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Helmut Merschmann
Ländereigenheiten kann man über die
nationalen Medien kennenlernen
Prix Europa zeichnet die besten
europäischen Fernseh- und Radioproduktionen aus
Wer eine Tüte Gummibärchen in eine Pfanne wirft,
erhitzt und dabei zusieht, wie sie langsam schmelzen und sich zu
einer bunten Masse vereinen, gewinnt eine Vorstellung davon, was
Europa einmal sein könnte. So zumindest sieht es der
einminütige Videoclip eines jungen Filmemachers, der für
den "Prix Europa" eingereicht wurde. Das Auswärtige Amt hatte
in diesem Jahr zum ersten Mal die neue Kategorie "Spot" ausgelobt
und damit Filmemacher in der Europäischen Union angesprochen.
In acht weiteren Kategorien buhlten die besten europäischen
Fernseh-, Radio- und Internetproduktionen um den Prix Europa 2004,
der am vorvergangenen Samstag auf einer Festveranstaltung in
Potsdam-Babelsberg verliehen wurde.
Seit 1987 existiert der Medienpreis, vom Europarat und der
Europäischen Kommission sowie mehreren Medienförderungen
und Rundfunksendern unterstützt, hingegen von der
Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. "Wenn wir ein nationales
Ereignis wären", sagt die Leiterin Susanne Hoffmann,
"wäre das etwas anderes. Gerade in den Medien jedoch kennt
sich Europa untereinander nicht." Nur in Ausnahmefällen
passieren nationale Fernseh- oder Radioproduktionen die
Landesgrenzen. Hermetisch riegelt sich eine Medienkultur von der
des Nachbarlandes ab. Einen Thomas Gottschalk kennt in Finnland
niemand, und umgekehrt können wir über die etwas
schwermütigen finnischen Soap Operas nicht lachen. Gleichwohl
kann man ein Volk gut über seine Medien kennen lernen, da die
sich wahlweise als Reflexion der Wirklichkeit oder als
Wunschproduktion begreifen lassen. Bloß tut dies in Europa
niemand.
Genau diese Überwindung von Kultur- und Sprachbarrieren hat
sich der Prix Europa auf die Fahnen geschrieben, will fremde Blicke
auf vertraute Themen werfen, das Gemeinsame im europäischen
Nebeneinander entdecken. Der Prix Europa versteht sich in dieser
Hinsicht als Beitrag für die Entstehung einer
europäischen Öffentlichkeit und fungiert als eine Art
Schengener Abkommen der Medien: indem er integrative Funktionen
erfüllen. Zum ersten Mal fand in diesem Jahr eine Konferenz
zum Thema "Grenzen überschreiten - Kulturen, Religionen und
Medien" statt, auf der die Schlüsselrolle von Fernsehen und
Radio beim interkulturellen und interreligiösen Dialog in
Europa erörtert wurde. Neben den komplizierten rechtlichen
Rahmenbedingungen bei Koproduktionen unter europäischen
Sendeanstalten galt hier das Augenmerk besonders der Frage, wie
sich Kulturen und Religionen innerhalb Europas verständigen
und untereinander austauschen. Dass hierbei die Medien und das
spezifische, von ihnen geprägte Bild einer Kultur eine
große Rolle spielen, liegt auf der Hand.
Mitgebrachte Beispiele wollten dies verdeutlichen: Während
der Bayrische Rundfunk beispielsweise in seiner Dokumentation
über "Moslems in Europa" das teils sehr schwierige Miteinander
von Christen und Moslems in den verschiedenen Ländern
thematisierte, präsentierte eine norwegische Talkshow drei
Gäste, die von den Zuschauern per SMS interviewt werden
konnten - eine Muslimin mit und eine Christin ohne Sex vor der Ehe
sowie einen bisexuellen Priester, der von seiner
Homosexualität befreit werden wollte. Im finnischen Fernsehen
existieren dagegen religiöse Programme gar nicht. Das auf der
Konferenz vorgeführte Porträt von "Ikonen" thematisierte
eher beiläufig die religiöse Tradition, in der die
kunstgeschichtlich bedeutenden Bilder stehen. Diese Art von
"impliziter Religion", wie Jo Groebel vom Europäischen
Medieninstitut in Düsseldorf betonte, sei gegenwärtig in
vielen europäischen Sendeanstalten sehr beliebt und beim
Publikum erfolgreich.
Die alljährlich von den europäischen Rundfunkstationen
für den Prix Europa eingereichten Produktionen
beschränken sich aber keineswegs auf religiöse Themen.
Vielmehr werden die besten Jahresproduktionen gezeigt, um sie von
einer Fachjury begutachten zu lassen. In der Branche genießt
der Prix Europa ein hohes Ansehen. Die prämierten Werke zeugen
von hoher handwerklicher wie inhaltlicher Qualität, ihre
Macher können damit renommieren. Auch eine Art
Qualitätssicherung, so Susanne Hoffmann, soll der Prix Europa
daher leisten: "Wir wollen mit dem Preis den Leuten, die gewinnen,
Mut machen."
Eine ganze Woche lang herrschte im Berliner Haus der Rundfunks
eine konzentrierte Arbeitsatmosphäre. Jurys aus ganz Europa,
bestehend aus Fachleuten und Produzenten, wühlen sich durch
endlose Stunden Fernsehfilme, TV-Dokumentation, Radiofeatures,
Funkdramen sowie durch Internet-Präsentationen. Manchmal
sitzen 50 Personen schweigend vor riesigen Lautsprechern und folgen
dem auf englisch übersetzten Transkript einer ukrainischen
Radio-Dokumentation. Dem schließen sich viele weitere
Hörbeiträge an, bevor am späten Nachmittag die
versammelte Runde zur Diskussion zusammenkommt und die einzelnen
Einreichungen einer genauen Analyse und Bewertung unterzieht.
Für die angereisten Macher ist dies häufig das einzige
professionelle Feedback, das ihre Arbeit erhält, aus dem
Blickwinkel ganz unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen.
Unter den 740 Einreichungen und 246 vorausgewählten
Programmen ging dieses Jahr der Hauptpreis in der Kategorie
TV-Fiction an den schwedischen Mehrteiler "The Solist", eine
Geschichte um das autistische Verhalten eines jungen Mädchens
und die Definition von Normalität. In der Kategorie
Non-Fiction wurde "Sight (without seeing)" prämiert, eine
französische Dokumentation über den Alltag von Blinden.
Die Kategorie Current Affairs, die Aktualitäten behandelt,
übernahm "The Origin of AIDS" aus Frankreich. Als bestes
Radiofeature wurde "Work of the Devil" aus Norwegen und als bestes
Hörspiel "The Wire" aus Großbritannien ausgezeichnet. Den
Preis für die beste Website strich die niederländische
Musikplattform
"3 voor 12" ein. Insgesamt wurden 13 Preise vergeben. Ob sie
allerdings die Öffentlichkeit zu Gesicht bekommen wird,
hängt von den Lizenzkosten und vom guten Willen der
Sendeanstalt ab.
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