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Das Parlament
Nr. 31-32 / 26.07.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Peter Weber

Mittelmeer als Brücke nach Europa

Italiens Grenzen sind besonders schwer zu kontrollieren

222 Menschen auf einem gerade 15 Meter langen Holzboot, darunter eine 26-jährige Frau, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hatte. An einem ganz normalen Sonntag Ende Juni in der Straße von Sizilien kündigt sich so für die Männer der italienischen Küstenwacht der Beginn der heißen Jahreszeit an: Die Ankunft der Flüchtlingsboote aus Afrika, die sie in den nächsten Monaten immer wieder in Alarm versetzen wird. Für das völlig überfüllte, kaum seetüchtige Boot kam die Rettung in letzter Minute, doch für die Geretteten bedeutet sie noch kein Happy End. Nach allen überstandenen Gefahren droht die Abschiebung durch die italienischen Behörden, das Ende aller Hoffnungen auf ein besseres Leben in Europa.

Die Chancen der Flüchtlinge gründen sich damit vor allem auf die rechtsstaatlichen Garantien der Zielstaaten. Doch dieses Recht befindet sich in einer Phase heftiger Evolution. Um einen völkerrechtlichen Präzedenzfall zu vermeiden, schoben sich Anfang Juli Deutschland, Italien und Malta gegenseitig die Verantwortung für 37 von dem deutschen Rettungsschiff Cap Anamur aufgenommene, angebliche Sudanesen zu, die erst nach einem dreiwöchigen diplomatischen Tauziehen in Sizilien an Land gelassen wurden. Während die Verantwortlichen der Cap Anamur wegen Begünstigung illegaler Einwanderung vorübergehend inhaftiert wurden, haben die aus Nigeria und Ghana stammenden Flüchtlinge Asylanträge eingereicht, denen aber nur geringe Chancen eingeräumt werden.

Im Kampf gegen illegale Einwanderung ist Italien aufgrund seiner geographischen Lage und seiner langen Küsten seit jeher eines der am stärksten exponierten Länder. So war es kein Zufall, dass gerade Italien die Bilder des mit 20.000 Albaniern völlig überfüllten Flüchtlingsschiffs Vlora im Hafen von Bari lieferte, mit denen im August 1991 das neue Migrationsproblem an den Grenzen Europas erstmals ins allgemeine Bewusstsein drang. Eine der Reaktionen der EU war der Vertrag von Schengen, der im Innern der Union die Grenzen durchlässiger machte, dafür aber an den Außengrenzen schärfere Kontrollen vorsah.

Einige der größten Tragödien spielten sich seitdem vor den Küsten Italiens ab, für deren Dokumentation in der Regel jedoch keine Kameras mehr bereit standen. Der Untergang der F 174, die am 26. Dezember 1996 zwischen Malta und Sizilien von einem anderen Flüchtlingsschiff namens Yohan gerammt wurde und 283 Tamilen, Inder und Pakistani in ihrem Bauch mit auf den Grund nahm, wurde lange von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Erst die Aussagen der 29 in Griechenland an Land gesetzten Überlebenden brachten die Wahrheit ans Licht. Dass es sich mitunter um eine regelrechte Abwehrschlacht gegen eine unerwünschte Invasion handelte, bewies am 28. März 1997 die italienische Korvette Sibilla, die vor Brindisi das zum Flüchtlingsschiff umfunktionierte Minensuchboot Kater I Rades rammte, das innerhalb weniger Minuten sank und rund 100 Albanier mit in die Tiefe zog. Zwar wurde in beiden Fällen inzwischen ein Verfahren eingeleitet, doch der bisherige Prozessverlauf macht den Angehörigen wenig Hoffnungen auf eine gerechte Bestrafung der Verantwortlichen.

Die Anteilnahme der Öffentlichkeit ist ebenfalls begrenzt. Die Ankunft der ersten Boote Ende Juni des laufenden Jahres war manchen italienischen Zeitungen nicht einmal eine Notiz auf Seite 20 wert. Der Beweis, dass das Problem keineswegs der Vergangenheit angehört, wurde innerhalb weniger Tage von gleich drei Schiffen angetreten, von denen zwei mit 333 und 171 Flüchtlingen immerhin aus eigener Kraft den Strand der Insel Lampedusa erreichten.

Steigende Flüchtlingszahlen in Sizilien

Dennoch ist unübersehbar, dass sich in den vergangenen Jahren einiges geändert hat, sowohl im Schleuserhandwerk als auch im Abwehrkampf der Behörden. Bis Ende der 90er-Jahre war die apulische Küste das beliebteste Ziel der Flüchtlingsschiffe, die meist vom Balkan kamen und dafür die relativ ungefährliche Überfahrt über die Adria wählten. Ihren Gipfel erreichte die Flüchtlingswelle 1999, dem Jahr des Kosovo-Konflikts, als an den Küsten Apuliens, Kalabriens und Siziliens 49.999 Ankünfte dokumentiert wurden. Bis 2002 ging diese Zahl um mehr als die Hälfte zurück. Allerdings weisen die Küsten Siziliens eine deutliche Gegentendenz aufwiesen: Dort schnellten wo die Ankünfte von 1.973 auf 18.225 in die Höhe.

Die Stabilisierung der Balkanregion, eine Reihe von bilateralen Verträgen (besonders wichtig mit Albanien) und die technologische Aufrüstung der Marinepatrouillen haben den Druck auf die apulische Küste merklich reduziert. Statt aus den Krisenherden des Balkans kommen die Schleuserschiffe heute vor allem aus der Türkei, dem Libanon, Syrien, Libyen und Tunesien, und sie landen ihre Fracht vorwiegend an der Ostküste Siziliens an, sowie auf den Inseln Lampedusa und Pantelleria. Malta wurde bisher als Umschlagplatz genutzt, muss sich nach dem EU-Beitritt vermutlich aber auch bald auf eine veränderte Rolle als Zielhafen einstellen. Die Schleuser selbst stammen ebenfalls zum größten Teil aus den genannten Ländern und aus Albanien; die organisierte Kriminalität Italiens spielt nur noch eine Nebenrolle. Dank der Aufrüstung der Küstenwacht mit neuen wirksameren Radaranlagen und Nachtsichtgeräten sowie neuen Kommandoleitzentralen zur Videoüberwachung aus der Luft sehen sich die neuen Schleuserorganisationen heute einem deutlich zunehmenden Unternehmensrisiko ausgesetzt.

Der jüngste Trend zielt deshalb darauf, die schwierige Überfahrt über das Mittelmeer ganz zu umgehen. Nach Beobachtung des Kriminologischen Instituts der Universität Mailand kommen die neuen Flüchtlinge zunehmend auf dem Luftweg nach Italien, insbesondere aus China, Bangladesh und anderen Ländern des Fernen Ostens. Als Touristen getarnt, fallen diese illegalen Einwanderer an den Flughäfen kaum auf; einmal im Land können sie meist auf Unterstützung durch bereits eingewanderte Landsleute rechnen.

An erster Stelle unter den aufgefassten Flüchtlingen in Italien standen 2002 die Iraker, deren Anteil 17,2 Prozent betrug, gefolgt von Singhalesen und Tamilen (12,3 Prozent), Liberianern (zehn Prozent), Marokkanern (8,7 Prozent) und Kurden aus dem Irak (7,3 Prozent). In den Jahren 1996 bis 2001 hatte dagegen nach einer Übersicht des Forschungszentrums Transcrime der Universität Trient noch Marokko mit 21.120 illegalen Neuankömmlingen an erster Stelle unter den Herkunftsländern gestanden, gefolgt von Tunesien (16.920), Albanien (10.320), Rumänien (10.240) und der Türkei (6.320).

Italien als Durchgangsstation

Manche dieser Flüchtlinge, vor allem aus der Türkei und dem Mittleren Osten, nutzen Italien auch als Durchgangsstation in andere Länder der Union. Viele finden ihr Auskommen aber in Italien, wo zum Beispiel fliegende Händler aus Marokko, Tunesien und Schwarzafrika seit den 70er-Jahren an den Stränden geduldet werden und inzwischen längst zum Stadtbild gehören. Auch in der Landwirtschaft des Mezzogiorno sind Saisonarbeiter aus Albanien und Afrika seit langem unverzichtbar geworden.

Aufgrund der negativen demographischen Entwicklung ist Italien heute auch zunehmend auf den Beitrag der ausländischen Mitbürger angewiesen, um seine Bevölkerung, seine Wirtschaftskraft und die finanziellen Grundlagen seiner sozialen Sicherungssysteme zu erhalten. Nach amtlichen Statistiken leben heute ungefähr 2,5 Millionen Ausländer regulär in Italien, an erster Stelle Rumänen, Marokkaner und Albanier mit jeweils etwa 250.000, gefolgt von circa 120.000 Ukrainern. Die Regularisierung illegaler Einwanderer erfolgt traditionell durch Amnestiegesetze, die in unregelmäßigen Abständen verabschiedet werden, in den vergangenen 20 Jahren immerhin fünf an der Zahl.

Das letzte dieser Gesetze wurde nach Antritt der Regierung Berlusconi im Jahre 2002 beschlossen und trägt zu Ehren der beiden am heftigsten gegen die Immigranten wetternden Koalitionspartner den Namen "Legge Bossi-Fini". Nach der Intention von Lega-Chef Bossi sollte es eine neue Linie einführen, mit der nur noch der Immigrant akzeptiert würde, der eine Arbeitsstelle vorweisen kann. Tatsächlich erhielten mit dem Gesetz insgesamt 697.000 Ausländer, darunter 340.000 Haushaltshilfen und 357.000 anderweitig Beschäftigte, eine reguläre Aufenthaltserlaubnis. Ministerpräsident Silvio Berlusconi (Forza Italia) unterstrich, dass mit dieser Operation 330 Millionen Euro in die Kassen der Rentenversicherung flossen.

Die andere Seite der Medaille sollte nach den Worten von Vizepremier Gianfranco Fini (Nationale Allianz) ein nunmehr rigoroses Vorgehen gegen die illegalen Einwanderer einläuten. Herzstück des Gesetzes ist der Artikel 13, der den Tatbestand der illegalen Einwanderung im Wiederholungsfall mit Gefängnis zwischen einem und vier Jahren bedroht. Ausländer, die einen Ausweisungsbefehl missachtet haben, werden in jedem Fall von der Polizei verhaftet und am nächsten Morgen dem Richter vorgeführt, der sie theoretisch im Schnellverfahren aburteilen soll. Dummerweise übergeht dieses Verfahren aber in unzulässiger Weise die Rechte des Angeklagten, und in korrekter Rechtsanwendung sind die Richter deshalb gezwungen, die Verhafteten wieder auf freien Fuß zu setzen. Einem enormen Verwaltungsaufwand mit Kosten in jedem Einzelfall zwischen 2.000 und 3.000 Euro steht daher nur ein minimales Ergebnis gegenüber. In Mailand wurden seit Inkrafttreten des Gesetzes 2.221 Ausländer verhaftet, von denen letztlich nur 15 hinter Gitter kamen, ein Resultat, das im krassen Gegensatz zu den Erwartungen der Befürworter des Gesetzes steht.

Endgültig gekippt wurde dieses Verfahren nun Mitte Juli durch das Verfassungsgericht, das die zwei einschlägigen Gesetzartikel für verfassungswidrig erklärte. Bereits im April hatten die Verfassungsrichter auch das bisher gültige verkürzte Ausweisungsverfahren mit umgehender Zwangsexpatriation ausgesetzt. Die Regierung studiert nun die Möglichkeiten, um per Dekret gegenzusteuern. Doch während die Politiker der Koalition noch über neue Maßnahmen diskutieren, um unerwünschte Ausländer fernzuhalten, macht die Zeitung "Corriere della Sera" auf ein geradezu umgekehrtes Problem aufmerksam, das bisher auf keiner Tagesordnung stand: angesichts der massiven Abwanderung des akademischen Nachwuchses ins Ausland wird es für Italien zunehmend wichtig, brillante Forscher und Führungskräfte ins Land zu locken. Bislang macht das italienische Recht keine Unterschiede und behandelt hochqualifizierte Hoffnungsträger genau so wie ungelernte Boat People vor Lampedusa.

Wegen seiner exponierten Lage am Südrand der "Festung Europa" ist Italien mehr als andere Länder auf gute Beziehungen mit den islamischen Staaten Nordafrikas und des Mittleren Ostens angewiesen. Dies war auch die traditionelle Position der italienischen Außenpolitik von Giulio Andreotti bis Romano Prodi, die in der arabischen Welt sehr geschätzt war. Die Regierung Berlusconi hat diese Prioritäten zeitweilig hintan gestellt, seit sie sich ins Fahrwasser der amerikanischen Irak-Politik begeben hat. Peter Weber Der Autor ist Sozialwissenschaftler und Historiker an der Universität Pisa.

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