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Gisela Dachs
"Stellen Sie sich vor, Israel sei eine
Insel"
Israelis schwärmen von den offenen Grenzen
in Europa. Im Nahen Osten klingt das wie Science-Fiction
Es gibt wohl kaum viele Länder, in denen
der Flughafen so besungen wird. "Terminal, I love you", heißt
der Refrain eines populären hebräischen Schlagers. Die
Israelis lieben diesen Ort, von dem man sich über die Grenzen
ihres kleinen Landes hinwegsetzt. Sie kommen mit Kind und Kegel, um
dort Familienmitglieder zu verabschieden und wieder abzuholen,
selbst wenn sie nur ein paar Tage lang weg waren. In der
Empfangshalle am internationalen Flughafen bei Tel Aviv zeigt ein
riesiger Bildschirm, wer ankommt. So kann man seine Lieben im
Gedränge nicht verpassen. Viele genießen die
Atmosphäre am Flughafen - als Unterhaltung oder als Mittel
gegen Klaustrophobie. Schließlich kann man sich in Israel
nicht einfach ins Auto setzen und die arabischen Nachbarn
besuchen.
Libanon und Syrien sind nach wie vor
Feindesland. Zwar gibt es Friedensverträge mit Ägypten
und Jordanien, aber seit Beginn der Intifada im Herbst 2000 gilt es
für Israelis als gefährlich, dorthin zu reisen. In die
Palästinensergebiete wagt sich heute nur mehr die Armee.
"Stellen Sie sich vor, Israel sei eine Insel", sagt ein Jerusalemer
Diplomat, um die Eigenwahrnehmung zu erläutern. Weil die
Nachfrage gesunken ist - Touristen kommen kaum noch -, gibt es
heute aber nicht einmal mehr einen Passagierschiffsverkehr. Wer
also die Heimat verlassen will, muss schon ins Flugzeug
steigen.
1,3 Millionen Israelis fliegen jährlich
ins Ausland, darunter viele Geschäftsleute, aber auch immer
mehr Urlauber. Günstige Reisepakete locken in die Ferne, wo es
oft - samt Flugticket - billiger kommt, ein paar Tage lang Ferien
zu machen als in den meist teuren israelischen Hotels. Neben der
Türkei ist vor allem der Alte Kontinent ein beliebtes Ziel.
Die neue grenzenlose Realität in Europa weckt Begeisterung.
Israelis schwärmen davon, was für ein tolles Gefühl
das sei, im Zug oder mit dem Auto von einem Land ins andere zu
fahren, ohne einen Pass herzeigen zu müssen. Im heutigen Nahen
Osten klingt das wie Science Fiction.
Es gab aber auch hier schon einmal andere
Zeiten. Nach dem Osloer Abkommen von 1993 machten Israelis gerne
Kurzausflüge ins Westjordanland: zum palästinensischen
Schmaus nach Bethlehem, abends zum Jazz nach Ramallah oder nachts
ins Casino nach Jericho. Wer nur die brutale Realität nach
2000 kennt, kann sich kaum vorstellen, dass man von Jerusalem bis
Ramallah mit dem Auto nur zwanzig Minuten brauchte. Wo die Grenze
verlief zwischen Israel und den gerade erst etablierten
Autonomiegebieten, war gar nicht so leicht auszumachen.
Heute ist diese Strecke - wie der Rest des
Westjordanlandes - von Checkpoints übersät. Die besten
Chancen voran zu kommen hat man als Ausländer, wenn man sich
wie die Palästinenser von einem Checkpoint zum nächsten
jeweils mit dem Sammeltaxi bewegt. Der grösste Kontrollpunkt
auf dem Weg nach Ramallah ist Kalandiya. Weil die meisten
"Grenzgänger" zu Fuß durch den staubigen und steinigen
Pfad an den israelischen Soldaten vorbei gehen, haben sich im
Umfeld längst Händler mit Ständen niedergelassen.
Dort werden Kochtöpfe, Babystrampler, Herrensocken feil
geboten, manchmal auch starker schwarzer Kaffee und Gebäck.
Wie lange die Reise über Kalandiya dauert, lässt sich im
Vorfeld nicht bestimmen. Wenn irgendwo ein Anschlag verübt
wurde, kann es lange Wartezeiten geben.
Manchmal stehen vor Kalandiya auch
israelische Frauen, die zum Teil schon die Grossmütter der
diensthabenden Soldaten sein könnten. Sie gehören der
Gruppe "Machsom Watch" an und haben es sich zum Ziel gesetzt hat,
das Verhalten der israelischen Soldaten zu überwachen, die die
Papiere und Genehmigungen der Palästinenser
überprüfen. Ihre Anwesenheit soll Demütigungen und
Übergriffe verhindern. Diese Frauen bilden eine ganz besondere
Art von Grenzpolizei - sie kann zwar nicht eingreifen, aber allein
schon die Tatsache, dass sie da steht, bleibt nicht ohne
Wirkung.
Die Checkpoints haben nicht nur den Alltag
der Palästinenser im Griff, sie trennen auch jene, die auf
beiden Seiten am Dialog festhalten wollen. Das führt dazu,
dass sich Israelis und Palästinenser in diesen Tagen am
Checkpoint verabreden und ihre Gespräche dort zusammen im Auto
führen. Auf diese Weise heckten Yossi Beilin und Yasser Abed
Rabbo das Genfer Abkommen aus. Andere begeben sich in den
virtuellen Raum und schicken einander E-Mails. So funktioniert auch
das israelisch-palästinensische Ko-Herausgeberteam von
www.bitterlemons.org, eine Internetzeitung, die sich mit
nahöstlicher Politik beschäftigt. Hier ist alles ganz nah
beieinander: die grenzenlose globalisierte Welt und ein 100 Jahre
alter Streit um Land.
Weil die Begegnungen vor Ort so kompliziert
sind, reisen Israelis und Palästinenser gerne zusammen ins
Ausland, um dort an organisierten Treffen teilzunehmen. Da kann es
passieren, dass ein Palästinenser von seiner jüngsten
Begegnung mit Israelis erzählt, die in Paris, Rhodos,
Istanbul, Berlin oder London statt gefunden hat. Sogar bis nach
Tokio flogen schon "gemischte" Delegationen, wo sich dann ein
Palästinenser aus Ostjerusalem mit einem Israeli aus
Westjerusalem angeregt über die Lage unterhalten hat.
Theoretisch hätten das die beiden auch in ihrer Heimatstadt
tun können. Praktisch aber wird die unsichtbare Grenze
zwischen dem Ost- und dem Westteil Jerusalems kaum überwunden.
Nur Touristen passiert es, dass sie von einer Seite auf die andere
laufen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Denn jeder Einheimische
weiss genau, welches Viertel arabisch und welches jüdisch ist.
Solche Grenzen verlaufen in den Köpfen. Man überquert sie
nur, wenn es unbedingt sein muss.
Der Ruf nach Trennung wird lauter
Seitdem die Angst vor
Selbstmordanschlägen den Alltag der Israelis prägt, ist
der Ruf nach Trennung noch lauter geworden. Der Mauerzaun, der vor
Terroristen schützen soll und sich dabei aber grosse
Stücke palästinensischen Bodens miteinverleibt,
verändert nun die gesamte Landschaft. Der geplante Verlauf ist
doppelt so lang wie die Grüne Linie, die Israel vom
Westjordanland trennt. Wo sich der Mauerzaun schlängelt und
windet, sind palästinensische Dörfer fast ganz
eingesperrt. Ursprünglich war diese Abgrenzung sogar eine Idee
der Linken in Israel gewesen. Sie wollte ihn bauen, um für
Ruhe zu sorgen und die darniederliegende Friedensbewegung
wiederzubeleben. Und weil diese ursprünglich als reine
Sicherheitsmassnahme verkaufte Idee bei der Bevölkerung so
populär war, hat sie die rechte Regierung übernommen -
und dann an die eigenen Bedürfnisse angepasst.
Es gibt aber auch ein
grenzübergreifendes Engagement gegen den Mauerzaun, oder
zumindest dessen Verlauf. Israelische linke Gruppen demonstrieren
Seite an Seite mit den betroffenen Palästinensern. Aber auch
ganz normale Bürger aus Mevasseret bei Jerusalem protestierten
mit ihren arabischen Nachbarn vor Gericht gegen den Zaun, der sich
zwischen ihnen erheben sollte. Mit Erfolg. Jetzt soll die Route
verlegt werden. Der Zaun sperre nicht nur die Palästinenser
aus und in Enklaven ein, er umzäune auch die Israelis, sagt
ein älterer Jude. Das erwecke bei ihm Erinnerungen ans
Ghetto.
Die Angst vor Terror hat in Israel nicht nur
zu einer breiten Unterstützung für die Idee eines
Trennzaunes geführt, sondern auch zu mehr Abgrenzung innerhalb
ihres eigenes Landes. Wer mit dem öffentlichen Bus fährt,
wird irgendwann feststellen, dass er jeden einsteigenden Fahrgast
genau mustert. Doch auf die Frage, wie lässt sich ein
Attentäter erkennen, gibt es keine befriedigende Antwort. Im
Sommer mag seine üppige Kleidung auffallen, der nötig
ist, um den Sprengsatzgürtel zu verbergen. Vielleicht
lässt er sich an seinem starren Blick erkennen, aber
sicherlich nicht an seinem Aussehen. Denn Attentäter waren
auch schon als ultraorthodoxe Juden oder israelische Soldaten
verkleidet, oder trugen einen Ohrring, um wie einer aus der coolen
Tel Aviver Szene zu wirken. Zur Strategie des
Sicherheitskontrolleure vor den Eingängen zu den
Supermärkten und Cafés gehört es neuerdings, die
Kunden außer dem Öffnen ihrer Taschen jetzt auch zum
Sprechen aufzuforden. Das Reden könnte einen Attentäter
überfordern; er mag sich auch durch seinen Akzent verraten
oder weil er nicht Hebräisch kann. Manchmal aber täuschen
sich auch die Attentäter, so wurde vor kurzem erst ein
palästinensischer Junge in Jerusalem beim Joggen erschossen.
Sie hatten ihn für einen jüdischen Israeli
gehalten.
Es gibt heute nur noch ganz wenige Orte, wo
solche Kategorien keine Rolle spielen. Dazu gehören die
Krankenhäuser in Israel. Sie sind trotz all der Mauern,
Zäune und Checkpoints ein Niemandsland geblieben. Die
Ärzte betreuen jüdische und arabische Patienten, sie
selber bezeichnen ihr Reich als letzte Insel der Koexistenz. Da
pflegen arabische Ärzte jüdische Anschlagsopfer, da
werden auch schwer verwundete Selbstmordattentäter von
jüdischen Ärzten betreut. Organe jüdischer Patienten
retten das Leben arabischer Bedürftiger und umgekehrt. Die
Reihenfolge spielt keine Rolle. Die Grenze ist hier nur der
Tod.
Gisela Dachs ist Israel-Korrespondentin der
"Zeit".
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