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Martin Klesmann
Mischung aus Angst und Aufbruch
Grenzhandel im Wandel: Ein Besuch an Oder und
Neiße
Die Grenze an Oder und Neiße zwischen dem Bundesland
Brandenburg und Polen ist ein wunderlicher Ort. Diese 250 Kilometer
lange Linie mit ihren kaum mehr als zehn Übergängen ist
seit dem EU-Beitritt Polens keine Zollgrenze mehr: Die meisten
Waren können einfach passieren. Die Menschen beiderseits der
Grenze müssen aber immer noch ihre Pässe mitführen
und werden mitunter penibel kontrolliert. Und: Oder und Neiße
bilden immer noch eine Wohlstandsgrenze. Die Region ist
wirtschaftlich von Kleinbetrieben geprägt, die große
Angst vor den Folgen der EU-Osterweiterung haben. Auf der deutschen
Seite befürchten Firmeninhaber, dass die Polen gleichwertige
Ware billiger produzieren. Polnische Geschäftsleute haben
Sorge, den Arbeitsstandards und Umweltnormen aus Brüssel nicht
gerecht zu werden. Eine Reise in die Region zeigt die Hoffnungen
und Ängste der Menschen dort.
Erste Station: Gartz in der Uckermark. Hier öffnet sich die
Oder langsam hin zum Stettiner Haff. Und hier wohnen einige
Deutsche, die sich als Verlierer der EU-Erweiterung sehen. Silke
Kunath ist Betriebsleiterin der Adler-Reederei, die von Gartz aus
bisher Butterfahrten angeboten hat. Die Nachfrage war groß.
Doch nach dem EU-Beitritt Polens war Schluss mit dem zollfreien
Verkauf von Schnaps, Parfüm und Zigaretten auf den
Oderschiffen. Von den 39 deutschen und polnischen Mitarbeitern der
Reederei sind die meisten nun auf Arbeitssuche. Einer hat sich nun
bei der Wäscherei im polnischen Gryfino beworben. Dorthin wird
die schmutzige Wäsche aus Berliner Luxushotels gebracht und
erstaunlich preisgünstig gewaschen. Dann finden
Bettwäsche und Handtücher wieder ihren Weg zurück
ins Hotel Kempinski am Kudamm oder ins Hotel Adlon.
Ein paar Kilometer südlich von Gartz in der Stadt Schwedt
hoffen die Manager der Ölraffinerie PCK, vom Wegfall der
Zollgrenzen zu profitieren. Das PCK Schwedt ist einer der
größten Industriebetriebe Brandenburgs, bereitet
Erdöl für die Tankstellen auf und drängt nach dem
EU-Beitritt noch stärker auf den polnischen Markt. Dafür
soll nördlich von Schwedt eigens ein Grenzübergang
für Schwer- und Gefahrgutransporter entstehen. Doch genau das
will die polnische Verwaltung auf der anderen Oderseite verhin-
dern, schließlich gibt es auch in Polen Ölraffinerien.
Dem brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck
beschied der Woiwode (Ministerpräsident) von Westpommern bei
einem Besuch schroff, dass die polnische Seite einen
Grenzübergang dort nicht wünscht: "Kein wirtschaftlicher
Bedarf."
Zeitalter der Billigbasare ist fast vorbei
Ein weiteres Stück weiter südlich am
Grenzübergang Hohenwutzen sind die deutschen Billigtouristen
dafür besonders willkommmen. Denn gleich hinter der Grenze
liegt Osinow Dolny, das frühere Niederwutzen. Eine Ansammlung
von Häusern und Baracken, wo Händler Eier, Krakauer
Würste oder gefälschte Markenjeans anbieten, aber auch
Käse, Anglerbedarf oder Pornovideos aller Art. Ein Haarschnitt
kostet drei Euro. Der kleine, staubige Ort ist ein klassischer
polnischer Bazar. Hier kaufen vor allem Geringverdiener ein, und
das sind in Ostbrandenburg, aber auch im nahen Berlin nicht wenige
Menschen. Unter der Hand kann ein Kunde hier wohl auch
gefälschte Papiere oder eine Schusswaffe erwerben. Aber
eigentlich ist das Zeitalter der Billigbasare im deutsch-polnischen
Grenzraum vorbei. Denn das Wohlstandsgefälle ist nicht mehr so
krass wie noch vor ein paar Jahren. Die Deutschen gehen nun lieber
in den neu entstandenen Supermärkten in Polen einkaufen, die
häufig zum französischen Intermarché-Konsortium
gehören.
Jahrelang waren die Gewerbesteuereinnahmen der Billigbasare die
wichtigsten Steuereinnahmen grenznaher polnischer Kommunen. So
mancher, der hier reich geworden ist, sitzt mittlerweile in der
Kommunalverwaltung. In Osinow Dolny hat der Basar in Reinform
überlebt, weil in dem kleinen Dorf keine Supermärkte
entstanden. Unweit der Ortschaft befinden sich auch einige
Sauna-Clubs, wo Prostituierte auf deutsche Freier warten. Die
Frauen kommen inzwischen meist aus der Ukraine, Weißrussland
oder aus Bulgarien. Polnische Zeitungen berichteten jüngst,
dass auch in der Landwirtschaft bei der Spargelernte zunehmend
ukrainische Tagelöhner zum Einsatz kommen. Polen fahren lieber
über die Grenze und helfen bei der Spargelernte in
Deutschland, wo es mindestens dreimal so viel Geld zu verdienen
gibt.
Weiter südlich liegt Frankfurt (Oder) und auf der
Flussseite gegenüber die polnische Kleinstadt Slubice, einst
die Frankfurter Dammvorstadt. In Frankfurt (Oder) leben bereits
mehr als 500 Polen, meist allerdings nicht offiziell, sondern zur
Untermiete. Manche studieren an der Viadrina-Universität,
andere gehen schwarz arbeiten: auf dem Bau, als Putzfrau oder als
Installateur. Seit dem EU-Beitritt drängen verstärkt
polnische Händler und Dienstleister nach Frankfurt (Oder). Nur
polnische Bauunternehmen und Gebäudereiniger dürfen ihre
Dienst noch nicht in Deutschland anbieten. Das ist vertraglich
festgeschrieben, weil hier die Gefahr des Lohndumpings am
größten ist.
Handkuss beim Verhandeln erlaubt
Aber der Bäckermeister aus Slubice kann über die
Grenze fahren und seine Brötchen in Frankfurt (Oder)
verkaufen. Der deutsche Bäckermeister Günter
Baumgärtel überlegt derweil laut, ob er seine Backstube
nicht nach Polen verlagern soll, um Geld zu sparen. Die finanziell
klamme Stadtverwaltung prüft insgeheim, ob der städtische
Fuhrpark nicht wesentlich preiswerter von einem polnischen
Kfz-Betrieb gewartet werden könnte. Und die Frankfurter gehen
längst in Slubice zum Frisör, zum Fleischer oder abends
in das orientalisch angehauchte Restaurant Ramzez, wo es neben
polnischen Pirogi auch die gut belegte Pizza für drei Euro
gibt. Der Leiter des Collegium Polonicum in Slubice, Krzysztof
Wojciechowski, hat für die Industrie- und Handelskammer in
Frankfurt (Oder) einen "Polen-Knigge für deutsche Unternehmer"
erarbeitet. Darin gibt er tabulose Tipps, damit die
deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen nicht an
Missverständnissen scheitern: So darf man der polnischen
Geschäftsfrau ruhig mal einen Handkuss geben.
In der einstigen Hutmacher-Stadt Guben, südlich von
Frankfurt (Oder) an der Neiße gelegen, geht der
Bürgermeister Klaus-Dieter Hübner gegen aus seiner Sicht
unsinnige Staatsverträge vor: Polen sollen erst in sieben
Jahren regulär in Deutschland arbeiten dürfen. Solange
ist ihre Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeschränkt,
angeblich um den deutschen Arbeitsmarkt zu schützen.
Hübner sieht das anders: Er hat Anfragen von italienischen
Schuhfabrikanten und Textilfirmen aus Fernost, ob es nicht
möglich wäre, billige polnische Arbeiter in neuen
Fabriken im deutschen Guben zu beschäftigen. "Die Veredelung
der Produkte würden dann deutsche Fachkräfte leisten",
sagt Hübner. "Eine solche Mischung wäre ein echter
Standortvorteil für unsere arme Region." Doch eine
Sondergenehmigung, wie sie mehrere Bürgermeister fordern, will
Berlin bisher nicht erteilen. Das bedauern auch die Stadtoberen in
Gubin am anderen Neißeufer.
Auf polnischer Seite gibt es Pensionen, die Menschen aufnehmen,
die weiter nach Deutschland fliehen wolllen. Der Menschenschmuggel
ist hier ein einträgliches Geschäft, die Schleuserbanden
sind gut organisiert. Die Warschauer Wirtschaftswissenschaftlerin
Marzenna Guz-Vetter schätzt, dass im Grenzgebiet fast jeder
fünfte Bewohner seine Existenz durch illegale Tätigkeiten
sichert. Dazu gehören der Schmuggel von Autos und Zigaretten.
Hinzu kommen illegale Kleinbetriebe, die sich auf das Fälschen
von Autokennzeichen, das Montieren versteckter Behälter
für Schmuggelware oder das Umlackieren von Autos spezialisiert
haben. Junge Menschen, die im Grenzland ohnehin nur schwer Arbeit
finden können, geraten leicht in dieses Schmugglermilieu
hinein.
Doch polnischer Geschäftssinn bahnt sich meist auf legale
Weise seinen Weg: So hat der Unternehmer Adam Boronowski aus Posen
in jüngster Zeit 14 Tankstellen direkt hinter
deutsch-polnischen Grenzübergängen bauen lassen. Dort
fahren die Deutschen nun tanken und sparen pro Liter rund 30 Cent.
Damit die deutschen Kunden Vertrauen fassen, hat Boronowski sogar
deutsche Kassierer angestellt. Einer von ihnen ist der
44-jährige Tassilo Schlicht aus Forst in der Lausitz, der so
nach jahrelanger Arbeitslosigkeit wieder einen Job gefunden hat -
als einer der ersten deutschen Gastarbeiter in Polen, zwei
Kilometer von seiner Forster Wohnung entfernt. Martin Klesmann
Der Autor ist Reporter der "Berliner Zeitung".
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