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Uwe Rada
Neben dem Glitzer
Der öffentliche Raum der Stadt ist
privatisiert
Lässt man die urbanistischen Debatten der
Nachwendezeit Revue passieren, fällt nicht selten auf, welch
naiver Glaube an die Stadt da im Spiel war. Für was musste
diese Stadt nicht alles herhalten. Als Integrationsmaschine war sie
für den sozialen Zusammenhalt einer zunehmend
auseinanderdriftenden "Zwei-Drittel-Gesellschaft" zuständig.
Als dichte und kompakte Stadt sollte sie, deren "neue
Urbanität" gerade entdeckt war, der Suburbanisierung eine
Alternative sein. Nicht zuletzt schien die Stadt eine
Vorreiterrolle bei der Herausbildung einer postmodernen
Zivilgesellschaft einzunehmen, mit neuen Modellen
gesellschaftlicher Teilhabe und Dezentralisierung der
Zuständigkeiten.
Kurzum: Die Europäische Stadt schien in
Zeiten zunehmender Polarisierung das kongeniale Gegenmodell zur
segregierten Stadt in den USA zu sein, zu den Gated Communities in
Südamerika, den Megacities in Asien und Afrika mit ihren
unübersehbaren Slums und, last but not least, den um
bürgerliche Traditionen gebrachten Städten in den
Ländern des ehemaligen Ostblocks.
Die zentralen Baustellen dieses
urbanistischen Glaubens waren: Öffentlichkeit und soziale
Mischung. In den öffentlichen Räumen der Stadt, ihren
Straßen und Plätzen, an Universitäten und an den
Orten demokratischer Willensbildung sollte der Geist der
Bürgergesellschaft über die Einhaltung des zweiten
Grundsatzes wachen: die soziale Mischung der Stadtbevölkerung,
die Chancengleichheit ihrer Quartiere, die Abwehr der Egoismen der
Stadtbewohner und die Erinnerung an ihre sozialen Verantwortung.
Wie unerschütterlich dieser Glaube war, zeigte sich noch Ende
der 90er-Jahre, als der damalige Berliner Innensenator Jörg
Schönbohm (CDU) vor dem Hintergrund des wachsenden
Migrantenanteils in einigen Bezirken vor der Herausbildung einer
"Parallelgesellschaft" warnte. Integration, gleich welcher Lesart,
stand ganz oben auf der städtischen Agenda. Desintegration war
dagegen ein Synonym für das Unstädtische, das
Amerikanische, das Ende der Europäischen Stadt.
Heute wissen wir es - natürlich -
besser. Der unerschütterliche Glaube an die Stadt ist an seine
Grenzen geraten sowie auch seine ehemals zentralen Baustellen. Von
den öffentlichen Räumen der Stadt redet kaum mehr einer,
es ist ja auch zu offensichtlich: Die Straßenräume sind
nahezu durchkommerzialisiert, die Plätze wurden zu
Urban-Entertainment-Centern, die Institutionen der
öffentlichen Debatte zu Bühnen für Selbstdarstellung
jeglicher Couleur. Der öffentliche Raum der Stadt ist ein
privater geworden, das zeigen nicht zuletzt die vielen
Überwachungskameras an ihren zentralen Orten. Nachgerade
verblüffend dabei war, in welch atemberaubender
Geschwindigkeit die urbanen Trendsetter die Bausteine dieser
Privatisierung in ihr Lebensgefühl integriert haben.
Zivilgesellschaftliche Gegenwehr? Fehlanzeige!
Umso mehr ist heute von den städtischen
Parallelwelten die Rede. Nicht nur in Berlin, der deutschen
Hauptstadt, sondern auch in der europäischen Hauptstadt
Brüssel. Wie sehr die Europäische Stadt zur
Einwandererstadt geworden ist und welche demografischen Dynamiken
damit verbunden sind, zeigt sich in einer Meldung, die in der FAZ
im November 2002 zu lesen war: "Mohammed ist in der
europäischen Hauptstadt Brüssel zum häufigsten Namen
für neugeborene Jungen geworden. Auf Platz zwei bis sechs
folgten im vergangenen Jahr Alexandre, Ayoub, Thomas, Bilal und
Mehdi." Bei den Mädchen heißt die Reihenfolge Sarah,
Imane, Rania, Yousra und Marie.
Längst ist neben den Glitzerbauten der
europäischen Hauptstadt eine andere Stadt entstanden, eine
Einwandererstadt, eine Metropole der Dritten Welt mit informellen
Ökonomien, ethnischen Parallelwelten, neuen städtischen
Kulturen. Diese neue Stadt, dieses globalisierte Brüssel von
unten wächst schneller als das Brüssel, das man aus dem
Fernsehen kennt.
Die Europäische Stadt, das zeigen
Beispiele wie diese, ist nicht nur an ihre Grenzen geraten, sie ist
längst über diese Grenzen hinausgewachsen. Und manchmal
scheint es, als wäre diese Entwicklungsdynamik noch immer
schneller als die urbanistischen Debatte, die sie einzuholen
versucht. Als sich in der Berliner Neuen Gesellschaft für
Bildende Kunst im vergangenen Jahr eine Ausstellung dieser neuen
Dynamik der Stadt, ihren informellen Praktiken, ihrer
Überlebensökonomie, den Kofferhändlern und
Pendelmigranten widmete, war dies nicht nur die
überfällige Auseinandersetzung mit den neuen
Grenzziehungen innerhalb des urbanen und sozialen Raums der
Städte. "Learning from", so hieß die Ausstellung,
löste auch eine Debatte über die Bewertung der
informellen Stadt aus, die längst nicht mehr vor den Toren
Westeuropas Halt macht.
Im Eingangsessay des Ausstellungskatalogs
formulierten die Politologen Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf
einen Generalverdacht gegen diese informelle Stadt. Sie beschrieben
das rasante Wachstum des informellen Sektors in den
europäischen Städten als "Schwamm für all jene
Arbeitskräfte, die in der Folge des globalen
Standortwettbewerbs überflüssig geworden sind". Der
informelle Sektor, so Altvater und Mahnkopf, stelle damit auch
"einen Schockabsorber der Globalisierung dar, weil er erstens der
Subsistenzsicherung der urbanen Haushalte dient. Zweitens
trägt der informelle Sektor zu einer faktischen Lösung
der Arbeitsmarktkrise bei." Ihr Fazit: "Der informelle Sektor ist
Ausdruck eines 'Neoliberalismus von unten'."
Hier ist er wieder, der
unerschütterliche Glaube an die Integrationskraft der
Städte, etwa, wenn Altvater und Mahnkopf als Alternative zu
jenem "Neoliberalismus von unten" auf eine solidarische
Ökonomie, auf die Wiederkehr von Genossenschaften und
Kollektiven setzen. In diesem Generalvorbehalt neolinker Provenienz
steckt aber nicht mehr nur Naivität, sondern auch die Gefahr
neuer Grenzziehungen. Wer auf die bloße Verteidigung
nationaler oder regionaler sozialer Standards setzt, wendet sich
nicht nur gegen die "Börse" als Inkunabel des neoliberalen
Projekts. Er wendet sich auch gegen den "Basar" als dessen
ärmliches Spiegelbild. Nur, dass die Kofferhändler ihren
"Neoliberalismus von unten" nicht als überzeugte Protagonisten
der Ungleichheit verfolgen, sondern als Herausgeworfene aus einer
Zeit, die Altvater und Mahnkopf so gerne verteidigten. Denkt man
diese Verteidigung weiter, ist es bis zum Bau neuer Mauern nicht
mehr weit. Es gibt, wenn es gegen die informelle Stadt geht, auch
eine linke Variante der "Festung Europa".
Man kann den Kapitalismus der Armen, statt
ihn als "Neoliberalismus von unten" zu verdammen, aber auch anders
sehen: als Sicherung der Existenz, wo andere Sicherungssysteme
nicht mehr existieren oder nie existiert haben. Und als
Realität. Einer Realität, in der sich auch die Zukunft
unserer Städte zeigt, ob wir das wollen oder nicht. Zumindest
auf der UN-Ebene ist diese Botschaft angekommen. Als vor vier
Jahren in Berlin der "Weltkongress der Städte" Urban 21
stattfand, war erstaunlich wenig von der Europäischen Stadt
die Rede, umso mehr dagegen von neuen Formen der städtischen
Teilhabe, von Good-Governance und einem neuen Umgang mit den
städtischen und sozialen Peripherien. Ohne dass es hierzulande
zur Kenntnis genommen wurde, hat sich in den Megacities der Dritten
Welt nämlich ein Paradigmenwechsel vollzogen: weg von der
Bekämpfung und Kriminalisierung der informellen Siedlungen und
Ökonomien, und hin zur Verbesserung der Lebensbedingungen
derer, die in dieser "anderen" Stadt leben.
Natürlich, solch städtisches
Handeln steht nicht mehr in Opposition zur neoliberalen Stadt, zur
Segregation des städtischen Raums, zur Herausbildung einer
städtischen Unterklasse, zur Entstehung städtischer
Parallelwelten. Gleichwohl lässt sich davon auch lernen. Nicht
mehr dem Generalverdacht gegenüber dem "Neoliberalismus von
unten" verpflichtet, geben Vorhaben wie diese den Blick auch frei
auf neue Formen von sozialen Bewegungen, auf die neuen Bedingungen
von Selbstorganisierung und Rückzug, auf kommunale Projekte
wie Bürgerhaushalte, aber auch auf mafiösen Strukturen,
die überall da hineindrängen, wo sich der Staat
zurückzieht.
Denn eines verbietet sich beim Blick auf die
grenzenlose Stadt der Grenzen von selbst: eine Neuauflage der
Naivität, wie sie die urbanistische Debatte der Nachwendezeit
gekennzeichnet hat. Deregulierung, das ist in der postmodernen
Stadt nicht anders als in der Zeit ihrer Vormoderne, bedeutet immer
auch Entrechtlichung. Es bedeutet auch, dass das Recht im 21.
Jahrhundert wieder, wie schon im 19. Jahrhundert, erkämpft
werden muss. Nun aber nicht mehr auf nationaler Ebene, sondern in
den Städten, dort wo sich längst die erste und die dritte
Welt begegnen.
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