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Alexander Weinlein
Auf dem Weg nach Frankreich: über die Lauter
zu leiblichen Genüssen
Grenzbesuch
Grenzbesuch
Auf dem Weg nach Frankreich: über die Lauter zu leiblichen
Genüssen
Plötzlich ist man in Frankreich, genauer gesagt im
Département Bas Rhin, und hätte es beinahe gar nicht
bemerkt: Die deutsche B9 wird übergangslos zur
französischen A35, der Grenzübergang bei Lauterbourg ist
verwaist, kein Zöllner fragt nach dem Pass. Wehten nicht
"Schwarz-Rot-Gold" und "Bleu-Blanc-Rouge" an den Fahnenmasten, die
Zollgebäude wären als solche kaum noch zu erkennen. Nur
dann und wann lässt sich ein Wagen des Bundesgrenzschutzes
oder der französischen Kollegen blicken.
Die vielen Autos mit deutschen Kennzeichen sind auf den
Straßen des Elsasses nicht zu übersehen. Das Land
zwischen Vogesen und Rhein übt auf die Deutschen eine
große Anziehungskraft aus - vor allem auf ihre Mägen.
Zwischen Wissem-
bourg im Norden über Strasbourg nach Mulhouse im Süden
belagern sie die Gourmet-Tempel und Landgasthöfe. Zu meist
angemessenen Preisen lassen sie sich lukullisch verwöhnen: sei
es nun mit der feinen französischen Küche oder handfesten
Elsässer Spezialitäten wie Baeckeoffe, Flammkuchen oder
Guglhupf. Wer dann noch nicht genug hat, steuert nach dem
Verdauungsschnaps den nächstgelegenen "Supermarché" an.
Vor deren Toren werden kistenweise Rotwein oder "Crémant", das
Elsässer Pendant zum französischen Champagner, in die
Kofferräume von VW, BMW und Mercedes gestapelt - garniert mit
frischen Baguettes und Gänseleberpastete.
Verlässt man bei Lauterbourg die A 35 und folgt der
Landstraße nach Westen, so erreicht man die 750-Seelengemeinde
Scheibenhard an der Lauter. Der kleine Fluss bildet dort seit dem
Wiener Kongress die Grenze zu Deutschland und zur deutschen
Nachbargemeinde Scheibenhardt - ebenfalls rund 750 Einwohner.
Leicht zu unterscheiden: "dt" am Ende wie "deutsch". Als in der
Silvesternacht 1992/93 die Zollgrenzen in der EU fielen, feierten
Scheibenhardter und Scheibenharder auf der Lauterbrücke
ausgelassen eine Art friedliche "Wiedervereinigung". Die
deutsch-französische Fehde sollte endlich der Vergangenheit
angehören, Zusammenarbeit war und ist angesagt.
Doch während Konflikte verschwanden, entstanden auch neue.
Ein Beispiel: Die Deutschen investieren ihr Geld nicht nur gerne in
leibliche Genüsse - sie bleiben auch ebenso gerne auf Dauer.
Die Grundstücks- und Immobilienpreise waren Anfang der
90er-Jahre so viel günstiger, dass so mancher Badener und
Pfälzer sich hier ein neues Domizil suchte; vorzugsweise ein
schmuckes altes Fachwerkhaus. Schöner Wohnen im Elsass,
weniger Steuern zahlen in Frankreich, Geld verdienen in
Deutschland. Die Immobilienpreise stiegen, die Stimmung auf der
elsässischen Seite sank. Prinzipiell verstehen sich die "Erben
Karls des Großen" am Oberrhein aber recht gut. Auch wenn die
Bereitschaft, die Sprache des Nachbarn zu erlernen, noch etwas
größer sein dürfte.
Ob das Elsässische als deutscher Dialekt im
französischen Zentralstaat auf Dauer überlebt, bleibt
abzuwarten. Bislang zeigen sich die Elsässer jedoch als wahre
Überlebenskünstler: Allein in den 75 Jahren zwischen
zwischen 1870/71 und 1945 wechselte ihre Heimat, ebenso wie das
benachbarte Lothringen, viermal den Besitzer. Erst kam der deutsche
Kaiser, dann wieder die Franzosen, dann die Nazis und
schließlich wieder die Franzosen. Dieses Hin- und Hergeschubse
zwischen Paris und Berlin, und die Erfahrung, von beiden Seiten
nicht für vollwertig genommen zu werden - als "Boches"
beschimpft, als "Rucksackfranzosen belächelt -, ließ eine
eigene Identität entstehen: "In erster Linie sind wir
Elsässer, in zweiter Linie Franzosen, aber bestimmt keine
Deutschen", ist eine gängige Antwort, wenn man die Menschen in
der Region nach ihrem Zugehörigkeitsgefühl befragt.
Böse ist das nicht gemeint. Es spricht aber von leidvollen
Erfahrungen - mit und auf beiden Seiten.
Wer sich eine genauere Vorstellung von der Mentalität der
Elsässer und ihrer wechselvollen Geschichte machen will, dem
sei der autobiografische, humorvolle Roman "Die Linden von
Lautenbach" von Jean Egen empfohlen. Er erzählt die Geschichte
eines 1920 im Elsass geborenen Kindes, dass sich zwischen zwei
Nationen hin- und hergerissen fühlt, geschrieben in
Französisch ("in dieser Sprache habe ich schreiben gelernt")
und ins Deutsche übersetzt ("durch den Dialekt habe ich in
dieser Sprache zu träumen begonnen"). Egen berichtet:
"Vornamen, die in der französischen Sprache wie Kristall
klingen, scheppern im Elsässischen wie rostiges Blech, meine
Onkel, Charles, Edouard, Joseph, Hubert, werden zu Schari, Wari,
Seppi, Hüppri, und Jeanne und Marguerite werden zu Schanni und
Greti. Im übrigen besitzen wir Klänge, die eine
französische Kehle nicht herausbringt. Unsere Kehlen sind mit
Meerretich, Münsterkäse, Sauerkraut und Kirsch gebeizt,
und der Dialekt klingt eben, wie diese Schätze unseres Bodens
schmecken. Herb und Stolz." Alexander Weinlein
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