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Gülcin Wilhelm
Ohne viele Nullen auf dem Weg in die
Europäische Union
Die Türkei ist gut vorangekommen
Es waren schon fast alle Hausaufgaben gemacht, sogar die
Streichung der vielen Nullen auf den türkischen Banknoten war
angepeilt, um das Land noch näher zur EU zu bringen. Da
passierte am Vorabend des Besuchs von EU-Erweiterungskommissar
Günter Verheugen in Ankara etwas, was die Aufnahme des Landes
in die EU von neuem skeptischer erscheinen ließ: Die
konservative AKP-Regierung (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei)
plante, per Gesetz den Ehebruch strafbar zu machen. Verheugen
sprach von einem "historischen Witz", wenn die Türkei am Ende
zwischen der Bestrafung des Ehebruchs und der EU-Mitgliedschaft zu
wählen hätte. Inzwischen stehen die Ampeln für
Beitrittsverhandlungen aber wieder deutlich auf Grün.
Die Autoren Günter Seufert und Christopher Kubaseck stellen
im EU-Kapitel anschaulich dar, dass die Fragen von Kulturkreis,
Identität und Religion, die heute die Debatte über eine
Mitgliedschaft der Türkei in der EU prägen, nicht immer
eine Rolle spielten. Beispielsweise war die Türkei sowohl 1948
bei der Konstituierung der Organisation für wirtschaftliche
Entwicklung (OECD) als auch bei der Gründung des Europarats
von Anfang an dabei. Während die Türkei damals von
Westeuropa als Teil Europas angesehen wurde, wendete sich
später das Blatt. In diesem 55-jährigen Prozess wurde die
Türkei durch tiefe Wirtschaftskrisen und durch Staatsstreiche
wiederholt zurückgeworfen, was die EU veranlasste, von dem
Beitrittskandidaten vielfältige Reformen zu verlangen.
Heute sind die Reformen nach Ansicht beider Autoren zum
größten Teil verwirklicht. Sie führen in diesem
Zusammenhang an, dass einige "kulturalistische" Gründe, die
die Ablehnung der Türkei begründen sollen, auch auf die
christlich-orthodoxen Staaten Osteuropas zuträfen, die bereits
in der EU sind: das Fehlen von Renaissance, Aufklärung und
Bürgertum und eine verspätete Industrialisierung.
Fremd und doch wieder nah
Seufert und Kubaseck schreiben im Vorwort: "Die Türkei ist
fern genug, um fremd zu sein, und nah genug, um einiges von ihr zu
wissen." Das Werk wird dieser Aussage sehr gerecht. Die fundierten
und allgemein verständlichen Beiträge umfassen
Geschichte, Politik, Gesellschaft und Kultur des Landes. Dabei wird
keine Frage ausgespart, die die deutsche Öffentlichkeit
aufgrund der Annäherung der Türkei zur EU, der
Präsenz der neuen Generation von Immigranten in Deutschland
sowie der spannenden Dynamik des Landes gegenwärtig
interessiert: Der ewige Streit mit Griechenland, die Zypernfrage,
die Allianz mit Israel, der Nordirak (Kurden und Öl, Kurden
und Türken), die Alewiten, nichtmuslimische Minderheiten.
Eines der bewegendsten Themen ist der "Euro-Islam auf
Türkisch", dessen paradoxe Eigenschaft in dem Satz seine
Formulierung findet: "Erstmals in der Geschichte der Türkei
haben muslimisch-konservative Kräfte die Führung des
Landes auf dem Weg nach Europa übernommen. Viel erfolgreicher
kann Verwestlichung nicht sein." Die früher fast alle
politischen Kreise der Türkei umfassende Ablehnung
gegenüber der Europäischen Union ist nicht mehr da: Die
Zustimmung liegt heute bei 70 Prozent. Gülcin Wilhelm
Günter Seufert / Christopher Kubaseck
Die Türkei - Politik, Geschichte, Kultur.
Verlag C.H.Beck, München 2004; 238 S., 12,90 Euro
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