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Mathias Albert
Die Erde auf dem Weg zur Weltstaatlichkeit
Das Recht braucht keine territorialen Grenzen -
im globalen Kontext bilden sich Formen "komplexer
Souveränität" heraus
Das Recht scheint nicht mehr viel zu gelten in
der Weltgesellschaft. Der jüngste Irak-Krieg erfolgte ohne
explizite Autorisierung durch den Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen. Dem neu gegründeten Internationalen Strafgerichtshof
bleibt eine Reihe wichtiger Staaten weiterhin fern. Die Bilder von
Folterungen irakischer Kriegsgefangener erschüttern das
ohnehin schon brüchige Vertrauen weiter Teile der
Weltbevölkerung in die rechten und rechtlichen Absichten des
größten Rechtsstaates der Welt. Und einige Krisengebiete
der Welt stellen bereits seit Jahren weitgehend rechtsfreie
Räume dar.
Entgegen derartigen, wenig hoffnungsfroh
stimmenden Entwicklungen steht jedoch auch eine Reihe anderer
Eindrücke: im Mai 2004 wurde in den USA zum ersten Mal ein
Todesurteil mit ausdrücklichem Verweis auf internationales
Recht aufgehoben; die Volksrepublik China verankerte
ausdrücklich einen Bezug auf die Menschenrechte in ihrer
Verfassung; und schließlich hat der Internationale
Strafgerichtshof seine Arbeit aufgenommen.
Gerade am Beispiel des Internationalen
Strafgerichtshofs lässt sich anschaulich aufzeigen, wie
unterschiedlich die Zeichen der Zeit gedeutet werden können:
man kann die Blockadehaltung einiger Staaten, ja das aktive
Torpedieren der Ziele des Gerichtshofes durch Bemühungen der
USA, mittels bilateraler Abkommen die Überstellung von
US-Bürgern an den Gerichtshof zu verhindern, als Scheitern des
Projekts werten, erstmals dauerhaft eine internationale
Strafgerichtsbarkeit zu etablieren. Man kann aber auch gerade die
Tatsache, dass sich eine solche internationale Strafgerichtsbarkeit
trotz des Widerstandes der USA etabliert hat, als Erfolgsmeldung im
Sinne eines Reifungsprozesses des Völkerrechts interpretieren:
So gesehen, wäre es um das Recht in der Weltgesellschaft
weitaus besser bestellt, als dies zunächst den Anschein haben
mag.
Unbestritten ist, dass die "Rechtsmasse" in
der Weltgesellschaft, dass die Menge des Rechts jenseits der
Nationalstaaten in einer kaum überschaubaren Maschinerie der
Norm- und Regelgenerierung sowie der Institutionenbildung immer
weiter zunimmt. Damit ist nicht nur das klassische Völkerrecht
angesprochen, das weiterhin fast ausschließlich souveräne
Staaten als vollmündige Rechtssubjekte anerkennt. Vielmehr ist
damit ein ausufernder Prozess globaler Rechtsentwicklung gemeint,
der die rechtliche beziehungsweise rechtsförmige Regelung
unterschiedlichster Bereiche umspannt. Nicht nur die Staaten
gießen internationale Kooperation zunehmend in Rechtsformen.
Vielmehr entwickelt sich ein Korpus transnationalen Rechts ohne
maßgeblichen Einfluss der Staaten. Am meisten diskutiert wird
in diesem Zusammenhang die Entwicklung eines wesentlich von
privaten Akteuren wie etwa der Internationalen Handelskammer
ausgeprägten Norm- und Schiedssystems im Bereich des
transnationalen Handels (der so genannten "lex mercatoria").
Jenseits von Fragen des Handels haben darüber hinaus
vielfältige Untersuchungen zur "Privatisierung" der
Weltpolitik, zur Herausbildung von privaten Steuerungsregimes im
globalen Kontext nachgewiesen, dass es sich hier um eine
umfassendere Entwicklung handelt, in welcher sich der Bestand
rechtlicher Normen in der Weltgesellschaft jenseits staatlichen und
zwischenstaatlichen Rechts vermehrt durch die Tätigkeit oder
doch zumindest unter der wesentlichen Beteiligung privater Akteure
fortentwickelt.
Recht ohne Staat und Politik
Das quantitative "Wuchern" von Rechtsnormen
in der Weltgesellschaft ließe sich zunächst noch als
relativ unspektakulärer und im Sinne globaler
Modernisierungsdynamiken erwartbarer, mangels Durchsetzungsmacht
jedoch folgenloser Prozess globaler Verrechtlichung abtun. Aber
gerade hier fällt die neue Qualität ins Auge, welche
dieser Verrechtlichungsprozess in den vergangenen Jahren gewonnen
hat: ob private Schiedsgerichte etwa bei der Internationalen
Handelskammer (ICC), staatliche Schiedsgerichte wie etwa bei der
Welthandelsorganisation (WTO), oder aber der Internationale
Strafgerichtshof (ICC): sie alle stehen für eine zunehmende
Ausbildung von Sekundärnormen im Recht der Weltgesellschaft,
das heißt Normen, welche nicht nur Regeln aufstellen, sondern
Verfahren bei Regelverstößen festlegen oder Bestimmungen
für den Umgang mit widerstreitenden Regeln (so genannte
Kollisionsnormen) enthalten. Hierin zeigt sich eine nachhaltige
Reifung des Rechts jenseits des Nationalstaates.
Insgesamt deuten diese Tendenzen darauf hin,
dass sich das Recht der Weltgesellschaft zunehmend eigendynamisch
entwickelt. So beschreibt etwa die soziologische Systemtheorie
diesen Prozess als die Evolution eines eigenständigen,
selbstreferentiellen Funktionssystems "Recht" in der
Weltgesellschaft; aber auch aus anderen soziologischen Traditionen
lassen sich ähnliche Diagnosen ableiten, so etwa, wenn die
globale Rechtsentwicklung als Ergebnis der Tätigkeit und des
Kommunikationszusammenhangs einer Gemeinschaft von "international
lawyers" und von "Rechtsunternehmern" interpretiert wird. Besonders
deutlich wird die Eigendynamik dieser Entwicklung in Bezug auf die
Tätigkeit des Europäischen Gerichtshofes, der durch seine
Rechtsprechung, vor allem aber auch durch seine Inanspruchnahme
durch nationale Rechtssysteme schon lange als Motor einer nicht
mehr vorrangig politisch gesteuerten Rechtsevolution im Rahmen der
Europäischen Union gelten kann.
Die geschilderte Entwicklung - wie auch die
Entwicklung des Völkerrechts in seiner Gesamtheit -
demonstriert eindrucksvoll, dass staatliche Souveränität
und eine letztlich mit dem staatlichen Monopol legitimer
Gewaltanwendung verknüpfte Rechtsdurchsetzung nicht notwendig
für die Rechtsgeltung sind, wie es durch Rechtsauffassungen in
der Tradition Austins nahegelegt wird. Ein Monopol legitimer
Gewaltanwendung (ob die des souveränen Nationalstaates, des
UN-Sicherheitsrates oder eines anderen Gebildes) stellt sicherlich
in Bezug auf bestimmte Formen des Rechts die beste Voraussetzung
für die Rechtsdurchsetzung dar, ist aber nicht notwendige
Bedingung für die Geltung jedweden Rechts.
So verstanden, "braucht" das Recht daher
insbesondere auch keine territorialen Grenzen. Die Funktion von
territorialen Grenzen für das Recht leitet sich allein aus
einer Vorstellung ab, nach der die Geltung des Rechts letztendlich
nur auf der Legitimationsgrundlage souveräner Staatlichkeit
aufbauen kann. Diese Auffassung wird aber um so fragwürdiger,
wenn man gerade der Souveränität keine
rechtsunabhängige, gleichsam übernatürliche Existenz
zuspricht, aus welchem sich dann das Recht ableiten würde. Mit
dem Recht und der Globalisierung des Rechts verändern sich
erstens die Form und Funktion von Souveränität als
Institution. In Bezug auf die Souveränität als einer
Letztbegründungsfiktion des Rechts können zudem zweitens
die angesprochenen Prozesse der Rechtsentwicklung kaum als ein
"Mehr" oder "Weniger" an Souveränität qualifiziert
werden. Vielmehr bilden sich im globalen Kontext Formen von
"komplexer Souveränität" heraus.
Anderer Blick auf territoriale
Grenzen
Wenn demgemäß Grenzen nicht
zwingend notwendig für das Recht einer Weltgesellschaft sind,
läge dann nicht gerade in der globalen Rechtsentwicklung der
Ansatz für eine grenzenlose Welt? Gälte Ähnliches
mithin nicht auch für die Politik? Betrachtet man Recht und
Politik aus einer weltgesellschaftlichen Perspektive, dann wandelt
sich der Blick auf territoriale Grenzen. Territoriale Grenzen
konstituieren dann nicht mehr nationalstaatliche politische und
rechtliche Räume. Vielmehr erscheinen sie als Form der inneren
Differenzierung globaler Räume. Internationale und globale
Politik "entstehen" in dieser Perspektive nicht wundersamerweise
aus der Interaktion von wesensmäßig unabhängigen,
dieser Interaktion vorgelagerten Einheiten, den Staaten.
Es gibt nur ein politisches System in der
Weltgesellschaft, das jedoch nicht aus Territorialstaaten
"zusammengesetzt", sondern in weiten Teilen intern in territoriale
Segmente differenziert ist. Eine solche Perspektive erlaubt es
anzuerkennen, dass sich ein Großteil von Politik weiterhin
innerhalb von Nationalstaaten abspielt. Die zunehmende Bedeutung
internationaler, transnationaler und globaler Politikprozesse
erscheint dann jedoch nicht als eine "Auflösung" territorialer
Grenzen - ganz im Gegenteil. Die zunehmende Bedeutung globaler
Politikprozesse verweist auf einen Wandel der Bedeutung und der
Funktion territorialer Grenzen im politischen System der
Weltgesellschaft. Das politische System der Weltgesellschaft
differenziert und strukturiert sich immer weniger entlang
territorialer Grenzen, sondern zunehmend entlang funktionaler
Erfordernisse. Genauso wenig wie die Entwicklung eines globalen
Rechtssystems bedeutet, dass nationale Rechtsordnungen ersatzlos
wegfallen, bedeutet dies, dass nationalstaatliche politische
Ordnungen obsolet werden. Das politische System macht mithin nur
einen ähnlichen Wandlungsprozess wie das Rechtssystem durch.
Grenzen bleiben dabei weiterhin wichtig, aber diese Grenzen sind
immer weniger territorialer Natur.
Ein souveräner "Weltstaat", in welchem
territoriale Grenzen für Politik und Recht keine herausragende
Bedeutung mehr besitzen, entsteht nicht. Das Rechts- wie auch das
politische System der Weltgesellschaft reifen jedoch in einem
Maße heran, dass es durchaus berechtigt erscheint, hier eine
entstehende Weltstaatlichkeit zu diagnostizieren. Damit ist nichts
anderes gemeint, als dass Orte kollektiven Handelns und kollektiv
verbindlichen Entscheidens, dass politische Strukturen und
Institutionen ähnlich wie in der skizzierten Entwicklung des
Rechts sich nicht mehr vorrangig anhand territorialstaatlicher
Unterscheidungen ordnen lassen. Weltstaatlichkeit bedeutet, dass
wichtige Funktionen politischen Handelns und der Rechtsprechung auf
unterschiedliche Orte im und jenseits des Nationalstaates
diffundieren. Der National- beziehungsweise Territorialstaat bleibt
in diesem Sinne Teil einer solchen Weltstaatlichkeit und ist ihr
nicht entgegengesetzt.
"Weltstaatlichkeit" meint dabei aber mehr als
den geläufigen Begriff der "Global Governance". Die Rede von
der Weltstaatlichkeit betont zum einen, dass es nicht nur um
"Global Governance" im vermeintlich neutralen Sinne einer
politischen Steuerung jenseits des Nationalstaates geht, sondern
dass der Entwicklungs- und Reifeprozess des politischen Systems und
des Rechtssystems der Weltgesellschaft hier zusammen zu sehen sind.
Sie betont darüber hinaus aber zum anderen auch, dass sich
hinter dem Reifungsprozess des politischen Systems der
Weltgesellschaft, wenn auch nur in Ansätzen, Elemente
politischer Gemeinschaftsbildung ausmachen lassen. Diese politische
Gemeinschaft etabliert sich zwar weiterhin vorrangig temporär
und punktuell und ist dabei auf die globale Skandalisierung von
Ereignissen angewiesen (vom 11. September bis zu den Folterungen im
Irak). Sie verfestigt sich aber teilweise bereits zu globalen
parteilichen Auseinandersetzungen, wie etwa in der
alljährlichen Entgegensetzung des Weltwirtschafts- und des
Weltsozialforums deutlich wird. Davos und Porto Allegre stehen in
diesem Sinne gerade aufgrund der sich darin widerspiegelnden
Partikularinteressen für die Reifung eines weltpolitischen
Systems.
Die Diagnose der Herausbildung einer Art
Weltstaatlichkeit ohne Weltstaat aufgrund des Reifungsprozesses des
politischen Systems und des Rechtssystems der Weltgesellschaft ist
zunächst nicht mehr und nicht weniger als dieses - eine
Diagnose. Die normative Bewertung dieser Entwicklung steht auf
einem ganz anderen Blatt. Es erscheint unbestreitbar, dass ein
potenzieller Gewinn an rechtlichen und politischen
Gestaltungsmöglichkeiten jenseits des Nationalstaates mit
einem teilweise Verlust an demokratischer Legitimität
einhergeht. Ein solcher Verlust demokratischer Legitimität
soll und darf nicht dazu führen, die Entwicklung der Politik
und des Rechts der Weltgesellschaft nicht beim weltstaatlichen
Namen zu nennen und sie geradezu zwanghaft auf nationalstaatliche
Grundkategorien zu reduzieren. Ein solcher Verlust an
demokratischer Legitimität weist vielmehr darauf hin, dass die
Herausbildung von Weltstaatlichkeit allem voran politischer
Gestaltung bedarf.
Mathias Albert ist Professor für
Politikwissenschaft an der Universität Bielefeld und Mitglied
im Geschäftsführenden Vorstand des Instituts für
Weltgesellschaft.
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