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Das Parlament
Nr. 35-36 / 23.08.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Karin Kortmann MdB (SPD)

Ein Marshall-Plan mobilisiert Europa

Hunger und Armut breiten sich aus

Vor mehr als 24 Jahren hat Willy Brandt als damaliger Vorsitzender der Unabhängigen Kommission für Internationale Entwicklungsfragen im Einleitungsteil des Abschlussberichtes gemahnt: "Noch nie hat die Menschheit über so vielfältige technische und finanzielle Ressourcen verfügt, um mit Hunger und Armut fertig zu werden. Die gewaltige Aufgabe lässt sich meistern, wenn der notwendige gemeinsame Wille mobilisiert wird." Im Rückblick lässt sich feststellen, dass der gemeinsame Wille zwar immer wieder bei unzähligen UN-Konferenzen, bei den Jahrestagungen von IWF und Weltbank, der WTO und der ILO, bei G7- und G8-Gipfeln propagiert wurde, die weitere notwendige Mobilisierung aber viel zu zaghaft betrieben wird, wenn es darum geht, Know-how, Infrastruktur, Personal und nicht zuletzt Finanzen gemeinsam bereitzustellen um Not zu lindern, Entwicklung zu fördern und wirtschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.

Der gewünschte Schub durch die Beschlüsse der UN-Konferenz in Johannesburg, oder die Umsetzung der Monterrey-Ergebnisse, lassen ebenso auf sich warten, wie der geforderte Paradigmenwechsel nach dem 11. September. Die schnelle Mobilisierung von Geld im Rahmen der Antiterrorbekämpfung und der militärischen Sicherheit zeigt, dass es nicht an den mangelnden Ressourcen, sondern an der Schwerpunktsetzung der internationalen Staatengemeinschaft liegt. Die Zahlungen aller Industrieländer für die Entwicklungszusammenarbeit betrug 2003 lediglich 68,5 Milliarden US-Dollar. Dabei ist der Anteil der Nothilfe an den gesamten EZ-Leistungen seit 1989 wesentlich größer geworden, was die anhaltend hohen Kosten von Konflikten und Naturkatastrophen verdeutlicht und den Umfang der für längerfristige Entwicklung verfügbaren Mittel begrenzt.

Zum Vergleich: Allein zwischen den Jahren 2000 und 2002, stiegen die Militärausgaben weltweit um 78 Milliarden US-Dollar (von 761 Milliarden US-Dollar im Jahr 2000 auf 839 Milliarden US-Dollar 2002). Will die Europäische Union ihre Zusage einhalten, bis zum Jahr 2006 insgesamt 0,39 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit bereitzustellen, dann sind hier noch kräftige Anstrengungen nötig. Ein Zurück hinter die Milleniumsziele würde zu einem Akzeptanzverlust der Vereinten Nationen führen. Wir brauchen deshalb nicht immer neue Beschlusslagen, sondern wir brauchen endlich die Erkenntnis, dass ohne eine weltweite Allianz gegen Armut und Hunger in der Welt Sicherheit, Frieden und Wohlstand keinen Bestand haben werden.

Kampf gegen korrupte Eliten

Hunger und Armut breiten sich insbesondere da aus, wo korrupte und verantwortungslose Eliten und Regierungen Gesellschaft und Wirtschaft in den Ruin treiben, wie Mugabe in Simbabwe, Aristide in Haiti, oder tagtäglich zu sehen bei der sich weiter eskalierenden Tragödie im Sudan. Kommen dann noch Bürgerkriege, wie zum Beispiel seit fast 40 Jahren in Kolumbien und gewaltsame Auseinandersetzungen um knapper werdende Ressourcen, wie in der Region der Großen Seen, wo es um Coltanabbau und den Kampf um das "schwarze Gold" geht, hinzu, dann drohen häufig Staats- und Gesellschaftszerfall und nicht enden wollende Teufelskreise der Armut. In der Regel aber sind sowohl strukturelle Krisenursachen als auch Krisenherde lange vor der gewaltsamen Eskalation bekannt.

Die Bereitschaft, im Bereich der zivilen Krisenprävention und Krisenreaktion die Lücke zwischen Früherkennung, Frühwarnung und frühzeitigem Handeln zu schließen, ist aber immer noch nicht hinreichend entwickelt. Krisen müssen möglichst frühzeitig auf die internationale Tagesordnung gesetzt werden, Aktionspläne zur Beobachtung und Eindämmung entwickelt und entsprechende Ressourcen bereitgestellt werden. Dies betrifft vor allem auch die langfristige strukturelle Vorbeugung durch Förderung einer am Leitbild des gerechten Interessenausgleichs orientierten Entwicklung. Einer Entwicklung, die über eine Verbesserung der wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und politischen Verhältnisse in den Partnerländern zum Abbau struktureller Ursachen von Konflikten, sowie zur Förderung von Mechanismen gewaltfreier Konfliktbearbeitung beiträgt.

Wir haben in Europa gelernt, was es heißt, zu einem neuen politischen, wirtschaftlichen, sozialem, aber auch finanziellem Ausgleich zu kommen. Mit dem Beitritt von weiteren zehn, ehemals verfeindeten Staaten, ist das Ergebnis einer Friedenskonsolidierung, wie wir sie weltweit fördern müssen, am 1. Mai diesen Jahres besiegelt worden. Wir brauchen diese neuen Sicherheitspartnerschaften dringender denn je - weltweit. Die Zeiten, in denen Entwicklungshilfe das Sammeln von Notgroschen für die Armen war und der Neger, als Spardose getarnt, dazu artig nickend in den katholischen Kirchen dankte, oder der kleinräumliche selbsthilfeorientierte Ansatz zur weltweiten Verbesserung der Lebensverhältnisse beitragen, oder gar der Erfolg, sich mit den bilateralen staatlichen Projekten einstellen sollte, diese Ansätze sind ebenso überholt, wie der Glaube an die reine Lehre des Washington Consensus und die Strukturanpassungsprogramme des IWF.

Heute treten an diese Stelle Armutsbekämpfungsstrategien, welche die Länder, unter Beteiligung der Zivilgesellschaft, selbst erstellen. Allerdings ist es den internationalen Finanzinstitutionen bisher nicht gelungen, diese neueren Konzepte systematisch zu Ende zu denken und in einen kohärenten Zusammenhang zu stellen. Deshalb bleibt die Frage, wie das Wirtschaftswachstum in den Entwicklungs- und in den Transformationsländern signifikant erhöht werden kann, weiterhin aktuell. Ohne eine solche wirtschaftliche Dynamisierung kann weder die Schuldentragfähigkeit langfristig gesichert, noch können die so wichtigen Millennium Development Goals (MDGs), die die Vereinten Nationen zur Halbierung des Anteils der an Hunger und Armut leidenden Menschen in der Welt, bis zum Jahr 2015 erreichen wollen, umgesetzt werden:

1. Bekämpfung von extremer Armut und Hunger,

2. Primarschulbildung für alle,

3. Gleichstellung der Geschlechter und Stärkung der Rolle der Frau,

4. Reduzierung der Kindersterblichkeit,

5. Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Mütter,

6. Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und anderer schwerer Krankheiten,

7. Ökologische Nachhaltigkeit,

8. Aufbau einer globalen Partnerschaft für die Entwicklung.

Wir sehen, dass die sozialen, ökonomischen und politischen Probleme und Handlungsansätze eng miteinander verknüpft sind. Sie sind aber nicht, wie es bereits 2002 in Monterrey, bei der UN-Konferenz "Financing for development" vereinbart wurde, allein durch die Hilfe von außen zu lösen, sondern die geteilte Verantwortung kommt den Entwicklungsländern zu. Sie müssen durch gute Regierungsführung Transparenz und Vertrauen und demokratische Strukturen schaffen, Beteiligung ermöglichen, die Zivilgesellschaft befähigen und teilhaben lassen, Korruption bekämpfen und die Menschenrechte wahren, den Rechtsstaat garantieren und die Teilhabe aller an den öffentlichen Gütern garantieren.

Vor diesem Hintergrund stellt der im Januar veröffentlichte OECD-Bericht einige positive langfristige Trends fest, zum Beispiel gibt es mehr Unterstützung für Regierungen, die gute Ergebnisse vorweisen, es gibt zunehmend mehr ungebundene Hilfe und mehr Unterstützung für Politiken, die von den Entwicklungsländern selbst gestaltet werden. In vielen Teilen der Welt ist aber der Lebensstandard heute niedriger als im Jahr 1990. Nach dem jüngsten Bericht der Vereinten Nationen zur menschlichen Entwicklung, ist der Durchschnittsbürger in 46 Ländern der Welt heute ärmer als in den 90er-Jahren. Nach dem Human Development Index (HDI), der sich vorwiegend über das Pro-Kopf-Einkommen, die Lebenserwartung und den Bildungsstand der Bevölkerung errechnet, haben seit 1990 weltweit 20 Länder einen Entwicklungsrückschritt zu beklagen. Damit ist der Index in einer größeren Anzahl von Ländern gesunken als je zuvor. Betroffen sind in erster Linie die Länder im südlichen Afrika, wo die Lebenserwartung, vor allem durch die Ausbreitung von AIDS, in acht Ländern auf 40 Jahre und weniger gesunken ist. Die Millennium Development Goals sind nur dann erreichbar, wenn sich neue Allianzen zur Erreichung dieser Ziele bilden und neben den Regierungen und Parlamenten zivilgesellschaftliche Gruppen, Kirchen und Unternehmen ihren jeweiligen unverzichtbaren Beitrag bereit sind zu leisten.

Ein neuer, sehr viel versprechender Ansatz zeichnet sich dazu auf europäischer Ebene ab. Mit der Gründung der Global Marshall Plan Initiative-planatary contract, im Mai 2003 in Frankfurt/Main, wollen namhafte Einzelpersönlichkeiten und Initiativen, wie zum Beispiel der Club of Rome, der Club of Budapest, der Bundesverband für Wirtschaftsförderung und Außenwirtschaft (BWA), Antriebsmotor für eine effektivere Entwicklungspolitik der Europäischen Union sein. Sie erinnern, dass das zerstörte Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wahrscheinlich nur deshalb eine Startchance erhalten hat, weil die USA bereit waren, ihren Etat für wirtschaftliche Unterstützungsmaßnahmen anderer Länder auf die Rekordhöhe von 1,3 Prozent ihres Bruttosozialprodukts zu erhöhen.

Damit wurde der Marshallplan für das kriegszerstörte Europa finanziert. Er trug entscheidend zum europäischen Wirtschaftswunder bei und zu einer erfolgreichen inneren und äußeren Befriedung. Die Global Marshall Plan Initiative tritt dafür ein, dass sich Europa an die Spitze einer weltweiten Bewegung für einen ökosozialen Global Marshall Plan setzt und sich mit der Ausarbeitung eines Konzeptes zur Implementierung und Finanzierung eines solchen Planes beschäftigt und dieses als offizielle Position Europas auf allen zukünftigen Weltgipfeln vertritt.

Harte Kärrnerarbeit

Das was sich hier in einem Satz zusammengefasst beschreiben lässt, ist harte Kärrnerarbeit, braucht gute überzeugende Umsetzungsschritte, abgestimmte Konzepte und das, was Willy Brandt die Mobilisierung des gemeinsamen politischen Willens nannte. Es geht darum, die Ökonomie mit einem weltweiten Ordnungsrahmen der Märkte auszustatten, die Öffnung der Märkte für die sich entwickelnden Länder zuzulassen, neue zusätzliche Finanzierungsmittel bereit zu stellten (Tobin Tax, Terra-Abgabe, Sonderziehungsrechte) und die Arbeit der bereits vorhandenen Institutionen besser zu verzahnen. Gemessen an unseren eigenen Beschlüssen und Zielsetzungen, müssen wir diese Initiative wirkungsvoll durch den Deutschen Bundestag, das Europaparlament und die Europäische Kommission aufgreifen und umsetzen. Wir haben die historische Chance, uns im neuen Europa, vorbildhaft für das einzusetzen, was wir selbst vor fast 60 Jahren an Hilfe und Unterstützung erhalten haben und zu beweisen, dass ehemalige Kolonialstaaten auch zu starken Entwicklungspartnerschaften fähig sind.

Es wäre gut, wenn wir im kommenden Jahr, wenn nach fünf Jahren die erste internationale Überprüfung zur Erreichung der MDGs ansteht, an der Spitze einer Bewegung stehen könnten, die Europa nicht zu einer Festung werden lässt, sondern zu einem Europa, dass sich für eine Globalisierung der Solidarität und des gerechten Interessenausgleichs stark macht. Die Mehrheit der Europäer erwartet, dass sich die EU verstärkt zu weltpolitischen Themen äußert - auch um das amerikanische Übergewicht bei internationalen Entscheidungen auszugleichen. Hier liegen Entwicklungspotenziale die beispielhaft darstellen könnten, dass die Erreichung der MDGs Sicherheit, Wachstum und Freiheit für uns alle bedeuten könnte. Katrin Kortmann

Die Autorin ist entwicklungspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion.

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