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Balduin Winter
Europa als Möglichkeit für eine neue
Adriakultur
Die zerrissene Seele Triests: Das Nationale als
Katastrophe, die Literatur als Identitätssuche / Von Balduin
Winter
Triest, das ist jene italienische Stadt, von der
böse Zungen behaupten, sie liege im Blinddarm der Republik.
Tatsächlich, nahezu ringsum ist die Stadt von Grenzen
umschlossen. Die Adria auf der einen Seite, die Felsstufe des
Karstes auf der anderen, so will es die Natur. Die Menschen ziehen
noch ganz andere Linien durch die Landschaft: Fast rund um Triest
verläuft die Staatsgrenze, die zwischen Meer und Karst nur
einen schmalen Durchgang nach Norden offen lässt. Eine Grenze,
um die es noch im Herbst 1953 beinahe zu einem kriegerischen
Konflikt gekommen wäre, befand sich doch hier eine jener
politischen Schwachstellen, an denen sich seinerzeit der Kalte
Krieg in einen heißen zu verwandeln drohte.
Dabei könnte man Triest auch als eine
unbedeutende Provinzstadt bezeichnen. Jahrhunderte lang befand sie
sich im Windschatten des geflügelten venezianischen
Löwen, der zwischen Capo d'Istria (Koper) und Ragusa
(Dubrovnik) die Adria dominierte. Mitte des 17. Jahrhunderts lebten
rund 3.000 Menschen in den Mauern der Stadt, seit 1382 unter der
Schutzherrschaft der Habsburger. Das Ende der Türkenkriege
führte zur Freiheit der Schifffahrt in der Adria. Im 18.
Jahrhundert wurde der Hafen ausgebaut, die Bevölkerungszahl
stieg sprunghaft an, Triest wurde eine Art "melting pot". Für
das istrianische Hinterland wies ein ethnografischer Atlas der
k.u.k.-Monarchie schon damals mehr als 25 verschiedene Ethnien aus:
Tschitschen, Zinzaren, Karaguni, Ciribirci oder Fucki.
Schon in ihrer Grundierung ist die Region
zwischen Alpen und Adria eine der großen ethnischen
Übergangszonen Europas. Drei Kulturräume treffen
aufeinander und vermischen sich: die romanische, die slawische und
vom Norden her die germanische Kultur. Letztere war ethnisch nur
schwach vertreten, stellte aber über Fürstenhäuser,
Administration und Kultur lange Zeit eine tragende Säule
dar.
So kann Triest ein Déjà-vu
bescheren, das in Venedig bestimmt ausbleibt: Manche
Straßenzüge muten geradezu "kakanisch" an, von einem
Hauch Wiener fin-de-siècle durchzogen - was die meisten
Triestiner sofort heftig bestreiten werden, die wiederum auf ihre
"italianità" pochen. Wohingegen, und das kennzeichnet das
labile ethnische Gefüge, etliche Tausend slowenische
Triestiner wiederum protestieren werden. Da schaut dann der
"Slowene" Štuparic dem "Italiener" Stuparich tief in die
Augen: Wem wohl gehört Triest? Wahrscheinlich wird diese
sinnlose Frage noch längere Zeit gestellt werden, der
Nationalismus ist noch längst nicht
überwunden.
Hierzulande hat Triest in den 80er-Jahren den
Ruf einer literarischen Hauptstadt Europas bekommen. Das ging Hand
in Hand mit der Wiederentdeckung und deutschen Neuauflage des
großen Schriftstellers Italo Svevo. Ein wesentlicher Mentor
der Inszenierung Triests als literarischer Code ist Claudio Magris,
der gemeinsam mit dem Historiker Angelo Ara 1982 das Buch "Triest.
Eine literarische Hauptstadt Europas" (deutsch 1987)
verfasste.
Der Originaltitel lautete etwas anders,
nämlich "Triest. Eine Identität der Grenze", denn "die
doppelte Seele" ist der eigentliche Tenor des Buches, der Konflikt
mit seinen mehrmals blutigen Zuspitzungen und Katastrophen in den
Emanationen des Nationalismus. Die Literatur, die plötzlich
aufblüht, ist ein Ausdruck des Ringens der Stadt mit diesem
Konflikt, - eine Äußerung ihrer zerrissenen Seele, die im
Epochensprung der Moderne nahezu allen politischen Versuchungen
unterliegt.
Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat einer
der großen Dichter der Stadt, Scipio Slataper, in der
Florentiner Zeitschrift "La Voce" ausgerufen: "Triest hat keine
Kulturtraditionen." Slataper, der Poet des Karstes, des einfachen
Lebens und der Völkerverständigung, warf den
Stadtbewohnern vor, nichts als ihre profanen Geschäfte im Sinn
zu haben; eine Blume interessiere sie nur, wenn sie sich verkaufen
ließe. Tatsächlich fällt es Magris und Ara schwer,
in der Geschichte der Stadt authentisches Kulturschaffen von Rang
zu entdecken: "Vor allem aber gab es bis zum 20. Jahrhundert keine
Literatur, die die existentiellen und sozialen Probleme dieses
Völkergemischs in adäquater Weise zum Ausdruck gebracht
hätte." Triestiner Literatur sei bis dahin "nichts als eine
zweitrangige, verspätete italienische Literatur"
gewesen.
Doch bricht er stürmisch über
Handelskontore und Versicherungsschreibtische herein: der
heiße Atem der Weltliteratur. Vielleicht sind es gerade ganz
unverbrauchte Orte, wo so etwas passiert. Wie Perlen auf der Schnur
des 20. Jahrhunderts reihen sich die Namen berühmter Autoren
auf, Scipio Slataper, Italo Svevo, Biagio Marin, Carlo und Giani
Stuparich, Virgilio Giotti, Guido und Giorgio Voghera, Roberto
Bazlen, Boris Pahor, Fulvio Tomizza, Claudio Magris. Und es ist
erstaunlich, was für eine zerklüftete Seelenlandschaft
sich dem Leser da plötzlich öffnet.
Die Jahrzehnte des Schaffens dieser Dichter
sind nicht wegzudenken von einem bewegten Hintergrund. Erst einmal
erleben die Stadtbewohner den barbarischen Ersten Weltkrieg in
nächster Umgebung mit. Da werden ganze Städte
niederkartätscht; die zwölf Schlachten am Isonzo fordern
rund eine Million Tote und unzählige Krüppel. Das
Jahrhunderte alte Reich der Habsburger zerbröselt, auf seinem
Gebiet entstehen verschiedene Nationalstaaten.
An ein immer aggressiveres Italien, das die
Adria zum "Mare nostrum" machen möchte, grenzt das
Staatsgebilde der uniierten Südslawen, die Republik SHS (der
Serben, Kroaten und Slowenen), bald eine Königsdiktatur unter
serbischer Führung, schon damals in sich zerrissen, im Zweiten
Weltkrieg teilweise von Italien okkupiert, in Faschisten und
Widerstand gespalten. Eine Spaltung, die im Umfeld von Triest
bittere Wunden reißt, denn auch Italien ist, freilich anders
gewichtet, von diesem Widerspruch geprägt. Doch finden
italienische und jugoslawische Widerständische nicht
zueinander, im Gegenteil. Jugoslawien verjagt den Großteil
seiner Italiener, Italien einen Teil seiner Slowenen,
Hunderttausende sind auf der Flucht. Namenlose Schicksale, für
die Marisa Madieris Buch "Wassergrün" steht, die leise
Geschichte eines kleinen Flüchtlingsmädchens zwischen
Fiume/Rijeka, Venedig und Triest.
Aber Triest wäre nicht Triest,
hätte es nicht auch Dichter, die noch in die finstersten
Zeiten ihre Zeichen setzen; die an die Schrecknisse der
Katastrophen erinnern, ohne zu verzweifeln. Zwei Autoren, zwei
Bücher stehen jeweils auf ihre Weise dafür. Fulvio
Tomizza, der Autor der Grenze, in seiner Jugend selbst aus Istrien
vertrieben, hat mit seinem letzten Roman "Franziska" der
"unerlösten Stadt" ein Zeitdenkmal gesetzt und ihre "andere"
Geschichte aufgerollt:
Am 1. Januar 1900 wird in Štanjel/San
Daniele, einem Karststädtchen oberhalb von Triest, Franziska
Skripac geboren, ein "Jahrhundertskind", für das der
Habsburgerkaiser Pate steht mit tausend Kronen. Die Tochter eines
Tischlers hat das Glück, eine etwas bessere Ausbildung bei
einer Landadeligen zu erhalten. Nach Ende des Ersten Weltkrieges
fällt der Landstrich an Italien, Franziska findet Arbeit in
Triest bei der Bahn und verliebt sich in Nino Ferrari, einen
italienischen Offizier.
Die junge Frau hebt sich auf für die
große Liebe zu diesem Mann aus guter Fabrikantenfamilie, der,
weltenflüchtig, auch feige, die Sehnsucht über die Liebe
stellt. Es gibt nur langes Warten, keine Erfüllung. Der Leser
erfährt von der Zuspitzung des nationalen Konflikts in Triest,
die Brandschatzung des slowenischen Kulturhauses, über den
Vormarsch der Faschisten, schließlich über den
slowenischen Widerstand im Karst. Franziska ist ein wacher Mensch,
der bei allen Grausamkeiten der Zeit nicht verhärtet und
über die Grenzen hinweg offen bleibt. Sie kommt durch - aber
was ist das für ein Leben, dessen Erfolgsbilanz das
"Durchkommen" ist?
Noch deutlicher wird der slowenische
Triestiner Boris Pahor, Jahrgang 1913, der erst italienische
Literatur studierte, bevor er Kosovel und Cankar gelesen hatte. Er
ist einer, der in der Hölle war und der aus der Hölle
wieder zurückkehrte. Kriegsdienst und Festnahme, Haft in San
Sabbia, dem Triestiner KZ, Deportation, Harzungen,
Natzweiler/Struthof, Bergen-Belsen, Dachau. Später besucht er
die Stätten, wo die Nazis diese Höllen errichtet hatten;
der sommerliche Rundgang über das von Touristen besuchte
KZ-Gelände führt ihn ins Gelände seiner Gedanken und
seiner Erinnerungen.
Boris Pahor wird oft in einer Reihe mit Primo
Levi, Jorge Semprun und Imre Kertész genannt. Pahor teilt in
Nekropolis mit, was nicht mitgeteilt werden kann, er thematisiert
das Unmögliche. Es ist keine Erzählung im Sinne einer
narrativen Abfolge, denn das Todeslager ist, was es ist, die totale
Negierung des Menschen, der nur noch Material in einem
Vernichtungsprozess ist. Aber auf der Suche nach seiner verlorenen
Zeit unternimmt Pahor eine Anstrengung, in diesem Prozess der
Massenvernichtung noch etwas anderes auszumachen: Lebenskraft.
Menschlichkeit. Sonst hätte es keinen Sinn, das alles
aufzuschreiben. Im Nachwort heißt es: "Primo Levis Frage: 'Ist
das ein Mensch?' erhält durch Boris Pahor als Antwort ein
brüderliches Ja."
Heute scheint wieder alles anders zu werden.
Die einst messerscharfen Grenzen zerbröckeln, das Jahrzehnte
lang abgetrennte "Hinterland" - das Tal der Soca/des Isonzo, der
Karst und der nördliche Teil Istriens - sind seit dem
EU-Beitritt Sloweniens problemlos zu erreichen. Mit der
schrittweisen Umsetzung der europäischen Integration deutet
sich auch eine Möglichkeit an, die Hyäne des Nationalen
zu befrieden und das Zeitalter der innereuropäischen
Konfrontationen zu beenden. Für eine Region, in der seit
Beginn der Neuzeit in jedem Jahrhundert mindestens drei Mal die
Grenzen neu gezogen wurden, kann diese Zukunft nur von Vorteil
sein.
"Es gibt keine Stadt mit mehr
Verrückten, ob sie nun in den Heilanstalten registriert sind
oder frei auf der Piazza Grande herumlaufen, so voll von
Missionaren ohne Überzeugung, von Puritanern, die an nichts
glauben, von eingebildeten Riesen und fragwürdigen Helden."
Diese Feststellung Fulvio Tomizzas mochte noch auf die 70er-Jahre
voll zutreffen. Zwar gibt es auch heute noch Schriftsteller, die an
diesem Mythos weiterstricken, für Triest jedoch hat ganz
unspektakulär eine neue Epoche - hoffentlich -
begonnen.
Empfohlene Literatur:
Rolf Wörsdörfer
Krisenherd Adria 1915-1955.
Konstruktion und Artikulation des Nationalen
im italienisch-jugoslawischen Grenzraum.
Schöningh-Verlag, Paderborn 2004; 629
S., 70,- Euro
Claudio Magris, Angelo Ara
Triest.
Eine literarische Hauptstadt in
Mitteleuropa.
Aus dem Italienischen von Ragni Maria
Gschwend.
Carl Hanser Verlag, München 1987, wieder
aufgelegt im Paul Zsolnay Verlag, Wien 1999; 304 S., 19,90
Euro
Marisa Madieri
Wassergrün. Eine Kindheit in
Istrien.
Aus dem Italienischen von Ragni Maria
Gschwend.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2004; 160 S., 16,90
Euro
Fulvio Tomizza
Franziska. Roman.
Aus dem Italienischen von Ragni Maria
Gschwend
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2001; 232 S., 17,90
Euro
Boris Pahor
Nekropolis.
Aus dem Slowenischen von Mirella
Urdih-Merkù.
Berlin Verlag, Berlin 2001; 280 S., 18,-
Euro
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