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Alexander Weinlein
Aufgekehrt...
1983 brach die Panik aus: Den Deutschen stand eine
Volkszählung ins Haus. Dies allein wäre vielleicht nicht
weiter schlimm gewesen, immerhin beginnt selbst die
Weihnachtsgeschichte mit einer solchen. Doch im Gegensatz zum
neutestamentarischen Vorbild zeugte der neuzeitliche
Zählappell nicht von der Ankunft eines neuen Messias, sondern
vom Beginn des totalen Überwachungsstaates. Immerhin sollte
sich ja auch nicht jeder in seine Geburtstadt begeben, um sich
aufzeichnen zu lassen, wie der Evangelist Lucas schrieb, sondern
die Volkszähler sollten den Bürgern direkt mit ihren
Fragebögen zu Leibe rücken, das gesammelte Wissen digital
ausgewertet werden.
"1984" heißt eines der bekanntesten Werke des
Schriftstellers George Orwell: Allein der Buchtitel schien die
schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Orwells "Big
brother is watching you" wurde zum geflügelten Wort, wenn von
der 83er-Volkszählung die Rede war. Selten waren sich die
Bundesdeutschen bis hin zum Bundesverfassungsgericht so einig in
ihrer Ablehnung staatlicher Wissbegierde. Das Hereinbrechen des
digitalen Zeitalters verunsicherte damals noch Alt und Jung: Die
Angst, der Mensch könne zum binären 0-1-Code verkommen,
ging um.
1989 brach der Jubel aus: Am Kernforschungszentrum CERN in Genf
wurde das World Wide Web geboren und verhalf dem bereits seit 20
Jahren existierenden Internet zum Durchbruch. Ab sofort wurde
gebrowsed, gemailt und gesurfed, dass die digitalen Drähte
glühten. Lieschen Müller und Otto Maier vertrauten auf
selbstgebastelten Homepages dem Rest des globalen Dorfes ihre
intimsten Geheimnisse an. Ob Online-Shopping, Cyber-Sex oder
E-Commerce - im virtuellen Nirwana tobte plötzlich das Leben.
Selbst vor der Politik machte das Computer-Zeitalter nicht Halt:
Abgeordnete mussten sich per E-Mail vom Volk befragen lassen,
Parlamente jede noch so unwichtige Drucksache ins Netz stellen,
selbst virtuelle Partei-Ortsvereine gründeten sich. Der
vernetzte Computer - einst als Vehikel eines Orwell'schen
Horrorszenarios angefeindet - mutierte zum Heilsbringer. Wohin dies
führt, konnte man bereits vor vier Jahren in den USA
beobachten: bei Gore gedrückt, Bush gewählt -
demokratisches Restrisiko.
Dieses gilt übrigens auch in der Zeitungsproduktion. Wo
früher in Blei gegossen und gesetzt wurde, herrschen die
Gesetze der EDV - an guten wie an schlechten Tagen mit allen
Konsequenzen. Vor vielen Jahren kam es in der DDR während
einer Pressekonferenz zu einem in Notsituationen hilfreichen
Wortwechsel. Der Leiter des Presseamtes, besorgt über den
frühen Redaktionsschluss der so genannten Blockzeitungen,
erkundigte sich, ob diese denn noch all die wichtigen Informationen
ins Blatt bringen könnten. Ein Kollege antwortete frech: "Ich
informiere meinen Leser telefonisch." Liebe Leserinnen und Leser,
wundern Sie sich bitte nicht, wenn Sie demnächst ein Anruf aus
unserer Redaktion ereilt.
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