ost-West-Konflikts hat die willkürlich durch Machtpolitik
festgelegten Grenzen aufgehoben. Die deutsche Vereinigung, die
friedliche Teilung der Tschechoslowakei, die Bildung
unabhängiger Nationalstaaten aus der Verteilungsmasse des
sowjetischen Imperiums und des Vielvölkerstaats Jugoslawiens
wären ohne die Wende 1989 nicht möglich
gewesen.
Grenzen können also beides sein:
konfliktfördernd und friedensstiftend. Konflikte werden dort
gefördert, wo nationale Souveränitätsrechte in Frage
gestellt werden, wo Grenzen willkürlich von außen
oktroyiert wurden oder wo Grenzen nicht eindeutig festgelegt sind.
Friedensstiftend sind Grenzen häufig dann, wenn über sie
im Einvernehmen beschlossen wurden, wie dies bei freiwilligen
Zusammenschlüssen der Fall ist, und/oder wenn sie als
Demarkation zwischen außen und innen, zwischen dem "wir" und
dem "anderen" dienen, also identitäts- und friedensstiftend
sind. Die Teilung zwischen der Slowakei und Tschechien kann als
Beispiel für eine solche Demarkation dienen. Andere Fälle
von Teilung sind allerdings kriegerisch verlaufen wie die zwischen
Ost- und West-Pakistan oder zwischen Eritrea und Äthiopien.
Die Einbindung von Staaten in einen größeren regionalen
und organisatorischen Zusammenhang - dies lehrt die
europäische Geschichte - kann Konflikte mildern oder gar
lösen. Die Erweiterung der EU nach Osteuropa kann die
zahlreichen Minoritätenkonflikte in diesem Raum
überwinden helfen.
Professor Frank R. Pfetsch, emeritiert, lehrt
Politikwissenschaft an der Universität Heidelberg.
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