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Detlev Lücke
"Bei uns kannste noch rüba"
Die Berliner Mauer kann wohl den traurigen Titel
der berühmtesten Grenze der Welt für sich reklamieren.
Wie sie entstand und was davon noch steht
In den letzten Tagen vor dem Mauerbau verließen bis zu
6.000 Menschen täglich den so genannten
Arbeiter-und-Bauern-Staat. Im dialektischen Hören geschult,
misstrauten sie der Mitte Juni 1961 auf einer Pressekonferenz
gemachten Aussage des SED-Chefs Walter Ulbricht, niemand habe die
Absicht, eine Mauer zu bauen. Eine Freud'sche Ankündigung,
denn von einer Mauer war bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht die
Rede gewesen. Die Ostberliner jedoch wiegten sich in
trügerischer Sicherheit, zumal seit einigen Wochen das
Gerücht die Runde machte, Ulbricht wolle den
DDR-Regierungssitz in seine Heimatstadt Leipzig verlegen.
Am Morgen des 13. August weckte mich meine Mutter mit dem
lakonischen Satz: "Die Grenze ist dicht." Das konnte nicht sein.
Ich war doch gerade erst mit der S-Bahn von Schmargendorf (heute
Heidelberger Platz) nach Adlershof gefahren. Hatte meine Freundin
nach einer gemeinsamen Dampferfahrt auf dem Grünauer Langen
See per Südring zu ihren Eltern gebracht. Wir hatten uns, weil
wir beide in den Ferien waren, für die nächsten Tage
verabredet. Wohin, weiß ich nicht mehr.
Was tun? Nachschauen, ob die Sache stimmte. Im Rundfunk verlas
ein Sprecher mit staatstragend-monotoner Stimme, dass sich die
Regierung der Deutschen Demokratischen Republik entschlossen habe,
bis zum Abschluss eines Friedensvertrages die Staatsgrenze nach
Westberlin zu sichern. Das konnte alles Mögliche bedeuten.
Auch nach dem 17. Juni 1953 war drei Wochen lang keine S-Bahn mehr
nach Westberlin gefahren, auch keine U-Bahn. Straßenbahnen
sowieso schon nicht mehr seit Anfang 1953. Das würde wieder
vergehen. Vielleicht alles nur ein politisches Manöver. Hatte
nicht meine Mutter gleich vielen anderen immer wieder im Brustton
der Überzeugung gesagt, die Stadt sei nicht zu teilen?
"Mensch, denkt doch bloß mal an Treptow, da sind die
Häuser im Osten und der Bürgersteig im Westen. Geht doch
gar nicht." Eine erstaunliche Phantasielosigkeit angesichts dessen,
was einige Jahre zuvor in Deutschland alles "gegangen" war. Wir
waren nur zu gern bereit, die Sache zu glauben.
Ich stieg auf's Rad, um zu sehen, wer von den Fluchtkandidaten
aus dem Freundeskreis unserer Familie noch da war. In
Niederschöneweide traf ich einen Maler, Kriegskamerad meines
Vaters, in seinem leeren Atelier. Er wollte an diesem Sonntag mit
seiner Familie in den Westen, wo die Bilder schon angekommen waren.
Er ertrug seine Lage mit Galgenhumor und Kognak. Seine Frau weinte,
die Tochter auch. Bei anderen Bekannten in Friedrichshagen war die
ganze Familie getürmt, wie es damals hieß, nur Tochter
und Schwiegersohn waren noch geblieben, weil sie auf ihr
Arzt-Diplom warteten. Sie blieben in der DDR; ein Fluchtversuch
durch einen Tunnel an der Zimmerstraße im Herbst 61
scheiterte. Sie wurden wochenlang aktiv durch die Stasi beschattet,
die Dias mit Forschungsergebnissen des jungen Mediziners waren in
unseren Schränken versteckt.
Am Nachmittag des 13. August, an dem schönes Sommerwetter
herrschte, fuhr ich mit der S-Bahn ins Zentrum. Statt wie bisher in
Richtung Falkensee ging es nur noch bis Friedrichstraße. Dort
hatten Gleisarbeiter über Nacht eine Weiche eingebaut, damit
die Züge "Kopf machen" konnten, um wieder gen Osten
zurückzufahren. Auf dem Bahnsteig, den wir nach einiger
Warterei erreichten, waren Himmel und Menschen unterwegs. Heute
würde man das Katastrophentourismus nennen. In einigen Ecken
des Bahnhofs saßen Familien mit Kindern und Koffern.
Meine Studienfreunde Manfred, Wulf-Bert und ich zogen im Strom
der Passanten Richtung Linden. An der Kreuzung
Friedrichstraße/Linden versuchte Polizei, die Menge
abzudrängen, um den Weg in Richtung Brandenburger Tor zu
versperren. In den Seitenstraßen standen Panzer der
Sowjetarmee. Ein mehr als deutlicher Hinweis auf den 17. Juni acht
Jahre zuvor. Ein Volkspolizist versuchte, Wulf-Bert
zurückzuhalten. Der wehrte sich und kriegte von dem
Gesetzeshüter einen Tritt in den Hintern. Wir wurden langsam
zum Brandenburger Tor hin geschoben. "Gehen Sie zurück",
bellte es aus Polizistenmund. Wir hörten die Protestschreie
der Westberliner hinter dem Tor. Es war eine akustische Brücke
hinüber zu uns, wo es still war. Die letzte Brücke
für lange Zeit, vielleicht bis heute.
Neben mir zischte eine junge Frau einem Pärchen zu: "Bei
uns jeht's noch. Da kannste noch hintam Nordbahnhof rüba."
Mancher, der entschlossen weg wollte, hatte bis Ende August seine
Chance. Bis dahin durften die Westberliner noch in den Osten, wovon
viele reichlich Gebrauch machten. Es gab noch manche
Übergänge, an denen nicht allzu straff kontrolliert
wurde. Mein Freund Harald nahm den Ausweis eines Westberliner
Bekannten und hielt mit dem Daumen sein Paßbild über das
des Ausweisinhabers. Er kam raus. Ende August fiel auch diese
Klappe. Die Stadt war fest umzäunt, Kampfgruppenleute
patroullierten gemeinsam mit Grenzsoldaten und Polizisten.
Am Abend des 13. August sprach Karl-Eduard von Schnitzler einen
hämischen Kommentar, in dem er sich über die
Kofferfamilien auf dem Bahnhof Friedrichstraße lustig machte.
Im Radio erklang zum ersten Mal das schwachsinnige Lied: "Klappe
zu, Affe tot, tapfer lacht das Morgenrot". Es lachte gut 28 Jahre,
bis die MMauer fiel. Wer ihren Bau erlebt hatte, konnte
darüber nachdenken, ob das eine kurze oder lange Zeit gewesen
war. Die Trabis, die über die Bornholmer Brücke rollten,
wurden von applaudierenden Westberlinern empfangen. Für einen
kurzen Augenblick glaubten die älteren Berliner, sie seien
wieder vereint. Die Zeitungen berichteten von zwei Ostberliner
Angestellten in der Senatsbauverwaltung, die ihre
Büroplätze einnahmen, als ob sie nie etwas anderes getan
hätten. Wie lange werden sie dort wohl gesessen haben?
Nach einiger Zeit bemerkten die Ostberliner, die sich ihrer
Mauerneurosen halbwegs bewusst waren, dass auch die Westberliner
ihren Inselkoller weg hatten. Vielleicht war der eine oder andere
von ihnen der Meinung, sein Glück, auf der besseren Seite
gelebt zu haben, sei Gottesurteil gewesen oder durch irgendetwas
verdient. Dankbarkeit verwandelte sich in Herablassung. Der
CDU-Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus, Klaus
Landowsky, erklärte die Westberliner zu Verlierern der
Einheit. Waren sie vielleicht Gewinner der Spaltung gewesen? Solche
Fragen stellte sich am 13. August 1961 niemand in Berlin, nicht im
Westen, nicht im Osten. Nicht im Norden und nicht im Süden,
diesen beiden Himmelsrichtungen, die man in der deutschen
Hauptstadt bis heute weder kennt, noch nennt. Detlev Lücke
Der Autor ist Leitender Redakteur der Wochenzeitung "Das
Parlament".
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