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Das Parlament
Nr. 45 / 01.11.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Gülcin Wilhelm

Ohne viele Nullen auf dem Weg in die Europäische Union

Die Türkei ist gut vorangekommen

Es waren schon fast alle Hausaufgaben gemacht, sogar die Streichung der vielen Nullen auf den türkischen Banknoten war angepeilt, um das Land noch näher zur EU zu bringen. Da passierte am Vorabend des Besuchs von EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen in Ankara etwas, was die Aufnahme des Landes in die EU von neuem skeptischer erscheinen ließ: Die konservative AKP-Regierung (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) plante, per Gesetz den Ehebruch strafbar zu machen. Verheugen sprach von einem "historischen Witz", wenn die Türkei am Ende zwischen der Bestrafung des Ehebruchs und der EU-Mitgliedschaft zu wählen hätte. Inzwischen stehen die Ampeln für Beitrittsverhandlungen aber wieder deutlich auf Grün.

Die Autoren Günter Seufert und Christopher Kubaseck stellen im EU-Kapitel anschaulich dar, dass die Fragen von Kulturkreis, Identität und Religion, die heute die Debatte über eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU prägen, nicht immer eine Rolle spielten. Beispielsweise war die Türkei sowohl 1948 bei der Konstituierung der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung (OECD) als auch bei der Gründung des Europarats von Anfang an dabei. Während die Türkei damals von Westeuropa als Teil Europas angesehen wurde, wendete sich später das Blatt. In diesem 55-jährigen Prozess wurde die Türkei durch tiefe Wirtschaftskrisen und durch Staatsstreiche wiederholt zurückgeworfen, was die EU veranlasste, von dem Beitrittskandidaten vielfältige Reformen zu verlangen.

Heute sind die Reformen nach Ansicht beider Autoren zum größten Teil verwirklicht. Sie führen in diesem Zusammenhang an, dass einige "kulturalistische" Gründe, die die Ablehnung der Türkei begründen sollen, auch auf die christlich-orthodoxen Staaten Osteuropas zuträfen, die bereits in der EU sind: das Fehlen von Renaissance, Aufklärung und Bürgertum und eine verspätete Industrialisierung.

Fremd und doch wieder nah

Seufert und Kubaseck schreiben im Vorwort: "Die Türkei ist fern genug, um fremd zu sein, und nah genug, um einiges von ihr zu wissen." Das Werk wird dieser Aussage sehr gerecht. Die fundierten und allgemein verständlichen Beiträge umfassen Geschichte, Politik, Gesellschaft und Kultur des Landes. Dabei wird keine Frage ausgespart, die die deutsche Öffentlichkeit aufgrund der Annäherung der Türkei zur EU, der Präsenz der neuen Generation von Immigranten in Deutschland sowie der spannenden Dynamik des Landes gegenwärtig interessiert: Der ewige Streit mit Griechenland, die Zypernfrage, die Allianz mit Israel, der Nordirak (Kurden und Öl, Kurden und Türken), die Alewiten, nichtmuslimische Minderheiten.

Eines der bewegendsten Themen ist der "Euro-Islam auf Türkisch", dessen paradoxe Eigenschaft in dem Satz seine Formulierung findet: "Erstmals in der Geschichte der Türkei haben muslimisch-konservative Kräfte die Führung des Landes auf dem Weg nach Europa übernommen. Viel erfolgreicher kann Verwestlichung nicht sein." Die früher fast alle politischen Kreise der Türkei umfassende Ablehnung gegenüber der Europäischen Union ist nicht mehr da: Die Zustimmung liegt heute bei 70 Prozent. Gülcin Wilhelm

Günter Seufert / Christopher Kubaseck

Die Türkei - Politik, Geschichte, Kultur.

Verlag C.H.Beck, München 2004; 238 S., 12,90 Euro

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