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Constanze Hacke
Der Markt sucht seinen Rahmen
Dass Globalisierung totale Entgrenzung bedeutet,
gilt nur eingeschränkt
"Der vollkommen freie Handel: ein Paradies, in
dem der individuelle Vorteil mit dem allgemeinen Wohle des Ganzen
verbunden ist." Diese Aussage entstammt keiner Image-Broschüre
eines Wirtschaftsverbandes zum Thema Globalisierung, sondern den
Schriften eines Wirtschaftstheoretikers des späten 18.
Jahrhunderts. David Ricardo, englischer Bankier und
Nationalökonom, war überzeugt, dass es für das Wohl
der Menschheit das Beste sei, wenn jedes Land sich auf die
Herstellung der Güter spezialisiert, für die es den
vergleichsweise geringsten Arbeitsaufwand benötigt - und alle
anderen Güter im freien Handel erwirbt.
Frei nach dem Motto "Keiner kann alles"
sollte dadurch jeder erfahren, dass er den anderen braucht: Selbst
der Stärkste benötigt Handelspartner, und auch das
schwächste Glied in der Kette hat Stärken, mit denen es
im Handel aufwarten kann. In der berühmt gewordenen Theorie
der komparativen Kostenvorteile wollte Ricardo deutlich machen,
dass jeder vom freien Handel profitiert: Es ist nie ein
Nullsummenspiel; jeder kann auf seiner Seite stets ein Haben
verbuchen.
Soviel zur idealen Seite des freien Handels.
Die globalisierte Realität knapp 200 Jahre später sieht
anders aus: Der in der Theorie versprochene Wohlstand kommt nicht
allen gleichermaßen zugute. Im Gegenteil: Der Abstand zwischen
dem reichsten und dem ärmsten Fünftel aller Nationen hat
sich binnen dreißig Jahren mehr als verdoppelt. Mehr als die
Hälfte der Menschen lebt von weniger als zwei Euro pro Tag.
Ein Viertel der Weltbevölkerung ist vom Zugang zu sauberem
Trinkwasser ausgeschlossen. Die negativen Folgen der Globalisierung
machen nicht an den Grenzen der Industrieländer halt: Der
Konkurrenzdruck sorgt zwar für eine billige Warenvielfalt,
aber auch dafür, dass Arbeitsplätze gestrichen oder
verlagert werden. "Ein intensiver Handel erfordert einen
ständigen Strukturwandel: Einzelne Unternehmen und
Produktionszweige kommen durch Importe in Schwierigkeiten und
müssen sich umstellen oder den Betrieb ganz einstellen. Auf
der Arbeitnehmerseite sind vor allem die Geringqualifizierten
betroffen, weil sie einem verstärkten Wettbewerb mit
Geringqualifizierten aus anderen Ländern ausgesetzt werden",
erläutert Johann Eekhoff, Professor für
Wirtschaftspolitik an der Universität Köln. Der Faktor
Arbeit ist längst nicht so mobil wie der Faktor Kapital:
Arbeitnehmer und ihre Familien erleben die Gefährdung ihrer
Jobs und ihres Lebensunterhalts.
Sollte der englische Visionär Ricardo so
falsch gelegen haben? In der Tat ist zwar seit Jahrzehnten ein
hohes Wachstum des Welthandels zu beobachten, und wahrscheinlich
waren Volkswirtschaften noch nie so abhängig vom Welthandel
wie heute. Aber die Reichweite der internationalen
Handelsverflechtung ist nicht global im eigentlichen Wortsinne. Der
Wirtschafts- und Gesellschaftsethiker Friedhelm Hengsbach
beschreibt in seinen Schriften, dass ein Drittel des Welthandels im
Grunde genommen konzerninterner Handel ist. Allenfalls 30 Prozent
der Weltbevölkerung sei direkt in die Weltwirtschaft
integriert. Der Großteil des Welthandels spielt sich innerhalb
der großen Handelsblöcke EU, Nafta, Asean und Mercosur ab
- und fast ein Viertel allein innerhalb der Europäischen
Union. Beispiel Deutschland: Die Bundesrepublik wickelte im
vergangenen Jahr 75 Prozent ihres Exports in westliche
Industriestaaten ab. Der wichtigste Handelspartner sowohl beim Im-
als auch beim Export ist nach wie vor Frankreich. "Die
Weltwirtschaft wird durch die Existenz der regionalen Blöcke
strukturiert, was natürlich auch ein stabilisierendes Element
in sich trägt. So ist der EU-Binnenhandel - also über die
Hälfte unseres bisherigen Außenhandels - eigentlich kein
Außenhandel mehr; die außenwirtschaftliche
Abhängigkeit ist damit geringer geworden", argumentiert Henrik
Uterwedde, Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in
Ludwigsburg.
Es handelt also längst nicht jeder mit
jedem: Der Außenhandel zeigt einen Trend zur Regionalisierung.
Die Produktion trägt da schon eher globale Züge: So
wurden die Computerchips, die den Airbag eines Autos steuern, in
Boston erfunden und werden dort bis heute hergestellt. Getestet
werden die Chips jedoch auf den Philippinen, verpackt in Taiwan und
ins Fahrzeug installiert in einem deutschen Motorenwerk. Die
steigende internationale Arbeitsteilung ist nichts Schlechtes per
se. Im Gegenteil deckt sie sich doch mit der bereits von Ricardo
geforderten Spezialisierung. Aber die Globalisierung stellt bis zum
heutigen Tage eben nicht mehr als einen Flickenteppich dar: mit
Produktionsketten und Kapitalbewegungen über nationale Grenzen
hinweg - und mit jeder Menge Regulierungen, die im Grunde immer
noch protektionistische Ziele haben. So liegt das durchschnittliche
Zollniveau immer noch bei acht Prozent, in Entwicklungsländern
oft noch weit darüber. "Handel wird vor allem zwischen
Ländern betrieben, die viel produzieren und konsumieren. Umso
wichtiger ist es den Zugang der großen Märkte auch
für die Länder mit geringer Wirtschaftsleistung zu
verbessern. Ein Problem liegt vor allem darin, dass die 'reichen'
Länder den Markt für landwirtschaftliche Produkte nicht
ausreichend öffnen." Der Kölner Wirtschaftsprofessor
Eekhoff legt den Finger in eine der offenen Wunden der
Globalisierung: Agrarprodukte werden immer noch wesentlich
stärker tarifär geschützt als Industrieprodukte.
Entwicklungsländer sehen sich auf den
Industrieländermärkten aber auch generell einer deutlich
höheren Zollbelastung ausgesetzt - auch bei
Verarbeitungserzeugnissen. Vice versa schützen sie sich mit
über viermal höheren Industriegüter-Zöllen -
vor allem gegen die Exportbemühungen anderer
Entwicklungsstaaten.
Dazu kommt, dass die Zölle in vielen
Entwicklungsländern eine nicht zu unterschätzende
Einnahme darstellen. Oft sind Zölle die einzige sichere
Einnahmequelle in Staaten, in denen Steuersysteme nicht
funktionieren. Fallen auch diese Zolleinnahmen weg, besteht die
durchaus reale Gefahr, die Finanzierung des Verwaltungsapparats
durch Korruption sicherzustellen. Bereits heute fließen im
Zusammenhang mit internationalem Handel mindestens 100 Milliarden
US-Dollar in die Bestechung von öffentlichen Bediensteten,
schätzt die Organisation Transparency International. Und
Unternehmen, die sich international an korrupte Praktiken
gewöhnen, importieren dieses Problem in ihre
Heimatstaaten.
Zwar bemüht man sich vor allem in den
Verhandlungsrunden der Welthandelsorganisation WTO, Zoll als die
klassische Ausprägung des Protektionismus abzubauen. Andere
Regulierungen treten jedoch an diese Stelle:
Anti-Dumping-Verfahren, Visa-, Lande- und Lizenzgebühren,
Hafensteuern, technische Standards und zahlreiche
Handelspräferenzen zeigen einem freien Welthandel Grenzen auf.
Dienstleistungsanbietern aus dem Süden wird der Marktzugang
durch die subventionierten Konkurrenten aus dem Norden erschwert:
Sie können nicht mit Firmen konkurrieren, die durch
Exportförderprogramme und Ausfallbürgschaften
subventioniert werden. Im Schlussbericht der Enquete-Kommission des
Bundestags zur Globalisierung der Weltwirtschaft heißt es
dazu: "Die Öffnung der Märkte für ausländische
Dienstleistungen bringt spezifische ökonomische, soziale und
ökologische Risiken mit sich. Im Mittelpunkt stehen
Befürchtungen, den Einfluss auf bestimmte öffentliche
Versorgungsleistungen zu verlieren. Ferner bestehen starke
Vorbehalte hinsichtlich einer Liberalisierung der öffentlichen
Auftragsvergabe."
Selbst beim kleinsten bilateralen Nenner sind
wirtschaftliche Verflechtungen durch Vorurteile und
Fehleinschätzungen getrübt. In einer Studie des
Deutsch-Französischen Instituts und dem Commissariat
général du Plan kommen Experten beider Seiten zu dem
Schluss, dass selbst innerhalb der klein-globalen
deutsch-französischen Perspektive noch ein weiter Weg zu einem
supranationalen wirtschaftlichen Denken zu bewältigen ist.
"Frankreich gilt immer noch als protektionistisch, obwohl die
Internationalisierung der französischen Unternehmen und die
Öffnung ihrer Kapitalstruktur einen Wandel herbeigeführt
haben. Umgekehrt gilt Deutschland als Hort des 'rheinischen
Kapitalismus' mit dauerhaften Kapitalverflechtungen, während
die jüngsten Steuerreformen die bereits spürbaren
Veränderungen in diesem Beriech noch verstärken werden",
heißt es im Abschlussbericht der Reflexionsgruppe. Dabei sind
die Veränderungen auf beiden Seiten der Grenze in vollem
Gange: So spielt zwar der Zentralstaat in Frankreich weiterhin die
Hauptrolle, aber die Sozialpartner und die
Gebietskörperschaften gewinnen allmählich an Gewicht. Und
in Deutschland unterliegt die traditionell starke Selbstregulierung
durch mächtige Verbände einem Wandel, der mehr
Flexibilität in das System einziehen lässt.
Die Rahmenbedingungen einer globalisierten
Handelswelt ändern sich - oder vielmehr werden sie erst
geschaffen. Die WTO erfährt durch ihre lediglich mittelbare
demokratische Legitimation in den letzten Jahren steigende Skepsis
bis Ablehnung, die sich am sichtbarsten in Bewegungen wie Attac
manifestiert. Aber auch die Enquete-Kommission des Bundestages
forderte von der Welthandelsorganisation mehr Transparenz,
länderübergreifende Diskussionsforen und die Einbindung
von Nichtregierungsorganisationen. Die Gestaltung der
Globalisierung kann sich aber darauf nicht beschränken. Die
Internationalisierung der Märkte macht zumindest für die
Unternehmen die Grenzen durchlässig - mit der Folge
fortschreitender Unternehmensverflechtung und der Aufteilung
wichtiger Weltmärkte an einige wenige. Unternehmerische
Aktivitäten wachsen aus dem Geltungsbereich nationaler
Rechtsordnungen hinaus - und in rechtsfreie Räume hinein.
"Gemeinsame Grundsätze sollten vor allem bezüglich des
Wettbewerbs gesucht werden. Jedes Land hat die Aufgabe,
Monopolmacht von Unternehmen zu verhindern und auf diesem Gebiet
mit anderen Staaten zusammen zu arbeiten. Eine Industriepolitik,
die darauf abstellt, möglichst große nationale Konzerne
zu schmieden, ist weder für die eigene Wirtschaft noch
für die Weltwirtschaft auf Dauer von Vorteil", ist Johann
Eekhoff überzeugt.
Der globale Markt bedarf einer
politisch-rechtlichen Rahmensetzung - und bislang fehlt genau
dieser. Natürlich wird der Ruf nach Regulierung vor allem in
Krisenzeiten immer lauter. Aber es geht weder um staatliche
Intervention noch um wirtschaftliches Eingreifen durch
Protektionismus, denn ökonomische Grenzen sind dem Projekt
Entgrenzung zu Genüge gesetzt. Die Auswirkungen der
Globalisierung haben zu der Erkenntnis geführt, dass ohne
globale Spielregeln das Projekt nicht funktionieren kann.
Verhaltenskodizes für Unternehmen, weltweite soziale
Standards, die Schaffung einer möglicherweise globalen
Wirtschafts- und Sozialordnung erfordert nicht nur eine Vernetzung
der Akteure, sondern auch ein hohes Maß an Kreativität.
Denn die sozialen und regionalen Brüche, Polarisierungen und
Ungleichheiten können nicht durch ein protektionistisches
Rückdrehen an der globalisierten Welthandelsuhr geändert
werden. Es geht darum, einen globalen ordnungspolitischen Rahmen zu
schaffen, in dem Staaten, Wirtschaft und Zivilgesellschaft das
Projekt grenzenloser Freihandel miteinander gestalten
können.
Constanze Hacke arbeitet als freie
Wirtschaftsjournalistin in Köln.
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