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Thorsten Busch
"Seien Sie Lobbyisten unseres Parlaments"
Wo sonst nur echte Abgeordnete sitzen
dürfen, debattierte der Nachwuchs bei "Jugend und
Parlament"
Politiker sind faul, reden nur um den
heißen Brei herum und bekommen dafür auch noch viel zu
viel Geld? Von wegen: Initiiert vom Ältestenrat des
Bundestages haben 273 politisch engagierte Jugendliche aus ganz
Deutschland drei Tage lang im Parlament debattiert, gestritten und
Kompromisse geschmiedet - und das alles an den
Originalschauplätzen: in den Fraktionssälen,
Ausschüssen und im Plenum. Das Fazit der jungen "Abgeordneten"
ist eindeutig: Politik zu machen ist in Wirklichkeit ganz
schön anstrengend.
Was für eine großartige Partei",
lobt der frisch gebackene Fraktionsvorsitzende Hugo Hopf seine
Genossen von der "Arbeiterpartei Deutschlands" (APD). Gerade hat er
sich in einer knappen Abstimmung gegen seine drei Konkurrenten
durchgesetzt. Kaum ist er im Amt, muss er auch schon die mehr als
100 Abgeordneten seiner Fraktion auf den gemeinsamen Kurs für
die nächsten Tage einschwören. Und das, obwohl er sie
eben erst kennen gelernt hat.
Hugo Hopf heißt im realen Leben Robert
und kommt aus Berlin, wo er gerade Zivildienst leistet. Als
Abgeordneter steckt er aber in der Rolle eines Umweltexperten
mittleren Alters. "Jugend und Parlament" ist in diesem Jahr als
striktes Planspiel organisiert: Die Teilnehmer streiten nicht
für ihre eigenen Überzeugungen, sondern schlüpfen in
die Rolle von fiktiven Abgeordneten. Deren Lebensläufe und
Interessen haben die Organisatoren minutiös zusammengestellt,
so dass auch im Jugendparlament zum Beispiel genauso viele Lehrer
sitzen wie im richtigen Bundestag.
Das Ziel des Planspiels ist es denn auch
nicht, die eigene Meinung unbedingt durchzusetzen, sondern
"parlamentarische Demokratie spielerisch zu erfahren", wie der
Titel verrät. Die Jugendlichen sollen verstehen, auf welchen
Wegen Gesetze zustande kommen. "Das ist ein Experiment", gibt Ines
Mockenhaupt-Gordon zu. Sie leitet den Besucherdienst des Bundestags
und hat das Planspiel zwar schon mehrfach mit Schulklassen erlebt,
aber dieses Mal ist es doch etwas Besonderes: Fast 300 Teilnehmer
haben sich beworben oder sind von echten Abgeordneten vorgeschlagen
worden, und tummeln sich jetzt im Bundestag. Sie schließen
sich zu Fraktionen und Ausschüssen zusammen, debattieren
hitzig und können sich dabei so richtig wichtig fühlen,
weil sie das alles genau da machen, wo sonst nur echte Abgeordnete
sitzen dürfen.
Die Rollenverteilung stellt einige Teilnehmer
allerdings vor gewisse Probleme: "Manche spielen gar nicht ihre
Rolle, sondern sich selbst", beschwert sich Laura. Sie ist 19 und
steht im richtigen Leben den Grünen nahe. Im Spiel ist sie 61
Jahre alt, hat lange in Afrika gelebt und ist jetzt
Amtsärztin, die der APD angehört. "Da weiß man
manchmal nicht, wie man das spielen soll. Aber ich versuch's
wenigstens." Ihre Fraktionsgenossin Caro, die in Wirklichkeit
Mitglied der Jungen Union ist, pflichtet bei: "Das mit der Rolle
ist schwer, aber ja auch Sinn der Sache." Die Teilnehmer sollen
schließlich die Argumente des politischen Gegners
nachvollziehen können und nicht immer nur in den gewohnten
parteipolitischen Bahnen denken. Nach kurzer Eingewöhnung
klappt der Umgang mit der Rolle schließlich bei den
meisten.
Vier Gesetzentwürfe haben die
Organisatoren vorgegeben: Die Bundesregierung fordert die
Gleichstellung von Frau und Mann in der Privatwirtschaft und hat
außerdem eine Initiative gestartet, um ein Tempolimit auf
Autobahnen einzuführen. Die "Liberale Reformpartei" (LRP) will
die Wehrpflicht aussetzen. Und ein fraktionsübergreifender
Antrag sieht vor, den Verkauf von Alkopops an Jugendliche weiter
einzuschränken. Über diese vier Gesetzesinitiativen
beraten die Teilnehmer in vier Parteien: Neben der
sozialdemokratischen APD und den Liberalen von der LRP gibt es noch
die "Konservative Volkspartei" (KVP) und die
"Ökologisch-Soziale Partei" (ÖSP). Wie nicht anders zu
erwarten, gibt es schon innerhalb der Parteien
Meinungsverschiedenheiten über die Gesetzesinitiativen. Da
muss dann die Debatte in den Fraktionen klären, ob die Partei
zum Beispiel ein generelles Werbeverbot für Alkopops
einführen will. Gar nicht so einfach, wenn sich dabei mehr als
hundert Leute einig werden müssen. Die Abgeordneten der beiden
kleinen Parteien kommen deswegen auch schneller voran. Aber auch
Hugo Hopf und seine Kollegen im Fraktionsvorstand der APD leiten
die Sitzung souverän. Es werden Argumente eingebracht,
Anfragen und Änderungsanträge gestellt, und immer sitzt
der Fraktion die Zeit im Nacken. Und wenn es wirklich eng wird,
gibt es ein Druckmittel, das die diskussionsfreudigen
Jungparlamentarier diszipliniert: "Wir können erst zum
Abendessen gehen, wenn alle Namenslisten beim Vorstand
sind."
Wieso sind hier nur Männer?
Richtig ernst wird die Sache am nächsten
Tag in den Ausschüssen. Dort prallt der mühsam gefundene
Konsens der eigenen Fraktion erstmals mit den Meinungen der
politischen Gegner aufeinander. Da passiert es auch schon mal, dass
die ÖSP nicht die Meinung ihres Koalitionspartners teilt und
sich plötzlich ganz neue schwarz-grüne Liebäugeleien
im Jugendausschuss ergeben. Schließlich findet sich aber in
jedem Ausschuss ein Kompromiss, wenn auch manchmal ein
wackliger.
Gewisse Klischees fallen ins Auge: Im
Verkehrsausschuss sitzt zum Beispiel nur eine einzige Frau,
während die Männer im Familienausschuss deutlich in der
Unterzahl sind. Und überhaupt: die Männer! Wie kommt es
eigentlich, fragt Krista Sager, die echte Fraktionsvorsitzende der
Bündnisgrünen im Plenum, ihre "Kollegen" von der
ÖSP, dass der Vorstand "ihrer" Partei nur aus Männern
besteht? Bei den anderen Parteien sieht es nicht viel anders aus:
Gerade mal die Konservativen haben eine einzige Frau im Vorstand.
Das finden sie bedauerlich, beteuern die Herren
Fraktionsvorsitzenden, aber leider habe sich ja kaum eine Frau zur
Wahl gestellt.
Die Kompromisse aus den Ausschüssen
müssen die Fachpolitiker nun ihren Fraktionen schmackhaft
machen. Aber die Kollegen meckern, schachern und argumentieren, was
das Zeug hält. Nach drei Stunden ist sie endlich da, die
vielbeschworene Geschlossenheit, mit der die Fraktionen die
abschließenden Beratungen im Plenum für sich entscheiden
wollen. Bis tief in die Nacht feilen manche Parlamentarier noch an
ihren Reden für die zweite und dritte Lesung am nächsten
Morgen. Und die rhetorischen Ergebnisse beeindrucken die
Zuhörer im Präsidium nicht gerade wenig. Am Ende der
Sitzung lobt Antje Vollmer, Vizepräsidentin des Bundestages:
"Sie waren teilweise erschreckend professionell."
"Professionell und engagiert" sind auch die
Eigenschaften, die die in der politischen Bildung tätigen
Heidi Ness und Frank Burgdörfer den Teilnehmern zuschreiben.
Die beiden haben sich das ganze Planspiel ausgedacht und in
sechsmonatiger Arbeit mit ihrem Team vorbereitet. Jetzt sind sie
sehr zufrieden: "Es lief alles wunderbar, an der Feinabstimmung
müssen wir noch etwas arbeiten, und dann machen wir das
hoffentlich im nächsten Jahr nochmal."
Am Ende lobt Bundestagspräsident
Wolfgang Thierse "Leidenschaft und langen Atem" seiner "jungen
Kolleginnen und Kollegen". "Seien Sie im besten Sinne Lobbyisten
unseres Parlaments", fordert er, denn: "Nur durch Mitmachen ist
Demokratie erfahrbar." Das haben sich viele Teilnehmer des
Planspiels offenbar zu Herzen genommen: In einer Petition fordern
sie den Bundestag auf, ein Jugendparlament einzusetzen, das vier
Mal im Jahr tagen und Jugendliche besser politisch integrieren
soll. Seine Beschlüsse sollen im Bundestag debattiert werden.
Wolfgang Thierse gibt sich diplomatisch: "Wir nehmen das
ernst."
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