Andreas Eckert
Einfach mitten durchgeschnitten - ohne
Rücksicht auf historische Begebenheiten
Die oft willkürliche Grenzziehung aus den
Zeiten des Imperialismus gilt als Ursache vieler Konflikte in
Afrika - das ist jedoch nur bedingt richtig
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts machten sich die
Europäer daran, Afrika unter sich aufzuteilen. Und sie gaben
sich nicht eher zufrieden, bis auch das weltabgeschiedenste
Wüstengebiet - formal wenigstens - unter europäische
Herrschaft gestellt war. Die vom deutschen Reichskanzler Bismarck
einberufene so genannte Kongo-Konferenz, die von November 1884 bis
Februar 1885 in Berlin stattfand, trug entscheidend zur
völkerrechtlichen Fixierung und Regelung des Teilungsprozesses
in Afrika bei.
In vielen Büchern wird immer wieder das Bild bemüht,
Afrika sei auf dieser Konferenz wie ein Geburtstagskuchen
aufgeteilt worden. So suggestiv dieses Bild ist, so trifft es doch
nicht zu. "Keineswegs aber", schreibt der Berliner Politologe und
Historiker Franz Ansprenger, "zogen die europäischen
Diplomaten in Berlin (wie viele Afrikaner hartnäckig meinen)
mit dem Lineal Grenzen kreuz und quer durch den Kontinent". Die
Vertreter der Imperialmächte einigten sich vielmehr auf einen
Rechtsgrundsatz, um Krisen untereinander möglichst zu
verhüten. So steht in Artikel 35 der Generalakte, die am 26
Februar 1885 unterzeichnet wurde: "Die Signatarmächte ...
anerkennen die Verpflichtung, in den von ihnen an den Küsten
des afrikanischen Kontinents besetzten Gebieten das Vorhandensein
einer Obrigkeit zu sichern, welche hinreicht, um erworbene Rechte
... zu schützen."
In den drei folgenden Jahrzehnten bis zum Ausbruch des Ersten
Weltkriegs wurden dann die Grundmauern des bis heute bestehenden
afrikanischen Staatensystems gelegt. Die Europäer machten im
gegenseitigen Wettstreit jene internationalen Grenzen aus, die
heute noch Geltung haben; und die Kolonialherren begannen, in den
von ihnen eroberten Gebieten koloniale Verwaltungsstaaten zu
errichten. Wo früher eine Vielzahl unterschiedlichster
politischer Systeme nebeneinander existierte, wurde im Gefolge der
kolonialen Durchdringung der territoriale Verwaltungsstaat zum
alleingültigen staatlichen Organisationsmodell.
Dabei kam es in der Tat nur zu einem Krieg zwischen
Europäern um afrikanischen Landbesitz: Im so genannten
Burenkrieg zwischen 1899 und 1902 standen sich in Südafrika
Buren und Briten gegenüber. Dieser Krieg zählte zu den
härtesten und blutigsten Auseinandersetzungen der
Kolonialgeschichte. Ansonsten schrammten europäische Staaten
zwei Mal knapp an bewaffneten Konflikten vorbei:
Großbritannien und Frankreich balgten sich 1898 in der
sogenannten "Faschoda-Krise" um die Region am oberen Nil; die
Briten setzten sich durch. Die deutschen Ambitionen, sich im noch
nicht "verteilten" Marokko festzusetzen, ließen 1905/06 und
dann wieder 1911 einen europäischen Krieg um Afrikas willen
ebenfalls gefährlich nahe rücken. Frankreich teilte dann
schließlich Marokko mit Spanien.
Die von den europäischen Kolonialherren vorgenommenen
Grenzziehungen nahmen vielerorts keine Rücksicht auf
historisch gewachsene Gegebenheiten. Um nur zwei Beispiele zu
nennen: Große Teile des zum Kalifat Sokoto gehörenden
Emirats Adamaua gerieten unter deutsche Herrschaft; dessen
politisches Zentrum Yola hingegen wurde von den Engländern zu
Nordnigeria geschlagen. Auch die Ewe sprechenden Gesellschaften im
Voltagebiet in Westafrika sahen sich durch die Grenzziehung zwei
verschiedenen Kolonien zugeordnet: die einen dem deutschen Togo,
die anderen der englischen Goldküste.
Geografische Konstellationen machen diese Willkür ebenfalls
deutlich. Das Territorium des Staates Senegal wird etwa durch den
Staat Gambia wie mit einem Schlauch in der Hälfte
durchschnitten. Gambia weist dabei eine Länge von etwa 300
Kilometern und eine Breite von maximal 50 Kilometern auf und ist
auf allen Landseiten von Senegal umgeben. Der so genannte
Caprivi-Zipfel durchtrennt in ähnlicher Weise Botswana und
Angola und erschwert die ökonomische Integration in der
Region. Als ähnlich problematisch für die wirtschaftliche
Entwicklung erwiesen sich die Grenzen von Benin (ehemals Dahomey)
und Togo. Beide westafrikanische Staaten haben "wie zwei
nebeneinander gelegte Handtücher" (Leonhard Harding) jeweils
einen sehr schmalen Küstenstreifen und ein langgestrecktes
Hinterland. Die Kolonialherren errichteten die Hauptstädte
Coutenou und Lomé an der Küste, was die Integration aller
Teile des Territoriums in einen modernen Staat zusätzlich
erschwerte.
Diese Form der willkürlich gezogenen Grenzen wird bis heute
nicht selten als eines der Grundübel in Afrika angesehen. Dass
diese Art der Grenzziehung Probleme schuf, indem sie Freunde
trennte und Feinde schuf, ist naheliegend. Die neuen Grenzen
verteilten Großfamilien auf unterschiedliche europäische
Verwaltungs- und Sprachgebiete, unterbrachen aber auch
Handelsrouten, die Bevölkerungszentren verbunden und den
Austausch etwa von Nahrungsmitteln in benachbarten
ökologischen Zonen ermöglicht hatten. Dennoch sollte die
Bedeutung der Grenzen nicht überbewertet werden. Zumindest bis
zum Zweiten Weltkrieg hat der koloniale Staat nicht die
Durchsetzungskraft gehabt, die Mobilität der Menschen
gleichsam zu begrenzen. Handel, Arbeitsmigration,
grenzüberschreitende Weidewirtschaft sowie Fluchtbewegungen
vor Hunger waren möglich und üblich.
Als wesentlich schwerwiegender erwies sich die Grenzziehung nach
innen, das heißt die mit dem Aufbau kolonialer
Verwaltungsstaaten einhergehende Territorialisierung von
Herrschaft. Der Prozess, der heute unter dem Label "Konstruktion
von Ethnizität" firmiert, nahm seinen Ausgang nicht zuletzt in
dem Bestreben der Europäer, eindeutig abgrenzbare
Verwaltungsbezirke einzurichten, an die man je eigene
bürokratische, juristische und Haushaltskompetenzen dele-
gieren konnte. Die vielfältigen gesellschaftlichen
Organisationsformen des vorkolonialen Afrika wurden allesamt
umgedeutet in "tribale" Einheiten, in so genannte Stämme, die
man ihrerseits nach dem Muster des heimischen europäischen
Nationalstaates als Sprach-, Kultur-, Abstammungs- und politische
Gemeinschaften mit abgegrenz-
ten Territorien interpretierte.
In der Periode der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg
nahm die Bedeutung der von den Kolonialmächten installierten
Grenzen jedoch zu. Die Auseinandersetzungen um die Ressourcen der
Zentrale und die Ausbildung politischer Klientelsysteme im Kampf um
die Unabhängigkeit fanden innerhalb der politischen Grenzen
statt - und diese wurden von der nationalen Elite nun verteidigt
und zementiert. Den zumeist in Europa ausgebildeten Oberen der
jungen afrikanischen Staaten war die Gefahr der Revision der
kolonialen Grenzen besonders bewusst. Sie rechneten damit, dass es
in einem solchen Fall zu zahlreichen Kriegen kommen würde,
ähnlich wie im Europa des 19. Jahrhunderts. Die neuen Staaten
Afrikas versprachen sich daher, die Grenzen gegenseitig zu
respektieren. Dass diese Grenzen von Fremden willkürlich
gezogen waren, nahm man in Kauf. Diese Entscheidung wurde in den
ersten Jahrzehnten der Unabhängigkeit in bemerkenswerter Weise
durchgehalten.
Der Ost-West-Konflikt mit seiner Rivalität der Groß-
und Supermächte um Einflusszonen trug wesentlich dazu bei, den
territorialen Status quo und damit die Grenzen in Afrika zu
konservieren. In der Regel waren Grenzfragen bei
zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen eher Auslöser oder
Vorwand, nie die eigentlichen Kriegsgründe. Häufig ging
es eher um Fragen regionaler Hegemonie, um die Schaffung von
Sicherheitszonen sowie um die gezielte Unterstützung von
Aufständischen im Nachbarland. So waren beim Krieg zwischen
Uganda und Tansania 1978/79 nicht Grenzprobleme maßgeblich,
sondern das Herrschaftssystem in Uganda unter Idi Amin.
Nach dem Ende des Kalten Krieges nehmen gewaltsame
Grenzkonflikte in Afrika auffallend zu. Nigeria und Kamerun
streiten etwa seit einigen Jahren zum Teil mit Waffen um die
öl- und fischreiche Bakassi-Halbinsel. Schlagzeilen
hierzulande machte auch der Grenzkrieg zwischen Eritrea und
Äthiopien. Allerdings sind viele afrikanische Staaten bereit,
bei Grenzstreitigkeiten den Internationalen Gerichtshof in Den Haag
anzurufen und sich dessen Rechtsprechung zu unterwerfen. Die meist
willkürlichen kolonialen Grenzen haben sicherlich politische
und wirtschaftliche Probleme geschaffen und neue regionale
Identitäten produziert. Doch nicht diese Grenzen, sondern die
Schwäche des postkolonialen Staates ist die Hauptursache
vieler gegenwärtiger Konflikte südlich der Sahara.
Andreas Eckert Der Autor ist Professor für die Geschichte
Afrikas an der Universität Hamburg.
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