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Karin Kortmann MdB (SPD)
Ein Marshall-Plan mobilisiert Europa
Hunger und Armut breiten sich aus
Vor mehr als 24 Jahren hat Willy Brandt als damaliger
Vorsitzender der Unabhängigen Kommission für
Internationale Entwicklungsfragen im Einleitungsteil des
Abschlussberichtes gemahnt: "Noch nie hat die Menschheit über
so vielfältige technische und finanzielle Ressourcen
verfügt, um mit Hunger und Armut fertig zu werden. Die
gewaltige Aufgabe lässt sich meistern, wenn der notwendige
gemeinsame Wille mobilisiert wird." Im Rückblick lässt
sich feststellen, dass der gemeinsame Wille zwar immer wieder bei
unzähligen UN-Konferenzen, bei den Jahrestagungen von IWF und
Weltbank, der WTO und der ILO, bei G7- und G8-Gipfeln propagiert
wurde, die weitere notwendige Mobilisierung aber viel zu zaghaft
betrieben wird, wenn es darum geht, Know-how, Infrastruktur,
Personal und nicht zuletzt Finanzen gemeinsam bereitzustellen um
Not zu lindern, Entwicklung zu fördern und wirtschaftliche
Teilhabe zu ermöglichen.
Der gewünschte Schub durch die Beschlüsse der
UN-Konferenz in Johannesburg, oder die Umsetzung der
Monterrey-Ergebnisse, lassen ebenso auf sich warten, wie der
geforderte Paradigmenwechsel nach dem 11. September. Die schnelle
Mobilisierung von Geld im Rahmen der Antiterrorbekämpfung und
der militärischen Sicherheit zeigt, dass es nicht an den
mangelnden Ressourcen, sondern an der Schwerpunktsetzung der
internationalen Staatengemeinschaft liegt. Die Zahlungen aller
Industrieländer für die Entwicklungszusammenarbeit betrug
2003 lediglich 68,5 Milliarden US-Dollar. Dabei ist der Anteil der
Nothilfe an den gesamten EZ-Leistungen seit 1989 wesentlich
größer geworden, was die anhaltend hohen Kosten von
Konflikten und Naturkatastrophen verdeutlicht und den Umfang der
für längerfristige Entwicklung verfügbaren Mittel
begrenzt.
Zum Vergleich: Allein zwischen den Jahren 2000 und 2002, stiegen
die Militärausgaben weltweit um 78 Milliarden US-Dollar (von
761 Milliarden US-Dollar im Jahr 2000 auf 839 Milliarden US-Dollar
2002). Will die Europäische Union ihre Zusage einhalten, bis
zum Jahr 2006 insgesamt 0,39 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens
für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit
bereitzustellen, dann sind hier noch kräftige Anstrengungen
nötig. Ein Zurück hinter die Milleniumsziele würde
zu einem Akzeptanzverlust der Vereinten Nationen führen. Wir
brauchen deshalb nicht immer neue Beschlusslagen, sondern wir
brauchen endlich die Erkenntnis, dass ohne eine weltweite Allianz
gegen Armut und Hunger in der Welt Sicherheit, Frieden und
Wohlstand keinen Bestand haben werden.
Kampf gegen korrupte Eliten
Hunger und Armut breiten sich insbesondere da aus, wo korrupte
und verantwortungslose Eliten und Regierungen Gesellschaft und
Wirtschaft in den Ruin treiben, wie Mugabe in Simbabwe, Aristide in
Haiti, oder tagtäglich zu sehen bei der sich weiter
eskalierenden Tragödie im Sudan. Kommen dann noch
Bürgerkriege, wie zum Beispiel seit fast 40 Jahren in
Kolumbien und gewaltsame Auseinandersetzungen um knapper werdende
Ressourcen, wie in der Region der Großen Seen, wo es um
Coltanabbau und den Kampf um das "schwarze Gold" geht, hinzu, dann
drohen häufig Staats- und Gesellschaftszerfall und nicht enden
wollende Teufelskreise der Armut. In der Regel aber sind sowohl
strukturelle Krisenursachen als auch Krisenherde lange vor der
gewaltsamen Eskalation bekannt.
Die Bereitschaft, im Bereich der zivilen Krisenprävention
und Krisenreaktion die Lücke zwischen Früherkennung,
Frühwarnung und frühzeitigem Handeln zu schließen,
ist aber immer noch nicht hinreichend entwickelt. Krisen
müssen möglichst frühzeitig auf die internationale
Tagesordnung gesetzt werden, Aktionspläne zur Beobachtung und
Eindämmung entwickelt und entsprechende Ressourcen
bereitgestellt werden. Dies betrifft vor allem auch die
langfristige strukturelle Vorbeugung durch Förderung einer am
Leitbild des gerechten Interessenausgleichs orientierten
Entwicklung. Einer Entwicklung, die über eine Verbesserung der
wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und politischen
Verhältnisse in den Partnerländern zum Abbau
struktureller Ursachen von Konflikten, sowie zur Förderung von
Mechanismen gewaltfreier Konfliktbearbeitung beiträgt.
Wir haben in Europa gelernt, was es heißt, zu einem neuen
politischen, wirtschaftlichen, sozialem, aber auch finanziellem
Ausgleich zu kommen. Mit dem Beitritt von weiteren zehn, ehemals
verfeindeten Staaten, ist das Ergebnis einer
Friedenskonsolidierung, wie wir sie weltweit fördern
müssen, am 1. Mai diesen Jahres besiegelt worden. Wir brauchen
diese neuen Sicherheitspartnerschaften dringender denn je -
weltweit. Die Zeiten, in denen Entwicklungshilfe das Sammeln von
Notgroschen für die Armen war und der Neger, als Spardose
getarnt, dazu artig nickend in den katholischen Kirchen dankte,
oder der kleinräumliche selbsthilfeorientierte Ansatz zur
weltweiten Verbesserung der Lebensverhältnisse beitragen, oder
gar der Erfolg, sich mit den bilateralen staatlichen Projekten
einstellen sollte, diese Ansätze sind ebenso überholt,
wie der Glaube an die reine Lehre des Washington Consensus und die
Strukturanpassungsprogramme des IWF.
Heute treten an diese Stelle Armutsbekämpfungsstrategien,
welche die Länder, unter Beteiligung der Zivilgesellschaft,
selbst erstellen. Allerdings ist es den internationalen
Finanzinstitutionen bisher nicht gelungen, diese neueren Konzepte
systematisch zu Ende zu denken und in einen kohärenten
Zusammenhang zu stellen. Deshalb bleibt die Frage, wie das
Wirtschaftswachstum in den Entwicklungs- und in den
Transformationsländern signifikant erhöht werden kann,
weiterhin aktuell. Ohne eine solche wirtschaftliche Dynamisierung
kann weder die Schuldentragfähigkeit langfristig gesichert,
noch können die so wichtigen Millennium Development Goals
(MDGs), die die Vereinten Nationen zur Halbierung des Anteils der
an Hunger und Armut leidenden Menschen in der Welt, bis zum Jahr
2015 erreichen wollen, umgesetzt werden:
1. Bekämpfung von extremer Armut und Hunger,
2. Primarschulbildung für alle,
3. Gleichstellung der Geschlechter und Stärkung der Rolle
der Frau,
4. Reduzierung der Kindersterblichkeit,
5. Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Mütter,
6. Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und anderer schwerer
Krankheiten,
7. Ökologische Nachhaltigkeit,
8. Aufbau einer globalen Partnerschaft für die
Entwicklung.
Wir sehen, dass die sozialen, ökonomischen und politischen
Probleme und Handlungsansätze eng miteinander verknüpft
sind. Sie sind aber nicht, wie es bereits 2002 in Monterrey, bei
der UN-Konferenz "Financing for development" vereinbart wurde,
allein durch die Hilfe von außen zu lösen, sondern die
geteilte Verantwortung kommt den Entwicklungsländern zu. Sie
müssen durch gute Regierungsführung Transparenz und
Vertrauen und demokratische Strukturen schaffen, Beteiligung
ermöglichen, die Zivilgesellschaft befähigen und
teilhaben lassen, Korruption bekämpfen und die Menschenrechte
wahren, den Rechtsstaat garantieren und die Teilhabe aller an den
öffentlichen Gütern garantieren.
Vor diesem Hintergrund stellt der im Januar veröffentlichte
OECD-Bericht einige positive langfristige Trends fest, zum Beispiel
gibt es mehr Unterstützung für Regierungen, die gute
Ergebnisse vorweisen, es gibt zunehmend mehr ungebundene Hilfe und
mehr Unterstützung für Politiken, die von den
Entwicklungsländern selbst gestaltet werden. In vielen Teilen
der Welt ist aber der Lebensstandard heute niedriger als im Jahr
1990. Nach dem jüngsten Bericht der Vereinten Nationen zur
menschlichen Entwicklung, ist der Durchschnittsbürger in 46
Ländern der Welt heute ärmer als in den 90er-Jahren. Nach
dem Human Development Index (HDI), der sich vorwiegend über
das Pro-Kopf-Einkommen, die Lebenserwartung und den Bildungsstand
der Bevölkerung errechnet, haben seit 1990 weltweit 20
Länder einen Entwicklungsrückschritt zu beklagen. Damit
ist der Index in einer größeren Anzahl von Ländern
gesunken als je zuvor. Betroffen sind in erster Linie die
Länder im südlichen Afrika, wo die Lebenserwartung, vor
allem durch die Ausbreitung von AIDS, in acht Ländern auf 40
Jahre und weniger gesunken ist. Die Millennium Development Goals
sind nur dann erreichbar, wenn sich neue Allianzen zur Erreichung
dieser Ziele bilden und neben den Regierungen und Parlamenten
zivilgesellschaftliche Gruppen, Kirchen und Unternehmen ihren
jeweiligen unverzichtbaren Beitrag bereit sind zu leisten.
Ein neuer, sehr viel versprechender Ansatz zeichnet sich dazu
auf europäischer Ebene ab. Mit der Gründung der Global
Marshall Plan Initiative-planatary contract, im Mai 2003 in
Frankfurt/Main, wollen namhafte Einzelpersönlichkeiten und
Initiativen, wie zum Beispiel der Club of Rome, der Club of
Budapest, der Bundesverband für Wirtschaftsförderung und
Außenwirtschaft (BWA), Antriebsmotor für eine effektivere
Entwicklungspolitik der Europäischen Union sein. Sie erinnern,
dass das zerstörte Europa nach dem Zweiten Weltkrieg
wahrscheinlich nur deshalb eine Startchance erhalten hat, weil die
USA bereit waren, ihren Etat für wirtschaftliche
Unterstützungsmaßnahmen anderer Länder auf die
Rekordhöhe von 1,3 Prozent ihres Bruttosozialprodukts zu
erhöhen.
Damit wurde der Marshallplan für das kriegszerstörte
Europa finanziert. Er trug entscheidend zum europäischen
Wirtschaftswunder bei und zu einer erfolgreichen inneren und
äußeren Befriedung. Die Global Marshall Plan Initiative
tritt dafür ein, dass sich Europa an die Spitze einer
weltweiten Bewegung für einen ökosozialen Global Marshall
Plan setzt und sich mit der Ausarbeitung eines Konzeptes zur
Implementierung und Finanzierung eines solchen Planes
beschäftigt und dieses als offizielle Position Europas auf
allen zukünftigen Weltgipfeln vertritt.
Harte Kärrnerarbeit
Das was sich hier in einem Satz zusammengefasst beschreiben
lässt, ist harte Kärrnerarbeit, braucht gute
überzeugende Umsetzungsschritte, abgestimmte Konzepte und das,
was Willy Brandt die Mobilisierung des gemeinsamen politischen
Willens nannte. Es geht darum, die Ökonomie mit einem
weltweiten Ordnungsrahmen der Märkte auszustatten, die
Öffnung der Märkte für die sich entwickelnden
Länder zuzulassen, neue zusätzliche Finanzierungsmittel
bereit zu stellten (Tobin Tax, Terra-Abgabe, Sonderziehungsrechte)
und die Arbeit der bereits vorhandenen Institutionen besser zu
verzahnen. Gemessen an unseren eigenen Beschlüssen und
Zielsetzungen, müssen wir diese Initiative wirkungsvoll durch
den Deutschen Bundestag, das Europaparlament und die
Europäische Kommission aufgreifen und umsetzen. Wir haben die
historische Chance, uns im neuen Europa, vorbildhaft für das
einzusetzen, was wir selbst vor fast 60 Jahren an Hilfe und
Unterstützung erhalten haben und zu beweisen, dass ehemalige
Kolonialstaaten auch zu starken Entwicklungspartnerschaften
fähig sind.
Es wäre gut, wenn wir im kommenden Jahr, wenn nach
fünf Jahren die erste internationale Überprüfung zur
Erreichung der MDGs ansteht, an der Spitze einer Bewegung stehen
könnten, die Europa nicht zu einer Festung werden lässt,
sondern zu einem Europa, dass sich für eine Globalisierung der
Solidarität und des gerechten Interessenausgleichs stark
macht. Die Mehrheit der Europäer erwartet, dass sich die EU
verstärkt zu weltpolitischen Themen äußert - auch um
das amerikanische Übergewicht bei internationalen
Entscheidungen auszugleichen. Hier liegen Entwicklungspotenziale
die beispielhaft darstellen könnten, dass die Erreichung der
MDGs Sicherheit, Wachstum und Freiheit für uns alle bedeuten
könnte. Katrin Kortmann
Die Autorin ist entwicklungspolitische Sprecherin der
SPD-Bundestagsfraktion.
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