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Dirk Klose
Auf dem Weg in die Schweiz staunt man über
ganz andere Qualitäten
Grenzbesuch
Grenzbesuch
Auf dem Weg in die Schweiz staunt man über ganz andere
Qualitäten
Fuhr man in den 50er- und auch noch in den 60er-Jahren aus der
noch immer etwas vom Krieg gezeichneten Bundesrepublik in die
Schweiz, so kam man aus dem Staunen nicht heraus: Alles war so
unglaublich sauber, alles in Ordnung, nichts zerstört, eine
wohltuende Gediegenheit, bei der man spürte, dass man sie noch
lange nicht erreicht haben wird. Heute haben sich die Unterschiede
natürlich abgeschwächt, und doch hat man noch immer den
Eindruck, im Schweizer Alltag sei alles irgendwie solider,
ordentlicher, von besserer Quali-
tät. Das beginnt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln,
mit den Auslagen in den Geschäften, den Verpackungen in den
Supermärkten; ja selbst ein Brief aus der Schweiz ist von
einer (Papier-) Qualität, die hierzulande nicht die Regel
ist.
Die Kehrseite: für Auswärtige wirkt alles - und ist
wohl auch vieles - vergleichsweise teuer. Man fragt sich, wie der
normale Schweizer Bürger damit zurechtkommt. Und man
kombiniert weiter, dass er ein mit allen Wassern gewaschenes
Schlitzohr sein müsse, um dieser Situation gewachsen zu sein.
Umso größer ist dann das Erstaunen beim ersten
Zusammentreffen, wenn man die treuherzige, etwas bieder klingende
Sprache hört. Die Schweizer wissen das und sehen es nicht
einmal ungern, wenn man sie im ersten Moment unterschätzt. Ihr
Selbstwertgefühl, in einem der stabilsten Staaten der Erde zu
leben, ist so groß, dass sie kritische, zumal abschätzige
Meinungen gar nicht wahrnehmen. Warum sollten sie auch?!
Der Schweiz ist das politisch fast einmalige Kunststück
gelungen, drei von außen geprägte, vor allem über
die Sprache beeinflusste Kulturen, ja auch Nationalitäten, zu
einer homogenen, festen Nation zusammengeschmolzen zu haben. Was
dabei der gemeinsame Nenner ist, das ist den Schweizern mitunter
selbst ein Rätsel. Sicher gehört dazu die direkt gelebte
Demokratie auf kleinstem Raum, aber ebenso die Öffnung
gegenüber der Welt und ihren drängenden Problemen. Im
weltoffenen Genf gründete Henri Dunant das Internationale Rote
Kreuz; die Stadt wurde nach dem Ersten Weltkrieg Sitz des
Völkerbundes; Schweizer Konzerne und Schweizer Banken
prägen heute unübersehbar die internationale Wirtschafts-
und Finanzpolitik.
Die Grenzen gegenüber der Außenwelt waren fast nie
derart hermetische Abgrenzungen, wie man sie weiter nördlich
und östlich kannte. Nach Süden und Westen, also
gegenüber Italien und Frankreich, waren und sind es weiche
Grenzen, die eigentlich jedes Trennende ausschlossen.
Gegenüber dem großen nördlichen Nachbarn ist es doch
etwas komplizierter: Man weiß, man ist in vielerlei Hinsicht -
wirtschaftlich, fiskalisch, kulturell - aufeinander angewiesen. Man
braucht einander, und doch möchte man ganz unabhängig und
souverän sein. Die Bedrohung durch das NS-System ist ebenso
wenig vergessen wie das schlechte Gewissen unterdrückt werden
kann, mit den braunen Machthabern allzu sehr kooperiert zu
haben.
Als man sich wieder sicherer fühlen konnte, machte man auch
die Grenze dicht; mancher Flüchtling, dem man früher
geholfen hätte, kam nicht mehr hinein. Und dann wieder
Großmut und Offenherzigkeit: Schon bald nach dem Ende des
Zweiten Weltkrieges begannen die Bürger der Schweiz, den
notleidenden Nachbarn zu helfen. Heute ist fast vergessen, dass die
Eidgenossen nach 1945 Tausende deutscher Kinder aufnahmen und vor
Hunger und Elend bewahrten. Niemand hatte sie dazu gezwungen,
niemand offiziell darum gebeten. Die Schweiz war es auch, die den
verfemten Deutschen als erste wieder die Hand reichten - zuerst die
Kirchen, dann im Sport (wobei man gleich im ersten
Fußballländerspiel eine Niederlage kassierte),
schließlich in Bildung und Kultur.
Von deutscher Seite wurde die ausgestreckte Hand dankbar
angenommen, ja manchmal fast gierig ergriffen. Max Frisch
beispielsweise, seit Mitte der 50er-Jahre einer der großen
deutschsprachigen Autoren der Nachkriegszeit, wurde von den
Deutschen mitunter so vereinnahmt, dass er einmal erschöpft
nach Zürich zurückkehrte und sich wunderte, warum gerade
er von den Deutschen so intensiv um Rat und Meinung zu ihren
Problemen gefragt werde, er sei doch Schweizer.
Heute hat auch die nördliche Grenze für die
Eidgenossen (fast) alles Trennende verloren. Und doch merkt man
sofort bei jedem Grenzübertritt: Man ist in einem anderen
Land. Was es genau ist, lässt sich präzise kaum sagen,
aber man spürt es, in Basel schon und in Schaffhausen, in
Zürich, in den Urkantonen. Die machen in diesem Sommer etwas
ganz besonders Schönes: Auf der Rütliwiese, ein Schweizer
Urbild schlechthin, wird mehrere Wochen lang Schillers "Wilhelm
Tell" gespielt - in einer Inszenierung des Deutschen
Nationaltheaters Weimar. Dirk Klose Der Autor ist Redakteur bei
"Das Parlament".
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