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Susanne Balthasar
Wer mit 30 noch allein ist, den bestraft die
Sitte
Altersgrenzen sind reine Willkür, aber
praktisch: Mit 18 darf man Auto fahren, mit 65 in Rente -
dazwischen liegt eine Zeitenwende
"Bob Dylan wird diesen Monat dreißig Jahre alt", sagt
Linus. "Das ist das Deprimierendste, was ich je gehört habe",
antwortet Charlie Brown.
Natürlich glauben wir, das Leben vermessen zu können.
Deshalb hat uns die Bürokratie, die die Zahlen besonders
liebt, einen Haufen Grenzwerte in den Lebenslauf gestellt: Mit 18
dürfen wir den Führerschein machen, mit 21 auch
juristisch verantwortlich sein und erst mit 65 ist Schluss mit der
Vermesserei, und der Mensch wird in die Altersruhe entlassen.
Zwischen Strafmündigkeit und Rentenreife kommt nicht viel, und
damit es dazwischen nicht langweilig wird, haben wir uns selber
einen Stolperstein dazwischen gesetzt: den 30. Geburtstag.
Mit 30, das weiß jedes Kind, ist man alt. So alt, dass man
die wichtigen Dinge im Leben schon geschafft haben muss, sonst ist
es zu spät. Wer mit 30 zum Beispiel noch allein ist, den
bestraft die Sitte: "Nach gutem altem Brauch", berichtet das
Internet, "hat Udo an seinem 30. Geburtstag die Rathaustreppen
gefegt". Warum? Ganz einfach: "Er wurde 30 und ist noch nicht
verheiratet. Dabei musste er so lange fegen, bis sich eine Jungfrau
fand, die ihn frei küsste." Der arme Udo. Hat es auch nicht
anders verdient. Mit 30, lieber Udo, solltest Du als Sieger durch
das Lebensziel gelaufen sein, denn danach kommt die Schlusskurve:
Die ersten Fältchen sind schon da, die grauen Haare kommen und
schließlich die Gehhilfe, über die man dann eines Tages
fällt und auf dem Teppichboden liegen bleibt. Genickbruch.
Oder so. Der 30. Geburtstag ist der Tod der Jugend, und wer bis
dahin nicht erwachsen geworden ist, bekommt auf den Gabentisch eine
Ichkrise gelegt: "Ist mein Leben jetzt vorbei? Habe ich
überhaupt noch eine Chance?"
Wieso sollte mit 30 die Jugend eigentlich vorbei sein? Ist man
denn nicht so alt, wie man sich fühlt? Natürlich sind
Altergrenzen ein soziales Konstrukt und als solches dem Wandel der
Zeiten unterworfen. Vor 200 Jahren galten Über-60-Jährige
als Methusalems; in den 1970er-Jahren sang Udo Jürgens: "Mit
66 Jahren, da fängt das Leben an." Was also ist schon 30?
Nichts weiter als eine Zahl, die zwischen 29 und 31 klemmt und
nichts aussagt über den tatsächlichen Reifegrad des
Geburtstagskindes. Und trotzdem gibt es Eltern, die schon beizeiten
Sätze wie diesen sagen: "Der Peter Schmitz studiert noch,
dabei ist der doch schon 30." Mit decodiertem Subtext heißt
das: Der Peter Schmitz ist 'ne Pfeife und wird es immer bleiben.
Oder: "Mit 30 hatte ich schon zwei Kinder. Aber heute ist das ja
anders."
Das ist durchaus richtig, denn das statistische Elternalter ist
in der Zwischenzeit von Anfang auf Ende Zwanzig geklettert. Aber
wenn die Botschaft, dass man mit 30 ein ordentliches Mitglied der
Gesellschaft zu sein hat, zuverlässig wie ein Einschreiben von
einer Generation zur anderen weiter geleitet wird, setzt sich der
Glaube verlässlich fest, dass mit 30 der Wendepunkt zwischen
Jugend und Erwachsensein erreicht ist. Natürlich tritt der
Umschwung nicht pünktlich am Geburtstag ein, genauso wenig wie
der Silvesterabend in ein Leben ohne Zigaretten und Alkohol
böllert. Aber Stichtage alarmieren zuverlässig wie die
ersten grauen Haare: Jetzt ist es Zeit darüber nachzudenken,
über die Vergangenheit und, daraus folgernd, über die
Zukunft.
Ein 30. Geburtstag kann ganz schön lange dauern. Bei mir
waren es 20 Jahre. Mit zehn Jahren tauchten die ersten Fotos vor
meinen Augen auf: Ich, daneben ein Mann, davor zwei Kinder. Ich
würde ein Haus, ein Auto und einen ordentlichen Beruf haben.
Kieferorthopädin oder Tierärztin. Später schien mir
das spießig zu sein, und wollte reich und berühmt werden,
aber bloß nicht 30, also unvorstellbar alt und sicher
spießig werden. Lange Zeit kann man zwischen Fremd- und
Eigenentwürfen, Altideen und Neueinfällen wählen wie
zwischen Himbeer- und Erdbeereis. Entscheidungen sind aufschiebbar,
denn das ganze Leben ist ein Provisorium. Heute studiere ich dies,
morgen lerne ich vielleicht schon das. Liebe ja, aber bitte noch
nichts Endgültiges, wir sind doch alle noch so jung, und
arbeitstechnisch machen Zeitverträge und Freiberuflerschaft
jede Karriereplanung lächerlich. Aber dann kommt er doch, der
Tag, an dem das Leben um eine Entscheidung bittet.
Denn wer ehrlich ist, der muss zugeben: Wer mit 30 noch keine
Karriere, kein Auto und kein Haus geschafft hat, steht mächtig
unter Zugzwang. Mit 15 kann man noch fantasieren, Chefarzt oder
Richter zu werden, Rockstar oder Modell. Das Leben ist ein
Universum von Möglichkeiten. Doppelt so alt haben die
Träume dann eine Geschichte des Scheiterns hinter sich. Dies
hat nicht geklappt und das auch nicht - warum sollte es in Zukunft
klappen? Bin ich überhaupt so toll, wie ich mit 18 dachte?
Höchste Zeit also, das Ego an der Realität abzuarbeiten.
Wer jetzt noch seine Biografie auf Kurs bringen will, muss sich
schon gehörig auf den Hosenboden setzen.
Denn wer kennt nicht einen dieser Dauerjugendlichen, die sich
mit Ende 30 noch so durchwursteln, bis die Stahlblase dann am 40.
platzt, wenn es schon längst zu spät ist? Mit 40 gilt man
vielen Arbeitgebern schon als verfallen. Wer da mit 30 noch im
Dickicht der Möglichkeiten herumirrt, hat unter Umständen
schon den Ausgang verpasst. Wohin das führen kann, hat Sven
Regener in seinem Roman "Herr Lehmann" beschrieben. Herrn
30er-Krise erklärt ein Buchvertrieb so: "Und 30 Jahre alt zu
werden, weiß Herr Lehmann, ist Scheiße, weil man da
langsam ‚beginnt, eine Vergangenheit zu haben, eine gute alte
Zeit und den ganzen Scheiß.' Und weil auf einmal alle anfangen
zu fragen, was man denn bitte schön anfangen wolle mit dem
eigenen Leben. Denn dass jemand zufrieden damit ist, Kellner zu
sein, ist in dieser Stadt, in der alle ‚eigentlich
Künstler' sind, nicht vorgesehen - ‚aber was ist das
für ein trauriger Umgang mit dem, was man tut, wenn man es
immer nur als Zwischenlösung ansieht, als nichts Richtiges?'
Selbst einen Dauerhänger im Kreuzberger Hängerbiotop
überholt am Ende die abgelebte Zeit. Das kann zum Ziel
führen, aber erst einmal zu Depressionen.
Besonders betroffen sind Frauen. Oft steigt die Angst schon ab
dem 29. Geburtstag fieberkurvenartig bis zum Anschlag, denn die
biologische Halbwertzeit von Frauen ist mit 30 erreicht.
Pünktlich zum 30. fällt ihnen mit der Klarsicht der
Schockerkenntnis ein, dass sie doch ein Kind haben wollen.
Früher dachten sie: Mal sehen, ich weiß nicht,
später vielleicht, nicht jetzt. Jetzt sind sie 30 und
Dauersingle, frisch getrennt oder mit Männern liiert, die doch
lieber Fußballspielen als Windeln wechseln. Plötzlich
wachsen überall Frauen aus dem Boden, die den Termin
verschlafen haben: Mit dem Kind, das klappt nicht, wir sind ja
beide gesund, aber du weißt ja, über 30 sind die Eier
porös wie alte Turnschuhe... Selbst Stars wie Julia Roberts
und Jennifer Lopez werden wegen Überschreitung des
Verfallsdatums in die Fruchtbarkeitsklinik eingeliefert. Bei
anderen wiederum setzt am 30. erst die Panikattacke und dann der
Heiratszwang ein. Wer weiß schon, ob da noch ein Besserer
kommt?
Nun könnte man meinen, die 30er-Krise sei ein
Zeitgeistphänomen. Nicht umsonst heißen die
Über-30-Jährigen heute "Thirtysomethings", da steckt das
Selbstfindungsdrama schon im Namen. Entstanden im
Ewigkindergärten wie Deutschland, wo junge Leute 85 Semester
studieren, um noch ein bisschen die schöne Studizeit zu
genießen, weil danach der böse Arbeitsmarkt lauert.
Tatsächlich aber ist das Phänomen uralt. Schon die 68er
wussten um den Zusammenhang von Dreißigsein und
Lebensplänen, weshalb sie den Slogan "Trau keinem über
30" ausgaben. Dass Rainer Langhans im Rentenalter noch immer in
einer Sexkommune lebt, beweist nicht, dass der Spruch veraltet
ist.
Auch Honoré de Balzac kannte die große Zäsur im
Menschen-, besonders im Frauenleben, und widmete ihr den Roman "Die
Frau von Dreißig Jahren". Heldin Julie d'Aiglement,
eingeschlossen in einer unglücklichen Ehe, verschreckt in
besagtem Alter die Lebensschau: "Ihre Leidenschaft wird stark
angesichts der Ahnung einer erschreckenden Zukunft." Nun tun sich
für Madame d'Aiglement gerade angesichts der Alterschwelle
Möglichkeiten auf: Will sie ihr Leben wie bislang fristen?
Oder das Ruder noch einmal herumreißen und sich einen
Liebhaber nehmen? Denn noch ist sie zwar nicht mehr blutjung, aber
auch noch nicht steinalt. Eine Frau in den besten Jahren sozusagen,
die noch schön ist, aber das Leben auch schon erfahren hat.
Dass Madame d'Aiglemet mit ihrem Ausbruchsversuch scheitert, nun
ja, das mag Schicksal sein oder die damalige Zeit. Balzac selbst
findet tröstende Worte, indem er das schöne Alter von 30
Jahren als "jenen poetischen Gipfel im Leben einer Frau" nennt, an
dem sie "dessen Lauf umfassen und ebenso in die Zukunft wie in die
Vergangenheit blicken kann". Das sind doch schöne
Aussichten.
Schön ist auch, dass die meisten Menschen, die ihren 30.
Geburtstag schon lange hinter sich haben, so lange, dass sie die
Rentengrenze bereits zu überschreiten drohen, sagen: Von 30
bis 40, das ist die schönste Zeit im Leben. Warum? Weil man
ein bisschen erwachsen ist, aber auch noch ein bisschen jung. Denn
dass mit 30 die Jugend stirbt, das behaupten die auf der anderen
Seite, die Zahnspangenträger und Britney-Spears-Fans. Die, die
es besser wissen, wissen, dass es nach jeder Krise erst mal
aufwärts geht. Und sich der Stolperstein im Rückblick
auch zur ersten Treppenstufe auf dem Weg nach oben verklären
lässt.
Susanne Balthasar (30)
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