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Thomas Kirchner
Konsequentes Abseitsstehen oder
"Stillesitzen"
Die Schweizer sind Extrem-Föderalisten: Die
Grenzen sind ihnen besonders wichtig, denn sie haben so viele
davon
Wenn es um ihre Grenze geht, verstehen die Schweizer keinen
Spaß. "Erpressung!" und "Schikane!" brüllte die
eidgenössische Presse, als irgendein deutscher Beamter oder
Politiker im März dieses Jahres beschloss, die Bestimmungen
des Schengen-Vertrages fortan genauer zu lesen und die laxen
Kontrollen an den deutsch-schweizerischen Übergängen zu
verschärfen. Lange Staus in Weil, Laufenburg oder
Säckingen waren die Folge, und es bedurfte einiger
diplomatischer Verrenkungen, die aufgebrachten Schweizer zu
kalmieren. Auch glimmt noch immer der Streit um den Anflug auf den
Flughafen Zürich, der den Südschwarzwäldern den
Schlaf raubt. Und es droht ein weiterer Grenzkonflikt:
Hochsubventionierte Schweizer Bauern drängen nach
Baden-Württemberg und kaufen ihren weniger solventen deutschen
Kollegen das Land vor der Nase weg. Es ist kein übersteigerter
Nationalismus, der die Empfindlichkeit der Schweizer hervorruft.
Grenzen sind diesen Extrem-Föderalisten wichtig, sie haben so
viele in ihrem eigenen Territorium. Nur wenige Kilometer
müssen sie fahren, um vom Kanton Schwyz über Luzern und
Zug in den Kanton Aargau zu gelangen. Und all die anderen
Trennlinien: zwischen den vier Sprachgruppen, zwischen Katholiken
und Protestanten, Bauern und Städtern. Die Grenze - sie bot
stets Schutz vor den europäischen Stürmen ringsherum.
Nicht zuletzt war sie konstitutiv für die Identität des
Landes: die Grenze als prekäre Außenhaut einer
heterogenen Zusammenballung, die weder ethnische noch sprachliche
Gemeinsamkeiten einen, die sich vielmehr in einem fortdauernden
politischen Willens-Akt zur Nation formt. Der neue Justizminister
Christoph Blocher sagt: "Unsere Vorfahren wussten, warum es der
Grenzen bedarf" - ein Satz aus dem Munde eines Ultrakonservativen
zwar, der aber durchaus das Gefühl eines großen Teils der
Bevölkerung beschreibt. Denn so entstand die Eidgenossenschaft
schließlich: indem sie Grenzen setzte, sich abgrenzte, von den
territorialen Ansprüchen der Habsburger zunächst, dann
vom Deutschen Reich, von dem sie sich de facto um 1500 lossagte, de
jure 1648. Im Westfälischen Frieden erlangten die Schweizer
die völkerrechtliche Anerkennung ihrer Souveränität,
doch blieben mancherorts rechtliche Bande mit dem Kaiser, und die
Grenzen waren nirgendwo klar definiert. Oft wussten die Eidgenossen
selbst nicht, wer nun genau zu ihrem lockeren Bunde gehörte.
Zum "richtigen" Staat machte erst Napoleon die Schweizer
Städte und Kantone, als er 1798 die Helvetische Republik ins
Leben rief. Und mit der Gründung des Bundesstaates im Jahre
1848 entstand die liberale Demokratie, wie wir sie jetzt kennen.
Vor allem wegen der weitreichenden Volksrechte galt sie als
politischer Vorreiter in Europa. Früh hatten die alten
Eidgenossen beschlossen, ihre Grenzen kriegerisch nicht zu
überschreiten, "seit Marignano", wie es in den
Schulbüchern steht, jener 1515 vor den Toren Mailands
verlorenen Schlacht, die schmerzlich lehrte, wie leicht eine kleine
Macht im Kräftespiel der Großen zerrieben werden kann.
Jahrzehnte zuvor hatte Niklaus von der Flüe seine Landsleute
gewarnt: "Mischt euch nicht in fremde Händel, verbindet euch
nicht mit fremder Herrschaft", und: "Macht den Zaun nicht zu weit,
damit ihr eure Freiheit genießen könnt." Später
wurde Bruder Klaus zum Heiligen erklärt, seine Leitsätze
brannten sich förmlich ein ins kollektive
Geschichtsbewusstsein, dienten als Grundlage der so
außerordentlich erfolgreichen Schweizer
Neutralitätspolitik, die von den europäischen
Mächten 1815 auf dem Wiener Kongress offiziell sanktioniert
wurde. Nur dank konsequentem Abseitsstehen oder "Stillesitzen", so
die allgemeine Überzeugung, hat das Land über die
Jahrhunderte hinweg kriegerischen Konflikten aus dem Weg gehen
können, selbst den alle erfassenden, alles umwälzenden
Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Und es stimmt ja: Ein anderes
Verhalten, jegliche eindeutige Parteinahme hätten die Schweiz
zerrissen, wie der Graben zeigte, der sich zwischen
deutschschweizerischen Reichsanhängern und welschen
Frankreich-Freunden zur Zeit der deutsch-französischen
Konflikte auftat. Für ihren Frieden zahlte die Schweiz indes
einen Preis: Das weltoffene klassische Asylland des 19.
Jahrhunderts, das Flüchtlinge aus Polen, deutsche
Sozialdemokraten, russische Nihilisten und Anarchisten aufgenommen
hatte, machte die Grenzen plötzlich dicht, auch um es sich mit
den Herren in Berlin nicht zu verderben. Ein paar Prominente
ließ man noch herein, viele Tausende meist jüdische
Verfolgte des Nazi-Regimes hingegen wurden während des Zweiten
Weltkriegs zurückgewiesen, was für die meisten den
sicheren Tod bedeutete. Gleichzeitig baute die Schweiz eine massive
Verteidigung auf, gipfelnd im berühmten Réduit-Plan, der
aus den Alpen ein von Höhlen durchzogenes Rückzugsgebiet
machte. Kurz: Das Land wurde zum Igel, der sich hinter seiner
wehrhaften Hülle verkroch. Wie eine Barriere vor der Barbarei
erschien sie den Schweizern, als Europa unter der Knute der
Deutschen stand. So nachhaltig war diese Erfahrung, und so gut
hatte sich die bewaffnete Neutralität bewährt, dass es
die Schweiz nach 1945 dabei beließ und jener Sonderfall blieb,
der sich aus der europäischen und, als Nicht-UNO-Mitglied,
auch aus der Weltpolitik verabschiedete. Noch 1986 lehnten die
Bürger den Beitritt zur Weltorganisation mit klarer Mehrheit
ab, bevor sie vor zwei Jahren schließlich eher missmutig
zustimmten. Der Beitritt zur Europäischen Union wiederum liegt
in weiter Ferne. Er wird nicht einmal ernsthaft diskutiert. Selbst
als am 1. Mai dieses Jahres die Zeitungen Landkarten des
erweiterten Europas druckten, auf denen die winzige Insel Schweiz
im angeschwollenen Meer des Kontinents zu verschwinden schien,
flackerte die Debatte nur kurz auf. Der Bundesrat in Bern hält
das Thema derzeit für nicht opportun. Zumindest in den
kommenden vier Jahren will die Regierung nicht darüber reden
und das 1992 eingereichte Beitrittsgesuch weiterhin in einer
Brüsseler Schublade verstauben lassen. Das Gremium hat bei
mehreren Gelegenheiten gelernt, wie skeptisch die Bürger sind:
Zum ersten Mal 1992, als eine knappe Mehrheit den Beitritt zum
Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ablehnte, dem Vorzimmer der
EU; zum vorerst letzten Mal im Jahr 2001, als 77 Prozent gegen die
Aufnahme von Beitrittsverhandlungen stimmten. Offenbar glauben die
Schweizer lieber Patrioten wie Christoph Blocher, der alles bedroht
sieht durch Brüssel, was den Eidgenossen heilig ist: die
Souveränität, den Föderalismus, die direkte
Demokratie. Da hilft es wenig, daran zu erinnern, dass kaum ein
anderer europäischer Staat wirtschaftlich so stark mit der
Welt verflochten ist. Pro Kopf exportieren nur Luxemburg und die
Niederlande mehr Waren und Dienstleistungen als die Schweiz, die
das US-Magazin "Foreign Policy" auf Platz zwei ihres
"Globalisierungs-Indexes" setzt. Wenn es ihren Geldbeutel betrifft,
gehen die Eidgenossen mit der Grenze eher pragmatisch um. Sie
wahren sie, wie bei der Sicherung des lukrativen Bankgeheimnisses,
doch sie übertreten sie auch gerne, siehe die beliebten
Einkaufstouren zu preiswerten deutschen Supermärkten.
Politisch aber verharrt die Schweiz in der selbstgewählten
Isolation. Dass sie bald das Schengener Abkommen unterzeichnet,
ändert daran wenig. Der Reisende muss dann nicht mehr seinen
Pass zeigen, aber man wird ihn weiterhin bitten, den
mitgeführten Chianti zu verzollen. Je stärker sich die
Europäer integrieren, desto deutlicher wird die Schweizer
Grenze zur Außengrenze Europas. Umso sichtbarer tritt sie
gleichzeitig als Alternative hervor, als Gegenentwurf zum
supranationalen, gleichmacherischen Ansatz der Union. Es geht auch
anders, scheinen die Schweizer zu beweisen: nämlich allein.
Sind sie nicht reich und glücklich, Meister ihres Schicksals,
frei von den Fängen der Brüsseler Bürokraten? Und
könnte die EU, dieses heterogene, von den Erfahrungen der
Geschichte und vom politischen Willen zusammengehaltene Gebilde -
eine Art große Schweiz - nicht auch einiges lernen von den
konsensualen, Gegensätze ausgleichenden Mechanismen dieses
kleinen Landes? Mag sein. Doch die Außenseiter-Rolle wird
zusehends schwieriger. Der Schweizer Wohlstands-Vorsprung ist fast
dahin, die Wachstumsraten dümpeln seit Jahren auf
kläglichem Niveau. Man wird sich an die Vorstellung
gewöhnen müssen, dass die europäische Flut dieses
Inselchen dereinst überschwemmt. Thomas Kirchner Der Autor ist
Schweiz-Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" in
Zürich.
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