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Hartmut Hausmann
Einlenken in letzter Minute
Barroso zieht seine Mannschaft
zurück
Eine derartige Hektik auf den Gängen und in
Sitzungssälen, eine ähnlich spannungsgeladene
Atmosphäre, ein so großes Aufgebot an Journalisten aus
aller Welt und eine Lifesendung des Zweiten Deutschen Fernsehens
wie vor dem Vertrauensvotum für die neue Kommission hat das
Europäische Parlament seit dem Sturz der Santer-Kommission
1999 nicht mehr erlebt. Die Kunde einer drohenden
Abstimmungsniederlage war auch nach Luxemburg gedrungen und hatte
Ministerpräsidenten Jean-Claude Juncker veranlasst, umgehend
nach Straßburg zur Hilfe zu eilen.
Die Sorge, als EU-Ratsvorsitzender ab Januar
2005 einer schwachen oder nicht handlungsfähigen Kommission
gegenüber zu stehen, trieb ihn genau so an wie die
Befürchtung, Barroso könnte das Handtuch werfen - und
erneut käme auf den Luxemburger der Ruf zu, Retter in der Not
zu spielen zu sollen. Juncker sprach bis spät in die Nacht mit
den Fraktionsführern, um nach einer Kompromisslösung zu
suchen. Aber es war zu spät. Der einzige Rat, den er noch
geben konnte war, die Entscheidung zu vertagen und gemeinsam einen
neuen Anfang zu suchen.
Nach dem Rückzieher Barrosos sprachen
alle Fraktionsvorsitzenden ihre Bereitschaft aus, den
künftigen Kommissionspräsidenten konstruktiv zu
unterstützen, wenn er zu einem ernsthaften Dialog bereit sei.
Das versprach Barroso und kündigte seinerseits erleichtert an,
einen intensiven Dialog mit Ministerrat und Parlament führen
zu wollen. Im Hintergrund saß der italienische Kandidat
Buttiglione, der Auslöser dieser politischen Krise,
völlig in seinem Sessel zusammengesunken, während er noch
den ganzen Vormittag permanent lächelnd Siegesgewissheit
auszustrahlen versucht hatte. Er fühlte sich, wie er
wiederholt beklagt hatte, als Opfer einer modernen
Christenverfolgung, passend zu der Aufführung im
Straßburger Theater, in dem am Vorabend das
Händel-Oratorium "Theodora" in einer modernen Inszenierung das
christliche Märtyrium im antiken Rom Premiere
zeigte.
Doch auf diese persönliche Betroffenheit
ging der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Fraktion, Martin
Schulz, nur in so weit ein, als er Barroso davor warnte, mit der
gleichen Kommission wieder antreten zu wollen. Der Vorsitzende der
EVP-Fraktion, Hans-Gert Pöttering, räumte ein, dass seine
Fraktion ein po-sitives Votum vorgezogen hätte, dennoch sei
dies ein bedeutender Tag für den Prozess der
Parlamentarisierung in Europa.
Der Promi der Grünen, Daniel
Cohn-Bendit, wurde seinem Ruf erneut gerecht, empfahl Barroso
Mao-Tsetung zu lesen, um von diesem Siegen zu lernen. Cohn-Bendit
sprach mit der Gewissheit, live ins deutsche Fernsehen zu kommen,
ausnahmsweise wieder einmal Deutsch. Der amtierende
Ratspräsident, der niederländische Europaminister Atzo
Nicolai bemerkte nur trocken, dies sei ein wichtiges demokratisches
Ereignis und im Übrigen bleibe die Prodi-Kommission solange im
Amt wie dies notwendig sei. Irgendwie schienen plötzlich alle
froh und erleichtert.
Parlamentspräsident Josep Borrell
erschien diese Stimmung wohl schon zu entspannt. Er beendete die
denkwürdige Sitzung mit der Ermahnung an Barroso, er möge
die Entschließung des Parlaments, die nun nicht mehr
abgestimmt worden sei, dennoch aufmerksam lesen. Darin wurden die
verschiedene Bedenken, wie sie sich aus den Anhörungen ergeben
hatten, zusammengefasst. Es war die Rede von politischer
Überzeugungen, die den Grundwerten der Union entgegenstehen,
Mangel an politischen Fähigkeiten und Kenntnissen sowie
Engagement in Bezug auf das vor-geschlagene Ressort, ungelöste
Probleme oder nicht beantwortete Fragen im Zusammenhang mit
Interessenskonflikten oder mögliche Verwicklung in
Amtsmissbrauch und Rechtsbeugung. Zugleich wurde noch einmal auf
die demokratische und rechtliche Bedeutung des
Zustimmungsverfahrens durch das Parlament hingewiesen, von dem die
Anhörungen ein entscheidender Teil seien.
Am Dienstag, einen Tag zuvor in der
Aussprache über die neue Kommission, war Barroso im Ringen um
das Vertrauen des Europäischen Parlaments den Abgeordneten in
inhaltlichen Fragen deutlich ent-gegengekommen, ohne aber in der
entscheidenden Frage der personellen Besetzung der Kommission
nachzugeben. Statt dessen versprach er den Abgeordneten, dass sich
die Kommissare im Rahmen eines Verhaltenskodex zum Rücktritt
für den Fall verpflichten werden, wenn er sie dazu auffordern
sollte. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei zu einem solchen
Schritt kein Anlass. Der wegen seiner Äußerungen zur
Rolle der Frau und zur Homosexualität heftig umstrittene
Kommissionskandidat Buttiglione habe sich schriftlich verpflichtet,
den Grundsatz der Nichtdiskriminierung stets
einzuhalten.
Der Kommissionspräsident sagte, der
unglückliche Vorfall habe auch sein Gutes, weil das
Bewusstsein, entschieden gegen jede Form der Diskriminierung
anzugehen, noch einmal geschärft worden sei. Er habe daher
veranlasst, dass Buttiglione bei allen Grundrechtsfragen ein Team
von Kommissaren unter dem Vorsitz von Barroso beratend zur Seite
stehen werde. In diesem Zusammenhang habe er vor, die Gesetzgebung
gegen Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und sonstige
Diskriminierungen zusammen mit dem Parlament zu
verschärfen.
In der Aussprache forderte der Vorsitzende
der christdemokratischen EVP-Fraktion, Hans-Gert Pöttering,
dass auch Buttiglione nicht wegen seiner religiösen
Überzeugungen diskriminiert werden dürfe.
Schließlich liege die Stärke der europäischen
kulturellen Identität in der Akzeptanz kultureller
Unterschiede.
Martin Schulz bedauerte als Vorsitzender der
sozialdemokratischen Fraktion, das der Kommissionspräsident
sich nach wie vor weigere, die notwendigen Konsequenzen aus dem
Anhörungen zu ziehen. Wenn Buttiglione seinen vorgesehenen
Arbeitsbereich behalte, bleibe das Haupthindernis für ein
positives Votum bestehen. Im Übrigen bedeute eine Ablehnung
keine institutionelle Krise, sondern sei ein normaler
demokratischer Vorgang.
Der Brite Graham Watson warf als
Fraktionschef der Liberalen den europäischen Regierungen vor,
Barroso mit den von ihnen gemachten Personalvorschlägen nun im
Regen stehen zu lassen. Viele im Rat empfänden es offenbar als
nützlich, eine schwache Kommission zu bekommen.
Der Fraktionsvorsitzende der Grünen,
Daniel Cohn-Bendit (Deutschland), bezeichnete jeden religiösen
oder ideologischen Fundamentalismus als Gift für die
Demokratie. Wenn jemand wie der Italiener gegen Scheidung oder
Abtreibungen sei, werde er auch die Politik entsprechend zu
beeinflussen versuchen.
Die frühere Umweltkommissarin und jetzt
fraktionslose Abgeordnete Emma Bonino (Italien) sagte, wegen der
Unbeweglichkeit des Präsidenten sei aus dem Fall Buttiglione
längst ein Fall Barroso geworden.
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