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Karl-Otto Sattler
"J'ai trouvé le Verwendungsnachweis"
Binationale Einrichtungen und ihr Kampf, die
Grenzen zu überwinden
Vormittags geht es von Straßburg nach Kehl.
Für Martine Mérigeau ist das eine Fahrt über den
Rhein, nicht über die Grenze. Wohnung im Elsass, Arbeitsplatz
in Baden, verheiratet mit einem Deutschen, die Sprache Goethes
fließt einwandfrei über die Lippen: Persönlich
scheint die Französin die Grenze längst hinter sich
gelassen zu haben. Beruflich aber ist sie zu Mérigeaus
Lebenselixier geworden. Als Geschäftsführerin von
"Euro-Info-Verbraucher", einer deutsch-französischen
Konsumentenberatung, soll sie helfen, die Grenze zwischen beiden
Ländern zu überwinden. Mérigeau: "Uns wird die
Arbeit in Europa nicht ausgehen."
Beim Start vor elf Jahren hatte Euro-Info
drei Mitarbeiter, jetzt sind es zwölf. Für Verbraucher,
sagt die Leiterin, "gibt es seit der Einführung des
EU-Binnenmarkts und des Euro eigentlich keine Grenzen mehr".
Eigentlich: "Aber wenn man in den Alltag eintaucht, stößt
man im Detail auf immer neue Grenzen." Beim elsässischen
Winzer eine Kiste Riesling kaufen und mit nach München oder
Berlin nehmen, das geht. Aber via Internet in Burgund eine Ladung
Rotwein bestellen und sich nach Hause in die Bundesrepublik liefern
lassen, das ist nicht machbar: Nicht, weil es verboten ist, sondern
weil das französische Steuerrecht dies faktisch
vereitelt.
Albert Hamm ist Präsident der in
Saarbrücken ansässigen Deutsch-Französischen
Hochschule (DFH). Der Straßburger Anglistikprofessor sagt
schnörkellos: "Das ist zweifelsohne unser schwierigster
Punkt." Der Gründungsvertrag hat der Einrichtung, die für
fast 5.000 Studenten gemeinsame Ausbildungsgänge an 130
Universitäten zwischen Bordeaux und Hamburg organisiert,
eigentlich die Entwicklung eines echten binationalen Diploms als
eine zentrale Aufgabe zugewiesen. Eigentlich: Geklappt hat es auch
nach vielen Jahren noch nicht. Das Hochschulministerium in Paris
und hierzulande die Kultusministerkonferenz haben die
innerstaatlichen Voraussetzungen für einen solchen Schritt
nicht geschaffen. Die DFH fungiert als grenzübergreifende
Dachorganisation, ist mithin keine Uni mit Lehrbetrieb. Deshalb -
da ziehen deutsche wie französische Paragraphen eine Grenze -
kann Saarbrücken auch keine akademischen Titel vergeben. So
gibt es nach der Abschlussprüfung in den diversen Disziplinen
"Doppeldiplome": Eine französische oder deutsche Uni stellt
eine Urkunde aus, deren Gleichwertigkeit für das jeweilige
Fach im anderen Land zertifiziert wird. Die guten Chancen der
DFH-Absolventen auf dem europäischen Arbeitsmarkt
schmälert das jedoch nicht. DFH-Generalsekretär Achim
Haag: "Wir gehen mit der Grenze produktiv um."
"Die Beschäftigung mit der Grenze ist
nicht frustrierend, das ist spannend." Seit acht Jahren
kümmert sich Axel Bussek als deutscher Justitiar bei Arte in
Straßburg zusammen mit seinen französischen Kollegen
darum, auf der Basis der divergierenden Rechtssysteme beider
Länder praktikable Lösungen für den Sendebetrieb der
TV-Anstalt zu finden. Ob Arbeitsrecht, Tarifrecht, Urheberrecht: Da
stößt man zwangsläufig auf Neuland. "Wir bewegen uns
in einem transnationalen Rechtsraum, wir müssen Regelungen
finden, die in beiden Staaten Bestand haben", erläutert der
vormalige ZDF-Mann. Der Haustarifvertrag trägt auf
Arbeitnehmerseite zwei Unterschriften - von deutschen und
französischen Gewerkschaften. Alles macht doppelte Arbeit.
Aber die Rolle des Pioniers reizt natürlich auch: "Was wir
hier juristisch erarbeiten, kann vielleicht Modellcharakter haben",
meint Bussek.
Arte zu definieren, ist nicht einfach, da
verschwimmen die Grenzen. "Unsere Strukturen sind
deutsch-französisch, aber unser Programmanspruch ist
europäisch", erklärt Claude Savin, Sprecherin des
Senders. ARD und ZDF sowie Arte France in Paris sind die
Träger der Anstalt, in Straßburg residiert die Zentrale
mit rund 400 in Frankreich wie Deutschland rekrutierten
Mitarbeitern, im Präsidentenamt wechseln sich Deutsche und
Franzosen ab: da schwingt Proporz mit. "Unser Programm aber ist",
so Bussek, "international konzipiert, unser Sender bringt nicht
zwei zusätzliche nationale Programme auf einem weiteren
Kanal".
Arte, die DFH, Euro-Info: Das sind drei
Institutionen mit völlig verschiedenen Tätigkeitsfeldern.
Und doch haben diese Einrichtungen eine Gemeinsamkeit: Sie
existieren, weil zwischen Deutschland und Frankreich eine Grenze
verläuft, und sie haben den Auftrag, diese Grenze zu
überwinden. So wie es scheint, dürfte dies eine Aufgabe
auf Dauer sein, zu erledigen Schritt für Schritt - auch wenn
heute weitaus weniger Grenzkontrollen stattfinden (auf den
Rheinbrücken stehen die Uniformierten im Übrigen noch oft
genug).
Die Erfahrungen in der Praxis sind zuweilen
recht durchwachsen. Gestaunt haben vor allem die deutschen
Mitarbeiter am Saarbrücker DFH-Sitz: Da wollte doch ein
Pariser Minister die Schirmherrschaft über eine
DFH-Sprachenkampagne nicht übernehmen, weil ihm der
Plakat-Werbespruch "Deutsch zahlt sich aus" zu salopp daherkam -
und so war denn auf den Postern zu lesen, dass Deutsch ein "Trumpf
für morgen" ist. Das klingt wohl seriös. Es sind ja nicht
nur die Staatsstrukturen, die Wirtschaftssysteme, die
Bildungsgänge, das Steuerrecht, das Sozialmodell, was
weitreichend differiert. Auch unterschiedliche Mentalitäten,
Traditionen, Umgangsformen, Lebensstile links und rechts des Rheins
spielen eine erhebliche Rolle. Martine Mérigeau wundert sich
zum Beispiel, dass Deutsche kaum Autos in Frankreich kaufen, die
dort um zehn Prozent billiger sind als in hiesigen Gefilden.
Offenbar fürchten viele noch immer bürokratische Probleme
bei der Zulassung, obwohl dies mittlerweile wesentlich vereinfacht
wurde. Die Euro-Info-Direktorin: "Da gibt es eine Grenze im
Kopf".
Bei der konkreten Arbeit merken die 20
Beschäftigten in der Saarbrücker DFH-Zentrale, die
ebenfalls aus beiden Ländern kommen und zweisprachig sind,
kaum noch nationale Unterschiede. "An flache Hierarchiestrukturen",
berichtet Haag, "waren die Franzosen anfangs nicht so gewohnt, aber
das hat sich schnell gelegt". Im Hochschulrat, wo die
Universitäts- und Staatsvertreter aus beiden Ländern
sitzen, fällt Professor Hamm noch eine Besonderheit auf: Die
Franzosen erscheinen häufig bestens vorbereitet, mit
ausformulierten Unterlagen und dem Ergebnis der Verhandlungen schon
im Kopf - die Deutschen hingegen wollen die Themen erst einmal
ausdiskutieren.
Umso heftiger prallen die Welten an den
Universitäten aufeinander. "Das ist für deutsche
Studenten oft ein regelrechter Kulturschock", hat Albert Hamm
beobachtet - dann nämlich, wenn sie sich bei den
obligatorischen Semestern in Frankreich "wie Schüler behandelt
fühlen", wie Achim Haag sagt. Alles ist reglementiert,
Büffeln ist angesagt, in den Seminaren schreibt man mit, was
die Dozenten sagen, es wird wenig diskutiert. An deutschen
Hochschulen kommen sich junge Franzosen anfangs schon mal verloren
vor: Das eigenständige Lernen und wissenschaftliche Arbeiten
der hiesigen Studenten ist ihnen etwas fremd, das Studium ist nicht
so fest strukturiert, die Dinge scheinen sich irgendwie zu
verlaufen.
Indes sind in den binationalen
Studiengängen Anzeichen für gewisse Angleichungen zu
registrieren. Deutsche lernen disziplinierter, in
französischen Seminaren wird häufiger diskutiert, ins
Fach Physik wurden in Nancy aufgrund der Erfahrungen mit deutschen
Studenten mehr Praktika integriert. Eines unterstreicht Hamm
ausdrücklich: "Die DFH strebt keine Homogenisierung der
binationalen Ausbildung, keinen europäischen Einheitsbrei an,
wir wollen den Kulturschock produktiv nutzen."
In Frankreich hat Arte bei der
Zuschauerresonanz eine Quote von 3,5 bis vier Prozent, in der
Bundesrepublik lediglich von 0,6 Prozent. Das hat mit bislang
unüberwindbaren Grenzen zu tun. Anders als in Deutschland
erreicht die Anstalt zwischen Marseille und Lille wegen der
terrestrischen Ausstrahlung praktisch alle Haushalte, zudem steht
Arte dort in Konkurrenz zu nur vier weiteren landesweiten Sendern.
In den Anfangsjahren des Senders drifteten die Sehgewohnheiten bei
Deutschen und Franzosen noch spürbar auseinander.
"Inzwischen", sagt Sprecherin Savin, "hat sich das verändert".
Klar, Filme mit Schauspielern, die im jeweiligen Land Stars sind,
locken dort auch mehr Zuschauer vor den Bildschirm. Andreas
Schreitmüller, bei Arte für Spielfilme zuständig,
berichtet aber, dass etwa Krimis Marianne und Michel
gleichermaßen in den Bann schlagen - "und bemerkenswerterweise
haben deutsche Komödien in Frankreich viel Erfolg".
Natürlich haben deutsche und französische Fernsehfilme
ihren eigenen Charakter, wobei Schreitmüller keine
prinzipiellen Differenzen, sondern lediglich verschiedene
"Tendenzen" ausmacht: Deutsche Streifen kämen schnell zur
Sache, "bringen das Thema gleich auf den Punkt". Auf Franzosen
wirke das etwas unelegant: Sie bevorzugten einen eher spielerischen
Einstieg.
Offenbar wiegen bei den Arte-Journalisten die
beruflichen Gemeinsamkeiten mehr als die nationale
Zugehörigkeit. Die unmissverständliche Antwort
Schreitmüllers erübrigt jedenfalls weitere Nachfragen:
"Mich verbindet mit einem französischen Spielfilmkollegen mehr
als mit einem deutschen Nachrichtenredakteur." Anfangs geisterten
noch gewisse Klischees in den Köpfen herum, erinnert sich
Claude Savin: dass etwa Deutsche ein Studio nicht richtig
ausleuchten oder Franzosen keine Abläufe organisieren
können. Aber das war einmal.
In Kehl hat Martine Mérigeau nicht nur
unzählige Beispiele parat für nationale Interessen und
Rechtsvorschriften, die einen grenzenlosen Konsumentenmarkt
behindern - so bieten etwa deutsche und französische
Versicherungen im Nachbarland nach wie vor keine Policen im
Direktverkauf an, die Märkte bleiben abgeschottet, Wettbewerb
wird unterbunden. Auch die Verbraucher legen ihre Gewohnheiten
nicht ab: "Deutsche kommen zu uns, um sich zu informieren,
Franzosen, um zu reklamieren." Das hat damit zu tun, dass in der
Bundesrepublik die Beratung von Konsumenten einen hohen Stellenwert
hat und der "mündige Verbraucher" hochgehalten wird - und dass
links des Rheins den Konsumenten mehr gesetzlich verbürgte
Rechte als hierzulande zustehen. Bei Verhandlungen mit den diversen
Geldgebern, die Euro-Info finanzieren, muss Mérigeau schon auf
unterschiedliche Mentalitäten achten: "Französische
Behörden betrachten uns als öffentlichen Dienst, deutsche
Instanzen sehen uns als eigenständiges
Unternehmen."
Besonders die Sprache scheint Dynamik in die
Überwindung der Grenze zu bringen, zumindest bei den
"Profi-Europäern". Bei Arte, bei der DFH und bei Euro-Info
reden die Beschäftigten meist in der eigenen Sprache, die
Kollegen verstehen das ja. Nicht selten gehen aber auch in einem
Satz das Französische und Deutsche durcheinander - vor allem,
wenn für einen Begriff das Pendant in der anderen Sprache
kompliziert zu formulieren ist. So freut sich bei der DFH in
Saarbrücken schon mal ein französischer Mitarbeiter
über seine erfolgreiche Suche auf dem Schreibtisch: "J'ai
trouvé le Verwendungsnachweis." Und bei Arte heißt es:
"Il faut discuter la question du Mifrifi", man muss die Frage der
mittelfristigen Finanzplanung erörtern. Auch "le
Mengengerüst", erzählt Claude Savin, gehört
inzwischen zum französischen Sprachschatz bei dem
Straßburger Sender. Karl-Otto Sattler arbeitet als freier
Journalist in Berlin.
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