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Martin Gerner
Nach der Wahl ist vor der Wahl
Afghanistan scheint den ersten Demokratietest
bestanden zu haben
Die Erinnerung an den Wahltag ist noch frisch:
Der Skandal um die abwaschbare Tinte war ein logistischer GAU, ein
Größter Anzunehmender Unfall für die UNAMA, die
Mission der Vereinten Nationen in Afghanistan. Einen Monat nach dem
Urnengang scheint die Tinte der ausländischen Journalisten zu
verblassen, und was bleibt, ist das Bild der ersten freien Wahl in
der Geschichte Afghanistans, das positiver ist als erwartet: da
strömten die Menschen früh morgens schon in Scharen in
die Wahllokale. "Wir haben für Frieden gewählt, nach so
vielen Jahren Krieg", gaben sie zu Protokoll in Kabul, Bamiyan und
Kandahar.
Stolz zeigen sie den nunmehr gelochten
Wahlausweis. Für viele ist und bleibt es unverändert der
erste offizielle Pass ihres Landes wie ihres Lebens, den sie in den
Händen halten. Bis dato hatten viele Afghanen keinen
Ausweis.
"Viele Bürger haben die Erfahrung
gemacht, dass ihre Stimme genausoviel wert ist, wie die von
Präsident Karsai. In einem Land mit derartigen Hierarchien ist
das ein enormes Ereignis", meint Rupert Neudeck, der mit seiner
Organisation "Grünhelme" die Wahl und die Tage danach in der
Provinz Herat verbracht hat. Neudeck hat beobachtet, "wie die
Menschen mit quasi religiöser Andacht wählen gegangen
sind, das Lochen der Karte, das Falten und Stempeln des
Wahlzettels, dann hinter dem Vorhang das Kreuz machen, insgesamt
mehr Bewegung als in einer Moschee", meint der Cap
Anamur-Gründer.
Das Wahlergebnis ist profan und es kommt wie
erwartet: Hamid Karsai, der Paschtune und Mann Washingtons, ist der
alte und neue Präsident, gewählt mit 55 Porzent der
Stimmen. Der Zweitplazierte, Junus Kanuni, Tadschike, ehemaliger
Erziehungsminister im Kabinett von Karsai und
Verhandlungsführer bei der Bonner Afghanistan-Konferenz im
Dezember 2001, folgt abgeschlagen mit 16 Prozent. Ein ernsthafter
Herausforderer war er nicht. Kaum eine Stimme für ihn kam von
den Paschtunen, Karsai dagegen hat es geschafft, nennenswerte Teile
der tadschikischen Wählerschaft auf seine Seite zu ziehen. Das
ist ein gutes Zeichen, angesichts eines Wahlkampfes der
überwiegend von ethnischem Mauerdenken bestimmt war.
Ergebnisse von über 90 Prozent, wie sie Karsai in Kandahar und
den südlichen Provinzen erzielt hat, muten sozialistisch an.
Sie sind Ausdruck mehr oder weniger erzwungener Wahlempfehlungen
durch Mullahs, Stammesälteste oder Milizenchefs. Es braucht
mehr als eine Wahl, viel Bildung und auch Mut, bis sich dies
ändert.
Massooda Jalal, die einzige Frau unter 18
Kandidaten, hat 1,1 Prozent der Stimmen erhalten. "Wäre die
Wahl frei gewesen, ohne Einschüchterung, ohne Waffen, dann
hätte ich gewonnen", erklärt sie. Auch wenn sie über
wenig Ausstrahlungskraft verfügt, Massooda Jalals Verdienst
liegt darin, überhaupt angetreten zu sein. Sie hat die Rolle
der Frau in die Öffentlichkeit getragen, wo die meisten
Afghaninnen ansonsten ein streng reguliertes Dasein zu Hause
fristen. Das wird mittelfrisitg Folgen für diese
patriarchalische Gesellschaft haben. Frauen haben sich massiv an
der Wahl beteiligt. Fast die Hälfte des Fachpersonals, das
für UNAMA an den Urnen im Einsatz war, bestand aus
Frauen.
Es hat sich gezeigt, dass die afghanische
Zivilgesellschaft präsent und engagiert ist, wenngleich noch
schwach. Afghanische NGOs haben das Gros der unabhängigen
Wahlbeobachter gestellt, allen voran FEFA, die Free and Fair
Elections Foundation of Afghanistan, mit über 2.000
Wahlbeobachtern landesweit. So konnte zweifelsfrei festgestellt
werden, dass neben dem Skandal um die abwaschbare Tinte die UNO ihr
afghanisches Personal unzureichend geschult hatte. Wo zuwenig
Wahlkabinen zur Verfügung standen, ließen Frauen
Männer hinter ihrem Wahlvorhang wählen und
umgekehrt.
Der großen Zahl afghanischer
Wahlbeobachter steht die äußerst geringe Präsenz
westlicher Wahlbeobachter gegenüber, vor allem von EU und
OSZE. Beide hatten mit Verweis auf die fehlende Sicherheit auf eine
offizielle Beobachterdelegation verzichtet. Der Verlauf der Wahlen
hat dieses Argument widerlegt.
Die Parlamentswahlen, geplant für
Frühjahr 2005, werden der eigentliche politische
Härtetest in Afghanistan sein. Es wird sich erst noch zeigen
müssen, ob politische Parteien bei einer Mehrheit der Afghanen
Anklang finden. Das Wort "Partei" ist politisch belastet. "Viele
Afghanen denken dabei an die Kommunistische Partei, die ihrem Land
soviel Leid gebracht hat", gibt Rupert Neudeck zu bedenken. Zurzeit
bemühen sich Einrichtungen wie das amerikanische National
Democratic Institute (NDI) der Bildung neuer afghanischer Parteien
nachzuhelfen. "Es gab bei dieser Präsidentschaftswahl keine
richtige Opposition, keinen echten Wahlkampf, kein Kandidat hat
ernsthaft ein Programm vertreten, und jeder schien zu wissen, dass
das Hauptziel die Wiederwahl von Hamid Karsai war", meint Robert
Kluyver von der Foundation for Culture and Civil Society, "trotz
des ingesamt positiven Verlaufs kann man von einer Farce reden",
findet er.
Karsai selbst steht vor der Herausforderung,
eine neue Regierung zu bilden. Mit oder ohne Warlords, lautet dabei
die Frage. Letzteres erwartet die internationale
Staatengemeinschaft, andererseits gilt es, den afghanischen
Verhältnissen Rechnung zu tragen. Nachdem Karsai den
Gouverneur von Herat, Ismail Khan, entmachtet hat und dabei ist,
General Fahim, den Noch-Verteidigungsminister und bis vor kurzem
starken Mann der Nordallianz ins politische Abseits zu
befördern, macht sich Hoffnung breit, der Präsident
könnte so auch in der neuen Regierung verfahren.
"Ich werde keine Koalitionsregierung bilden",
hat Karsai im Wahlkampf betont. Das könnte sich rasch als
Schnee von gestern erweisen. Karsai weiß, dass eine Regierung
besonders dann als legitim angesehen wird, wenn alle Ethnien
angemessen vertreten sind. Eine Schlüsselfrage dabei ist, ob
sich Karsais Herausforderer Kanuni in die Regierungspflicht nehmen
lässt
Führende Vertreter anderer großer
Ethnien sind Usbeken-General Dostum, der bei der Wahl mit 10
Prozent an vierter Position landete, und Mohammad Moahqiq, der
Führer der Hazara-Minderheit, Dritter mit knapp 11 Prozent.
Wenn nicht persönlich im Kabinett, so werden beide den
Einfluss ihrer jeweiligen Ethnie in der Regierung zäh
aushandeln. Dostum verfügt über tausende
Miliz-Kämpfern, die er als politischen Faustpfand in die
Waagschale werfen kann.
Es gibt erste Gedankenspiele, die
Parlamentswahlen auf den Sommer oder Herbst 2005 zu verlegen. Die
Erfahrungen und logistischen Probleme aus dem Endspurt der
Präsidentschaftswahl sprechen dafür und auch das weitaus
kompliziertere Wahlsystem für die Parlamentswahlen. Kaum einer
der vielen Analphabeten dürfte den geltenden Wahlmodus
verstehen.
Hoffnungzeichen gibt es auch: Ein Teil der
Taliban, datunter der ehemalige Außenminister Mutawakil,
scheint - als Ergebnis der Präsidentschaftswahl - den
militärischen Kampf aufgeben zu wollen und eine politische
Zukunft anzustreben. Zur Zeit laufen Gespräche mit Wali
Karsai, dem Halbbruder des Präsidenten, um diese
"gemäßigten Taliban" ins Boot zu holen.
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