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Johannes Schradi
Wer zu spät kommt, den bestraft die
Globalisierung
Mit dem Ende der Blockkonfrontation kam die
Unübersichtlichkeit
"Wer zu spät kommt, den bestraft das
Leben." Zum geflügelten Wort geworden ist dieser Satz Michail
Gorbatschows, den er im Herbst 1989 den SED-Oberen mit auf ihren
weiteren kurzen Weg gab. Und noch immer hat er jenes
aufrüttelnd Befreiende, als das er damals in Deutschland
(West) und vor allem natürlich in Deutschland (Ost) genommen
wurde - bei aller zwischenzeitlichen Abnutzung. Doch stimmt der
Satz überhaupt? Wie geordnet war doch die Welt vor diesem
Wetterleuchten - zu Zeiten der wie in Beton gegossenen
Weltblöcke. Sind wir, die noch rechtzeitig Gekommenen, nicht
vom Regen in die Traufe geraten? Hineingestürzt in eine
schlimme Weltunordnung, in eine Weltunübersichtlichkeit
sondergleichen?
Als ein anheimelnder Ort hat sich das
"globale Dorf" jedenfalls nicht erwiesen, von dem schon früh
einmal die Rede war. Trotz oder wegen aller Echtzeit-Teilhabe in
Bild und Ton am Weltgeschehen - vom Politiker-Spaziergang in Sea
Island bis hin zur Enthauptung von im Irak Gekidnappten im
Internet. Und dass manche Büroarbeit genauso gut in Kalkutta
erledigt werden kann wie daheim, ist eher befremdlich als
beruhigend.
Ja, Deutschland selber scheint nicht mehr
verlässlich fest gefügt zu sein. Nicht nur, dass sich die
Kluft zwischen Ost und West nicht schließen will. Die Wogen
der Globalisierung branden an, und das zeigt sich nicht nur am
Hemden-Etikett mit der Aufschrift Made in Bangladesh.
Leichtlohn-Zumutungen stehen ins Haus und teurerer Zahnersatz
sowieso; der alte westdeutsche Sozialstaat ist unbezahlbar
geworden, plötzlich erweist sich: er war eine
Wohlfahrtsveranstaltung ohne gedeckten Wechsel (wie auch, auf
andere Weise, die DDR). Auf dem Bahnsteig darf sich Kind wie Greis
vom eigenen Koffer gerade mal einen knappen Meter entfernen, sonst
droht Terroralarm. Selbst die militärische Verteidigung des
Vaterlandes ist nicht mehr das, was sie war. Sie findet heute, sagt
der zuständige Minister Peter Struck, auch am Hindukusch statt
- irgendwo in der Unendlichkeit des afghanischen Hinterlands. Und
Afrika, so ist immer öfter zu hören, sei jetzt unser
unmittelbarer Nachbar.
Bei so viel Entgrenzung neuen Halt und neue
Orientierung zu gewinnen, politisch wie im eigenen
Gefühlshaushalt, ist kein unbilliger Wunsch. Es ist eine
Notwendigkeit. An Versuchen, sie zu bieten, fehlt es nicht. Und nur
naheliegend war es, dabei am Festgefügten anzuknüpfen: an
der vertrauten Blockkonfrontation. Getreu dem Motto, mag die
Geschichte noch so von Brüchen durchzogen sein, stets gibt es
auch Beständiges. Der sicher meist diskutierte
Welterklärer ist in letzter Zeit der Amerikaner Samuel P.
Huntington mit seinem Buch The Clash of Civilizations (deutsch:
Kampf der Kulturen) gewesen. Wobei es hilfreich ist zu wissen, dass
der Harvardprofessor einem Institut vorsteht, zu dessen Aufgaben es
schon damals, 1996, gehörte, der US-amerikanischen Regierung -
also der einzigen verbliebenen Weltmacht - in Sicherheitsfragen zur
Seite zu stehen.
Was sagt uns Huntington? Auf einen kurzen und
zugegeben versimpelten Nenner gebracht, sagt er: Schütze
deinen eigenen (bedrohten) Kulturkreis, hüte dich vor anderen,
vor allem nimm dich in Acht vor dem islamischen. Das ist zwar nicht
sonderlich hilfreich dabei, mit solchen globalen Bedrohungen wie
der stürmisch fortschreitenden ökonomischen Entgrenzung
oder den Klimakillern Ozon und Kohlendioxid anders und besser
umzugehen. Und es erspart auch nicht die Notwendigkeit,
darüber nachzudenken, wie der existenziell großen Not
anderswo auf der Welt begegnet werden kann. Aber es verheißt
mehr Selbstgewissheit, wo man selber hingehört. In Abgrenzung
zu all dem Durcheinander draußen. Nicht zufällig
heißt ein Kapitel in Huntingtons Buch: "Der Westen und der
Rest der Welt."
Nun übersetzt man "Clash" am
treffendsten mit Zusammenprall. Und so ist es auch kein Wunder,
dass Huntingtons Kernthese nach dem 11. September 2001 in Talkshows
und sonst wo besonders stark öffentlich erörtert wurde.
Zwei Passagierflugzeuge waren in die New Yorker Twin Towers gerast
- dorthin gesteuert von islamistischen Terroristen, im Namen einer
anti-westlichen Gegenkultur. Amerika hatte die noch nie da gewesene
Erfahrung eigener Verwundbarkeit gemacht, auf eigenem Territorium.
Ein wahr gewordener Albtraum - und einer, zu dem das Huntingtonsche
Weltgemälde ganz gut passte.
Das Weitere ist bekannt. In der von
US-Präsident George W. Bush sogleich ausgemachten globalen
"Achse des Bösen", der mit einer "Koalition der Willigen" zu
begegnen sei, spiegelt sich die alte, so kommod gewesene
Zweiteilung der Welt in eine gute und eine schlechte wider. Auch
gedankliche Anleihen bei Samual P. Huntington sind
unübersehbar. Als kleine spielerische Abwandlung von beidem
mag man die erstaunliche, alle Geografie und Geschichte
ignorierende Unterscheidung des US-Verteidigungsministers Donald
Rumsfeld in ein "neues" Europa betrachten, das die Zeichen der Zeit
erkannt hat, und ein "altes", das sich ihnen bockig und
uneinsichtig widersetzt.
Man kann auch nicht sagen, dass sie viel
eingebracht hätte. Es war eine Stichelei aus
vordergründigen politischen Motiven: geschuldet dem
vergeblichen Werben, doch bitte am Krieg gegen den Irak
teilzunehmen. Aber der "Krieg gegen den Terrorismus" und die "Achse
des Bösen" hat - nun, da er gegen alle Warnungen doch
geführt wurde - die Welt nicht friedlicher, sondern unsicherer
gemacht. Das stellte das neueste Friedensgutachten 2004 von
fünf deutschen Forschungsinstituten noch einmal fest - und so
wird es ja auch allenthalben empfunden. Wenn aber der Wunsch nach
Orientierung und Geborgenheit mittels großen Erklärungen
wie dem Kampf der Kulturen keinen Halt findet, wo dann?
Wie ein Zauberwort begleitet uns seit einiger
Zeit der Begriff der "europäischen Identität". Zwar
können viele Menschen schwerlich die 25 Länder
aufzählen, die seit diesem Frühsommer unterm Dach der
Europäischen Union versammelt sind - und Europa endet ja auch
nicht an der weißrussischen Grenze, wo die Radsätze der
Eisenbahnwaggons für eine Spurbreite ausgetauscht werden, die
dann allerdings weit aus Europa hinausführt. Aber wenigstens
handelt es sich bei diesem Europa um einen Raum, der noch halbwegs
überschaubar erscheint. Und das auch dann, wenn man selber
noch nie in Valetta, Dublin, Tallinn oder selbst in Paris und
Warschau gewesen ist. Allein, dass diese Orte in Europa liegen, hat
etwas Tröstliches.
Das europäische Haus, sagen Politiker
indessen gern, müsse noch "mit Leben erfüllt" werden. Sie
meinen damit in erster Linie das Funktionieren der
EU-Institutionen. Aber sie wissen auch, dass sich die Bürger -
gleich ob sie in Deutschland, Portugal oder Slowenien leben - durch
diese Institutionen vertreten fühlen müssen, noch besser:
sich in ihnen wiedererkennen sollten. Aber so weit ist es noch
nicht. Bei den ersten Wahlen zum erweiterten Europäischen
Parlament vor einigen Wochen hatten sie vor allem eines im Sinn:
quer durch Europa ihre eigenen nationalen Regierungen abzustrafen -
für alles Mögliche, was gerade zu Hause als Zumutung oder
Ärgernis empfunden wurde.
Ganz alltagspraktisch betrachtet, ist es mit
dem europäischen Wir-Gefühl nicht weit her. Es gibt
vielmehr einen Rückzug ins Lokale und Regionale. Und wer
unterm Stichwort "Europäische Identität" deutsche
Partei-, Wahl- und Regierungsprogramme durchforstet, stellt fest:
Alle Parteien verstehen darunter, was sie gerade selber als
besonders sinn- und identitätsstiftend ansehen: die
Sozialdemokraten den Solidargedanken, die Union die
Wertegemeinschaft, die Grünen das öko-soziale Gewissen
und die Liberalen den weltläufigen libertären
Bürgermenschen. Dabei gehörte doch, könnte man
meinen, das alles zusammengebracht.
Ängste der Menschen
dämpfen
Ein so faszinierendes Projekt wie die
Schaffung eines "Sozialraums Europa" geistert zwar gelegentlich
durch die Köpfe von Politikern und Politologen;
tatkräftig angepackt wird es von niemandem. Dabei wäre
doch gerade ein solcher Vorsatz geeignet, die Ängste der
Menschen vor den Zumutungen der "von außen" über sie
kommenden Globalisierung zu dämpfen. Und mit Einigeln im
Eigenen müsste es überhaupt nicht einhergehen - im
Gegenteil. Offenheit gegenüber dem Anderen sollte gerade eines
seiner Markenzeichen sein. Eine Art Lackmustest für diese
Fähigkeit könnte sein, ob es gelingt, die Türkei ins
vereinte Europa zu integrieren. Nicht ohne Bedingungen - aber ohne
dieses Land auf der Schwelle zu einem anderen Kulturkreis seiner
Identität berauben zu wollen, die nicht zuletzt eine
religiöse, eben islamische ist.
Ein Lackmustest ist schon jetzt, wie wir mit
dem Thema Zuwanderung umzugehen verstehen. Und der Terrorismus?
Armut und Ungleichheit anderswo sind nicht seine Ursachen,
heißt es immer wieder, aber sie sind ein Nährboden
für ihn. Der Terrorismus wird nur zu besiegen sein, wenn es
gelingt, ihm diesen Humus zu entziehen. Eine "Achse des Bösen"
quer durch die Welt zu legen, hilft dabei nicht weiter. Die neuen
"asymmetrischen Kriege" sind mit Bomben-Power nicht wirklich zu
gewinnen; kein Selbstmordattentäter wird ihretwegen von seinem
Plan ablassen. Gefragt ist Soft-Power, gerade auch europäische
Soft-Power. Sie benötigt einen militärischen Arm, das
schon. Sonst wirkte sie bloß weichmütig und bräuchte
nicht ernst genommen werden. Aber ihre eigentliche Stärke muss
anderswo liegen: bei ziviler Krisenprävention und
Konflikteindämmung, mit den Mitteln ökonomischer
Einbindung, durch den Einsatz multilateral abgestimmter Diplomatie,
durch Entwicklungszusammenarbeit mit alarmierend armen
Weltgegenden. Was kann daran so schmerzlich sein, für
letzteres mehr als jene dünnen 0,28 Prozent des
Bruttonationalprodukts abzuzweigen, die es in Deutschland sind. Der
kleine Nachbar Niederlande bringt es auf fast das
Dreifache.
Alles ein bisschen viel. Zu viel? Die
Entgrenzung der Welt nach dem Ende der Blockkonfrontation - sie ist
schwerlich wieder einzufangen. Weder mit bipolaren
Gedankenkonstrukten noch durch ängstlichen Rückzug ins
Nationalstaatliche. Es kommt darauf an, die richtige Mischung aus
neuer Offenheit und alter Selbstverortung zu finden - politisch,
ökonomisch, sozial, kulturell. Europa ist dafür nicht der
schlechteste Erprobungsraum. Wer zu spät kommt, den bestraft
die Globalisierung. Johannes Schradi arbeitet als freier
Journalist
in Berlin.
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