Harald Loch
Vorsicht, Herr Karadzic!
Start des Völkerstrafrechts
Das Völkerrecht regelt vorwiegend das Verhältnis
souveräner Staaten untereinander sowie das der internationalen
und übernationalen Staatengemeinschaften. Dem klassischen
Völkerrecht war der Gedanke einer Haftung von Einzelpersonen
für von ihnen verschuldetes Unrecht fremd. Das Strafrecht
umfasst dagegen die Normen, die eine Strafbarkeit des Individuums
begründen.
Bis zum Ersten Weltkrieg war eine Verknüpfung beider
Rechtsgebiete undenkbar. Erstmals mit den Vertreibungen der
Armenier durch die Türkei und mit den Kriegsverbrechen der
deutschen Verlierer kam die individuelle Verantwortlichkeit ins
Blickfeld der internationalen Staatengemeinschaft. Die
Herausbildung eines eigenständigen Völkerstrafrechts
zeichnet das juristisch wie zeitgeschichtlich bahnbrechende Werk
von Gerhard Werle nach. Der Autor hat den Lehrstuhl für
"deutsches und internationales Strafrecht, Strafprozeßrecht
und Juristische Zeitgeschichte" an der Humboldt-Universität zu
Berlin inne.
Die Aufnahme der Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs im
vergangenen Jahr bildet den vorläufigen Schlusspunkt unter
eine rasante politische Entwicklung, die mit den Internationalen
Militärgerichtshöfen von Nürnberg und für
Fernost begonnen hatte. Damals hatte die internationale
Staatengemeinschaft die Aggressions- und Kriegsverbrechen der
deutschen und japanischen Hauptverantwortlichen in Tribunalen
geahndet. Damals mussten die Kriegsverbrecher nach dem
völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht abgeurteilt werden.
Heute sind die nach Völkerrecht strafbaren Handlungen und
das Verfahren, nach dem sie geahndet werden, im Statut für den
Internationalen Strafgerichtshof (IStGH-Statut) kodifiziert.
Gegenstand des Völkerstrafrechts sind demnach diejenigen
Normen, die eine direkte Strafbarkeit des Individuums nach
Völkerrecht begründen, nämlich Völkermord,
Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das
Verbrechen der Aggression.
Werles Buch enthält im Anhang die Texte des IStGH-Statuts,
des auf seiner Grundlage in nationales Recht umgesetzten
Völkerstrafgesetzbuchs sowie die historischen Statuten der
Militärgerichte für Nürnberg und Fernost. Aktuell
haben die größte praktische Bedeutung die beiden
Gerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und für
Ruanda, die in Den Haag tagen und in langwierigen Verfahren die
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den
beiden größten Katastrophen der 90er-Jahre ahnden.
Wehrle behandelt diese beiden für die Fortbildung des
Völkerstrafrechts bahnbrechenden Verfahren. Demzufolge
beschäftigt der Jugoslawien-Strafgerichtshof über 1.200
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus mehr als 80 Ländern.
Für das Jahr 2002/2003 verfügte der Gerichtshof über
ein Budget von rund 220 Millionen US-Dollar. Für den
Ruanda-Strafgerichtshof werden nur ähnliche Zahlen
angegeben.
Der juristische Teil des Buches vermittelt einen Eindruck, wie
sich die beiden Rechtssysteme der westlichen Demokratien, das
anglo-amerikanische Common-Law und das kontinentaleuropäische
Civil Law, gegenseitig ergänzen. Die Berücksichtigung so
unterschiedlicher, gerade im Strafrecht erheblich voneinander
abweichender Rechtskulturen, hat nicht immer zu systematisch
befriedigenden Lösungen geführt. Hier wird erst die
Praxis des Internationalen Strafgerichtshofs im Laufe der Jahre
für mehr Rechtssicherheit und Perspektiven einer
Rechtsfortbildung sorgen.
Den politischen Kampf um dieses Gericht, der von deutscher Seite
vor allem mit dem Namen des früheren Außenministers Klaus
Kinkel verbunden ist, zeichnet Werle prononciert nach. Das
Römische Statut des IStGH ist zwar 1998 von 120 Staaten
angenommen worden. Aber so wichtige Länder wie die USA, China,
Israel, Irak und Libyen lehnten es ab. Inzwischen haben über
150 Staaten das Statut unterezeichnet, über 100 sind ihm
beigetreten, so dass das Gericht am 21. April 2003 in Den Haag
seine Arbeit aufnehmen konnte. Zu den von der Versammlung der
Vertragsstaaten gewählten 18 Richtern zählt der Deutsche
Hans-Peter Kaul. Als Ankläger wurde der Argentinier Luis
Moreno Ocampo gewählt.
Vor allfälligen Spielchen, die Ereignisse der
Zeitgeschichte an dem Verbrechenskatalog der IStGH-Statuts
abzugleichen und entsprechende Verurteilungen vorzunehmen, sei
ausdrücklich gewarnt. Natürlich muss die Intervention der
USA und Großbritanniens im Irak politisch neu bewertet werden,
nachdem die künstlich aufgebaute Bedrohungskulisse durch
angebliche Massenvernichtungswaffen fortgefallen ist.
Natürlich müssen die Regeln für innerstaatliche
gewaltsame Konflikte auch auf Russland und Tschetschenien angewandt
werden. Sicher gehören auch die wechselseitigen
Gewaltmaßnahmen zwischen Israel und Palästinensern dazu.
Die Materie ist aber zu kompliziert, um sie dem Stammtisch zu
überlassen. Die Hoffnung auf wirksame Ahndung und
Abschreckung, auf zivilisatorischen Fortschritt durch die Arbeit
des Internationalen Strafgerichtshofs wird nicht auf schnellen,
eher auf nachhaltigen Erfolg zu setzen sein. Harald Loch
Gerhard Werle
Völkerstrafrecht.
Mohr Siebeck, Tübingen 2003; 553 S., 89,- Euro
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