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Rüdiger Maack
Gegen die Mauern
Europa - der Traum vieler Marokkaner
Wer wissen will, ob es die "Festung Europa"
gibt, der schaue sich Ceuta an. Oder Melilla. Die beiden
Kleinstädte auf nordafrikanischem Territorium sind seit
Jahrhunderten in spanischem Besitz, und von beiden will sich
Spanien nicht trennen. Nirgendwo sonst sind sich Europa und Afrika
so nah: ein paar Quadratkilometer Europa auf afrikanischem Boden.
Nirgendwo sonst wird der Begriff "Festung Europa" so anschaulich.
Ceuta liegt an einer Seite am Mittelmeer - und wird an drei Seiten
von einem Niemandsland umgeben, das aussieht, als habe man die
frühere Grenze zwischen der alten Bundesrepublik und der DDR
einfach im Süden wieder aufgebaut. Ohne Selbstschussanlagen,
immerhin.
Mehr als 20 Wachttürme, etliche Kameras,
hunderte Scheinwerfer, Wärmemelder, Infrarotgeräte, ein
hoher doppelter Zaun, dazwischen genügend Raum für
Patrouillengänge. Er schlängelt sich über nackte
Felsen und halbgrüne Hügel bis hin zum einzigen
Grenzübergang. Mit Europas teuerstem Zaun, wie es Spötter
nennen, schottet sich Spanien gegen die vermeintliche Flut von
Marokkanern und Angehörigen praktisch aller anderen
afrikanischen Nationalitäten ab, die Ceuta zu überrennen
droht.
Abderrazak versucht, die Festung zu nehmen.
Seit fünf Jahren schon. Aber nicht so wie seine Freunde, die
sich in Kühlräumen einschließen oder unter
Fahrgestelle von Lastwagenanhängern klammern und hoffen,
irgendwie unerkannt durch den Freihafen von Tanger oder die Grenze
nach Ceuta aufs Europäische Festland zu kommen. Der
26-Jährige wohnt in Salé, genauer gesagt: mit drei
Brüdern und sechs Schwestern in einem Häuschen in einem
der euphemistisch "quartiers populaires" genannten Wohnvierteln,
die sich nur in Nuancen von den "bidonvilles", den
"Müllstädten", wie man Slums in West- und Nordafrika
nennt, unterscheiden.
Salé ist die hässlichere,
mittelerweile aber wohl größere Schwester der
marokkanischen Hauptstadt Rabat. Und aus drei Gründen bekannt:
im Mittelalter war die Stadt ein Piratennest, in dem Seeräuber
Zuflucht fanden. Heute beherbergt Salé Marokkos modernstes
Gefängnis und ist eine Hochburg der hiesigen Islamisten. Von
hier kommt einer der Anführer der Gruppe, die angeblich
vergangenes Jahr in Casablanca jugendliche
Selbstmordattentäter Anschläge verüben ließ.
Bilanz: über 40 Tote. Der Mann predigte in einer Moschee nahe
der Altstadt.
Abderrazak hat mit diesen Leuten nichts
gemein. Er trägt Jeans und T-Shirt. Wenn er ein paar Dirhams
übrig hat, geht er ins Fitnessstudio, um seinen kleinen Bauch
wegzutrainieren, der auf Bier- und Weingenuss schließen
lässt, und seinen gestutzten Bart lässt er sich alle paar
Wochen vom Barbier in neue Muster schneiden. Es kommt allerdings
immer seltener vor, dass Abderrazak die Dirhams fürs
Fitnessstudio übrig hat. In einem Handwerkszentrum hat er seit
seinem neunten Lebensjahr Rohre für Rattanmöbel
geflochten. Doch seit ein paar Jahren ist in Marokko Schmiedeeisen
populär geworden; kaum jemand will noch Rattanmöbel
haben. Seitdem ist Abderrazak arbeitslos. Jetzt geht er immer
öfters zum Strand, schaut übers Meer - da, wo Europa
liegen muss - und schweigt.
Seinen ersten Versuch, ins gesegnete Land zu
kommen, hat er vor fünf Jahren gestartet. Mit gefälschtem
Arbeitsvertrag, gefälschtem Visum und gefälschtem Namen
hat er sich nach Italien aufgemacht. Drei Monate später war er
wieder da. Er hatte sich in einer Kneipe mit einem Polizisten
angelegt. Das war ein Fehler. Erst haben sie ihn verprügelt,
dann haben sie ihn wieder heimgeschickt.
Abderrazaks Weg nach Europa führt
derzeit erst einmal durch Betten: zur Zeit hat er eine deutsche
Freundin, also steht Deutschland im Moment ganz weit oben. Dass die
Damen alle älter sind als er, dass sie nicht wirklich das
sind, was man attraktive Frauen nennt, ist ihm egal. Hauptsache
Europa. Die Festung will er jetzt im Schlaf
stürmen.
Aderrazak weiß, dass ihn in Deutschland
keiner will. Und in Frankreich auch nicht. Genausowenig wie in
Spanien oder Italien. Aber er weiß auch, dass ihn in Marokko
niemand will. Alles, was er will, ist, genug Geld zu verdienen
für sich und für seine Familie. Das Haus bräuchte
endlich mal ein Dach, durch das es nicht jeden Winter durchregnet;
der Vater vegetiert in einer Ecke des Wohnzimmers auf dem
Fußboden blind und zuckerkrank seinem Tod entgegen; die Mutter
ist auch krank und bräuchte Behandlung. Als er noch Arbeit
hatte, ging es noch; zwei Schwestern haben was verdient, zwei
Brüder auch, doch die Teppichknüpferei, in der die
Schwestern tätig waren, hat zugemacht, und jetzt fehlt es an
allen Ecken und Enden. Und in Europa, da ist er sich ganz sicher,
da kann man was werden, wenn man bereit ist, hart zu arbeiten. Er
war ja schließlich schon mal da.
"Schau, der da hinten!" Abderrazak sitzt am
Strand und deutet auf einen Jungen in der Menge. "Das ist Mohammed.
Der kommt auch von hier. Aber jetzt lebt er in Frankreich und
fährt ein gutes Auto und verdient viel Geld." Der Junge, auf
den er deutet, ist vielleicht 18 oder 19 Jahre alt. "3.000 Euro im
Monat!" "Was macht er denn, Dein Freund?" "Er arbeitet in einem
Hotel." Und verdient 3.000 Euro? Ja, da ist sich Abderrazak ganz
sicher. Und außerdem: fährt er nicht einen Opel, neuestes
Modell?! Das "neueste Modell" entpuppt sich als nicht mehr ganz
taufrischer Tigra. Dessen Produktion wurde vor vier Jahren
eingestellt.
Abderrazak träumt, und in seinem Traum
gibt es keine Festung Europa. So wie er träumen Millionen
seiner Landsleute. Vor ein paar Jahren hat Marokkos Regierung eine
Meinungsumfrage erstellen lassen. Auf die Frage, ob sie ihr Land
verlassen könnten, wenn sie wollten, haben mehr als 80 Prozent
der unter 27-Jährigen mit "Ja" geantwortet. Seitdem hat die
Regierung keine Meinungsumfrage mehr
veröffentlicht.
"Wir brauchen einen Marshallplan von Europa
für die südlichen Anrainerstaaten - und besonders
für Marokko." So sieht das Hiberto Malainine. "Marokko hat
große Anstrengungen unternommen, hat sich geöffnet,
Marokko wird ein demokratisches Land, es braucht Hilfe auf dem Weg
in die Demokratie." Der soignierte Herr in den Fünzigern ist
Präsident des ma-rokkanischen Fischereiverbandes, und sein
Amtssitz ist eine gediegene ältere Villa in Rabats schickstem
Stadtteil Souissi. Hier wiegt sich der Wind sanft in den
Bäumen, rot und gelb und blau strahlen die Blumen in den
gepflegten Rabatten um die Wette. Weiter weg als von Abderrazaks
Salé kann man kaum sein. "Mit der Polizei der gesamten Welt
werden Sie nicht Leute aufhalten, die Hunger haben und in eine
Gegend wollen, wo sie ein besseres Leben erhoffen."
Malaininie drückt das aus, was viele
marokkanischen Intellektuelle, ob links ob rechts, ob in der
Regierung oder der Opposition, denken: Sie fühlen sich allein
gelassen von Europa, das seine Grenzen schließt. Vor allem,
weil sie es selbst in ihrer Jugend noch ganz anders erlebt haben.
Fast die gesamte Elite des Landes hat in Frankreich, Spanien oder
den USA gelebt oder studiert oder die Länder zumindest
bereist. Ihre Söhne und Töchter können das nicht
mehr. Die Türen für viele sind zu. Das hinterlässt
Bitterkeit bei vielen. Visum oder nicht Visum, das kann
Lebens-läufe entscheiden - oder zumindest die Stimmung
wochenlang in der Familie drücken, wenn es mal wieder nicht
geklappt hat mit den Deutschen oder die Beziehungen ins
französische oder spanische Konsulat doch nicht so gut waren,
wie man dachte.
Schlimmer noch: Europa schließt seine
Grenzen Richtung Süden, aber nach Osten, da öffnet sich
der Kontinent scheinbar. Polen, Slowenen, Esten: Wegen ihnen, davon
sind viele Entscheidungsträger in Marokko überzeugt,
müssen sie leiden. "Wie wollen Sie die Emigration nach Europa
aufhalten," sagt Malainine und gestikuliert leidenschaftlich, "wenn
Europa uns nicht hilft? Die Lösung der Emigration liegt nicht
im Polizeibereich, sondern im sozialen Bereich. Wir versuchen
alles, um hier Fabriken anzusiedeln, aber dabei muss uns Europa
helfen." Europäer hingegen sagen unter der Hand weniger
freundliche Dinge: Warum sollen wir in Marokko investieren, wenn
die potenziellen marokkanischen Investoren zwar unser Geld wollen,
ihr eigenes aber lieber ins Ausland bringen, statt ihr Land
aufzubauen?
"Wir sind integraler Bestandteil des
strategischen und wirtschaftlichen Großraums Europa, ob Europa
das nun will oder nicht", glaubt der Lobbyist der Fischindustrie,
einer der wichtigsten Wirtschaftszweige in Marokko. "Wir brauchen
ein Sofortprogramm, damit Arbeitsplätze geschaffen werden
können." Das Sofortprogramm ist nicht in Sicht, doch nicht nur
Verbandsführer wünschen es sich - auch die marokkanische
Regierung glaubt: auf den Marshallplan haben wir einen Anspruch.
Der Druck, den vor allem Spanien auf Marokko ausübt, endlich
seine Außengrenzen besser zu überwachen, erzeugt trotzige
Reaktionen: "Wenn Ihr wollt, dass wir unsere Grenzen dichtmachen,
dann müsst Ihr unseren Leuten eine geregelte Immigration
ermöglichen." Diese Haltung kommt nicht überraschend: Je
mehr Menschen emigieren, umso besser geht es Marokko. Kein
afrikanisches Land erhält soviel Devisen von seinen
Emigranten, und für den desolaten marokkanischen Arbeitsmarkt,
auf den jährlich zigtausende Jugendliche drängen und
nichts finden, ist jeder Kandidat weniger ein Gewinn.
So bewegt sich Marokkos Politik auch nur
millimeterweise. Seit Anfang dieses Jahres gehen an der
Mittelmeerküste zwischen Tanger und der spanischen Enklave
Ceuta marokkanische und spanische Grenzpolizisten gemeinsam auf
Patrouille. Schlepperei ist mittlerweile ein Straftatsbestand.
Allerdings, so erklärte Innenminister Al Mustapha Sahel,
gleich, nachdem er die neuen Gesetze verkündet hat: Man
könne trotz des Kampfes gegen die illegale Emigration nicht
verkennen, "dass die Länder nördlich des Mittelmeeres
einen Rahmen bieten müssen, damit Menschen legal emigrieren
können. Sie müssen den Menschen Hoffnung geben, die auf
einem legalen Weg nach Europa gehen wollen, um dort zu
arbeiten."
Dass das irgendwann in den nächsten
Jahren geschieht, ist nicht zu erwarten. So wird Abderrazak weiter
hoffen müssen, dass eine der Damen ihn erhört - Heirat
ist schließlich der einzig sichere Weg, die Festung Europa zu
stürmen.
Rüdiger Maack ist
ARD-Hörfunk-Korrespondent in Rabat.
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