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Peter Weber
Mittelmeer als Brücke nach Europa
Italiens Grenzen sind besonders schwer zu
kontrollieren
222 Menschen auf einem gerade 15 Meter langen Holzboot, darunter
eine 26-jährige Frau, die gerade ein Kind zur Welt gebracht
hatte. An einem ganz normalen Sonntag Ende Juni in der Straße
von Sizilien kündigt sich so für die Männer der
italienischen Küstenwacht der Beginn der heißen
Jahreszeit an: Die Ankunft der Flüchtlingsboote aus Afrika,
die sie in den nächsten Monaten immer wieder in Alarm
versetzen wird. Für das völlig überfüllte, kaum
seetüchtige Boot kam die Rettung in letzter Minute, doch
für die Geretteten bedeutet sie noch kein Happy End. Nach
allen überstandenen Gefahren droht die Abschiebung durch die
italienischen Behörden, das Ende aller Hoffnungen auf ein
besseres Leben in Europa.
Die Chancen der Flüchtlinge gründen sich damit vor
allem auf die rechtsstaatlichen Garantien der Zielstaaten. Doch
dieses Recht befindet sich in einer Phase heftiger Evolution. Um
einen völkerrechtlichen Präzedenzfall zu vermeiden,
schoben sich Anfang Juli Deutschland, Italien und Malta gegenseitig
die Verantwortung für 37 von dem deutschen Rettungsschiff Cap
Anamur aufgenommene, angebliche Sudanesen zu, die erst nach einem
dreiwöchigen diplomatischen Tauziehen in Sizilien an Land
gelassen wurden. Während die Verantwortlichen der Cap Anamur
wegen Begünstigung illegaler Einwanderung vorübergehend
inhaftiert wurden, haben die aus Nigeria und Ghana stammenden
Flüchtlinge Asylanträge eingereicht, denen aber nur
geringe Chancen eingeräumt werden.
Im Kampf gegen illegale Einwanderung ist Italien aufgrund seiner
geographischen Lage und seiner langen Küsten seit jeher eines
der am stärksten exponierten Länder. So war es kein
Zufall, dass gerade Italien die Bilder des mit 20.000 Albaniern
völlig überfüllten Flüchtlingsschiffs Vlora im
Hafen von Bari lieferte, mit denen im August 1991 das neue
Migrationsproblem an den Grenzen Europas erstmals ins allgemeine
Bewusstsein drang. Eine der Reaktionen der EU war der Vertrag von
Schengen, der im Innern der Union die Grenzen durchlässiger
machte, dafür aber an den Außengrenzen schärfere
Kontrollen vorsah.
Einige der größten Tragödien spielten sich
seitdem vor den Küsten Italiens ab, für deren
Dokumentation in der Regel jedoch keine Kameras mehr bereit
standen. Der Untergang der F 174, die am 26. Dezember 1996 zwischen
Malta und Sizilien von einem anderen Flüchtlingsschiff namens
Yohan gerammt wurde und 283 Tamilen, Inder und Pakistani in ihrem
Bauch mit auf den Grund nahm, wurde lange von der
Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Erst die Aussagen der 29 in
Griechenland an Land gesetzten Überlebenden brachten die
Wahrheit ans Licht. Dass es sich mitunter um eine regelrechte
Abwehrschlacht gegen eine unerwünschte Invasion handelte,
bewies am 28. März 1997 die italienische Korvette Sibilla, die
vor Brindisi das zum Flüchtlingsschiff umfunktionierte
Minensuchboot Kater I Rades rammte, das innerhalb weniger Minuten
sank und rund 100 Albanier mit in die Tiefe zog. Zwar wurde in
beiden Fällen inzwischen ein Verfahren eingeleitet, doch der
bisherige Prozessverlauf macht den Angehörigen wenig
Hoffnungen auf eine gerechte Bestrafung der Verantwortlichen.
Die Anteilnahme der Öffentlichkeit ist ebenfalls begrenzt.
Die Ankunft der ersten Boote Ende Juni des laufenden Jahres war
manchen italienischen Zeitungen nicht einmal eine Notiz auf Seite
20 wert. Der Beweis, dass das Problem keineswegs der Vergangenheit
angehört, wurde innerhalb weniger Tage von gleich drei
Schiffen angetreten, von denen zwei mit 333 und 171
Flüchtlingen immerhin aus eigener Kraft den Strand der Insel
Lampedusa erreichten.
Steigende Flüchtlingszahlen in Sizilien
Dennoch ist unübersehbar, dass sich in den vergangenen
Jahren einiges geändert hat, sowohl im Schleuserhandwerk als
auch im Abwehrkampf der Behörden. Bis Ende der 90er-Jahre war
die apulische Küste das beliebteste Ziel der
Flüchtlingsschiffe, die meist vom Balkan kamen und dafür
die relativ ungefährliche Überfahrt über die Adria
wählten. Ihren Gipfel erreichte die Flüchtlingswelle
1999, dem Jahr des Kosovo-Konflikts, als an den Küsten
Apuliens, Kalabriens und Siziliens 49.999 Ankünfte
dokumentiert wurden. Bis 2002 ging diese Zahl um mehr als die
Hälfte zurück. Allerdings weisen die Küsten
Siziliens eine deutliche Gegentendenz aufwiesen: Dort schnellten wo
die Ankünfte von 1.973 auf 18.225 in die Höhe.
Die Stabilisierung der Balkanregion, eine Reihe von bilateralen
Verträgen (besonders wichtig mit Albanien) und die
technologische Aufrüstung der Marinepatrouillen haben den
Druck auf die apulische Küste merklich reduziert. Statt aus
den Krisenherden des Balkans kommen die Schleuserschiffe heute vor
allem aus der Türkei, dem Libanon, Syrien, Libyen und
Tunesien, und sie landen ihre Fracht vorwiegend an der
Ostküste Siziliens an, sowie auf den Inseln Lampedusa und
Pantelleria. Malta wurde bisher als Umschlagplatz genutzt, muss
sich nach dem EU-Beitritt vermutlich aber auch bald auf eine
veränderte Rolle als Zielhafen einstellen. Die Schleuser
selbst stammen ebenfalls zum größten Teil aus den
genannten Ländern und aus Albanien; die organisierte
Kriminalität Italiens spielt nur noch eine Nebenrolle. Dank
der Aufrüstung der Küstenwacht mit neuen wirksameren
Radaranlagen und Nachtsichtgeräten sowie neuen
Kommandoleitzentralen zur Videoüberwachung aus der Luft sehen
sich die neuen Schleuserorganisationen heute einem deutlich
zunehmenden Unternehmensrisiko ausgesetzt.
Der jüngste Trend zielt deshalb darauf, die schwierige
Überfahrt über das Mittelmeer ganz zu umgehen. Nach
Beobachtung des Kriminologischen Instituts der Universität
Mailand kommen die neuen Flüchtlinge zunehmend auf dem Luftweg
nach Italien, insbesondere aus China, Bangladesh und anderen
Ländern des Fernen Ostens. Als Touristen getarnt, fallen diese
illegalen Einwanderer an den Flughäfen kaum auf; einmal im
Land können sie meist auf Unterstützung durch bereits
eingewanderte Landsleute rechnen.
An erster Stelle unter den aufgefassten Flüchtlingen in
Italien standen 2002 die Iraker, deren Anteil 17,2 Prozent betrug,
gefolgt von Singhalesen und Tamilen (12,3 Prozent), Liberianern
(zehn Prozent), Marokkanern (8,7 Prozent) und Kurden aus dem Irak
(7,3 Prozent). In den Jahren 1996 bis 2001 hatte dagegen nach einer
Übersicht des Forschungszentrums Transcrime der
Universität Trient noch Marokko mit 21.120 illegalen
Neuankömmlingen an erster Stelle unter den
Herkunftsländern gestanden, gefolgt von Tunesien (16.920),
Albanien (10.320), Rumänien (10.240) und der Türkei
(6.320).
Italien als Durchgangsstation
Manche dieser Flüchtlinge, vor allem aus der Türkei
und dem Mittleren Osten, nutzen Italien auch als Durchgangsstation
in andere Länder der Union. Viele finden ihr Auskommen aber in
Italien, wo zum Beispiel fliegende Händler aus Marokko,
Tunesien und Schwarzafrika seit den 70er-Jahren an den
Stränden geduldet werden und inzwischen längst zum
Stadtbild gehören. Auch in der Landwirtschaft des Mezzogiorno
sind Saisonarbeiter aus Albanien und Afrika seit langem
unverzichtbar geworden.
Aufgrund der negativen demographischen Entwicklung ist Italien
heute auch zunehmend auf den Beitrag der ausländischen
Mitbürger angewiesen, um seine Bevölkerung, seine
Wirtschaftskraft und die finanziellen Grundlagen seiner sozialen
Sicherungssysteme zu erhalten. Nach amtlichen Statistiken leben
heute ungefähr 2,5 Millionen Ausländer regulär in
Italien, an erster Stelle Rumänen, Marokkaner und Albanier mit
jeweils etwa 250.000, gefolgt von circa 120.000 Ukrainern. Die
Regularisierung illegaler Einwanderer erfolgt traditionell durch
Amnestiegesetze, die in unregelmäßigen Abständen
verabschiedet werden, in den vergangenen 20 Jahren immerhin
fünf an der Zahl.
Das letzte dieser Gesetze wurde nach Antritt der Regierung
Berlusconi im Jahre 2002 beschlossen und trägt zu Ehren der
beiden am heftigsten gegen die Immigranten wetternden
Koalitionspartner den Namen "Legge Bossi-Fini". Nach der Intention
von Lega-Chef Bossi sollte es eine neue Linie einführen, mit
der nur noch der Immigrant akzeptiert würde, der eine
Arbeitsstelle vorweisen kann. Tatsächlich erhielten mit dem
Gesetz insgesamt 697.000 Ausländer, darunter 340.000
Haushaltshilfen und 357.000 anderweitig Beschäftigte, eine
reguläre Aufenthaltserlaubnis. Ministerpräsident Silvio
Berlusconi (Forza Italia) unterstrich, dass mit dieser Operation
330 Millionen Euro in die Kassen der Rentenversicherung
flossen.
Die andere Seite der Medaille sollte nach den Worten von
Vizepremier Gianfranco Fini (Nationale Allianz) ein nunmehr
rigoroses Vorgehen gegen die illegalen Einwanderer einläuten.
Herzstück des Gesetzes ist der Artikel 13, der den Tatbestand
der illegalen Einwanderung im Wiederholungsfall mit Gefängnis
zwischen einem und vier Jahren bedroht. Ausländer, die einen
Ausweisungsbefehl missachtet haben, werden in jedem Fall von der
Polizei verhaftet und am nächsten Morgen dem Richter
vorgeführt, der sie theoretisch im Schnellverfahren aburteilen
soll. Dummerweise übergeht dieses Verfahren aber in
unzulässiger Weise die Rechte des Angeklagten, und in
korrekter Rechtsanwendung sind die Richter deshalb gezwungen, die
Verhafteten wieder auf freien Fuß zu setzen. Einem enormen
Verwaltungsaufwand mit Kosten in jedem Einzelfall zwischen 2.000
und 3.000 Euro steht daher nur ein minimales Ergebnis
gegenüber. In Mailand wurden seit Inkrafttreten des Gesetzes
2.221 Ausländer verhaftet, von denen letztlich nur 15 hinter
Gitter kamen, ein Resultat, das im krassen Gegensatz zu den
Erwartungen der Befürworter des Gesetzes steht.
Endgültig gekippt wurde dieses Verfahren nun Mitte Juli
durch das Verfassungsgericht, das die zwei einschlägigen
Gesetzartikel für verfassungswidrig erklärte. Bereits im
April hatten die Verfassungsrichter auch das bisher gültige
verkürzte Ausweisungsverfahren mit umgehender
Zwangsexpatriation ausgesetzt. Die Regierung studiert nun die
Möglichkeiten, um per Dekret gegenzusteuern. Doch während
die Politiker der Koalition noch über neue Maßnahmen
diskutieren, um unerwünschte Ausländer fernzuhalten,
macht die Zeitung "Corriere della Sera" auf ein geradezu
umgekehrtes Problem aufmerksam, das bisher auf keiner Tagesordnung
stand: angesichts der massiven Abwanderung des akademischen
Nachwuchses ins Ausland wird es für Italien zunehmend wichtig,
brillante Forscher und Führungskräfte ins Land zu locken.
Bislang macht das italienische Recht keine Unterschiede und
behandelt hochqualifizierte Hoffnungsträger genau so wie
ungelernte Boat People vor Lampedusa.
Wegen seiner exponierten Lage am Südrand der "Festung
Europa" ist Italien mehr als andere Länder auf gute
Beziehungen mit den islamischen Staaten Nordafrikas und des
Mittleren Ostens angewiesen. Dies war auch die traditionelle
Position der italienischen Außenpolitik von Giulio Andreotti
bis Romano Prodi, die in der arabischen Welt sehr geschätzt
war. Die Regierung Berlusconi hat diese Prioritäten zeitweilig
hintan gestellt, seit sie sich ins Fahrwasser der amerikanischen
Irak-Politik begeben hat. Peter Weber Der Autor ist
Sozialwissenschaftler und Historiker an der Universität
Pisa.
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