Udo Scheer
Stasi-Forschung gleicht mehr und mehr einem
absurden Theater
Tagung der Akademie Tutzing: Neue
Überprüfungen erforderlich
Lange Zeit galten Staatssicherheit, der Umgang mit
Stasi-Verstrickung und Zersetzung als rein ostdeutsches Thema. Das
änderte sich, seit sensationelle Enttarnungen von Spionen
wiederholt das Ausmaß der geheimdienstlichen Unterwanderung
der Bundesrepublik durch die DDR-Staatssicherheit sichtbar
machen.
Bevor voraussichtlich Ende des Jahres die Auswertung der
Rosenholz- und Sira-Dateien, öffentlich vorgestellt wird, lud
die evangelische Akademie für politische Bildung Tutzing an
den Starnberger See zu einer aktuellen Bestandsaufnahme über
Stasi-Durchdringung, Stand und Grenzen der Forschung und
möglichem politischen Handlungsbedarf.
Eine einführende Fragestellung ging dem Phänomen nach:
Was machte den DDR-Geheimdienst in seiner Westarbeit derart
erfolgreich? Hubertus Knabe, heute Leiter der Gedenkstätte
Berlin-Hohenschönhausen, stimmte nachdenklich, als er
darüber sprach, mit welchen Praktiken die DDR-Auslandsspionage
systematisch Schwächen der offenen Gesellschaft ausnutzte: Bis
zu 100.000 Telefone in der Bundesrepublik und ihre per Richtfunk
übertragenen Gespräche wurden abgehört und für
Desinformation, Beeinflussung, Erpressung benutzt. Staatskritische
junge Leute aus der Studenten- und Friedensbewegung wurden gezielt
zu "Perspektiv-IM" aufgebaut. Einer dieser Studenten war der
spätere DDR-Top-Spion in der Brüsseler NATO-Zentrale
Rainer Rupp ("Topas"). Zudem verlegte sich die Hauptverwaltung
Aufklärung (HVA) neben der "Romeo"-Methode seit den
70er-Jahren verstärkt auf das höchst effiziente
Abschöpfen. Das Spektrum reichte von Alexander
Schalck-Golodkowskis Kamingesprächen mit Franz Josef
Strauß über den Fraktionsvorsitzenden der SPD in NRW
Friedhelm Farthmann, der sich gern zu Jagdausflügen in die DDR
einladen ließ, bis hin zu gutgläubigen westdeutschen
Aktivisten der Städtepartnerschaften.
Zu einem weiteren dunklen Kapitel gehörte die Infiltration
und Beeinflussung bundesdeutscher Parteien und Gruppierungen durch
das MfS. Hubertus Knabe und Udo Baron vom Forschungsverbund
SED-Staat an der FU Berlin kritisierten deren bislang fehlende
Eigeninitiative bei der Aufarbeitung. Ein Grund, weshalb mancher
ihre politische Glaubwürdigkeit bis in die Gegenwart infrage
stelle.
Exemplarisch am Beispiel der "Krefelder Initiative" als
"Vorfeldorganisation der DKP" und der über die
DDR-Staatssicherheit geförderten "Generale für den
Frieden" belegte Udo Baron die subtile Beeinflussung von Teilen der
westdeutschen Friedensbewegung und die Erfolge bei deren
antiwestlichen Ausrichtung.
Ebenfalls über die bundesdeutschen Medien gelang es den
DDR-Strategen erstaunlich erfolgreich, zur Verunsicherung in der
westdeutschen Gesellschaft beizutragen. Dies geschah, so Jochen
Staadt vom Forschungsverbund SED-Staat an der FU, weniger durch IM
in Redaktionen als durch Ausnutzung der freiheitlichen
Medienlandschaft. Die Desinformationsabteilungen des ZK und des MfS
lancierten Informationen, die ihre Wirkung aus schwer nachweisbaren
Falschmeldungen entwickelten. Der Erfindungsreichtum reichte von
falschen Zeugen für eine Giftgasproduktion der Bundesrepublik
bis zu manipulierten Zeichnungen, die Bundespräsident Heinrich
Lübke als KZ-Baumeister skandalisierten.
Besonders in den 80er-Jahren sattelten Journalisten auf ein von
DDR-Ideologen geschickt geschöntes DDR-Bild drauf. So machte
die spätere Chefredakteurin des Hessischen Rundfunks Luc
Jochimsen ahnungslos gelenkt die DDR zu einem reinen Frauenparadies
und empfahl sich für weitere Aufträge. Das MfS war
hochzufrieden. Es konnte sich auf kritische akkreditierte
Korrespondenten konzentrieren. Doch wer damals ohne langen
Löffel mit dem Teufel aß, muss heute kaum mit
lästigen Fragen rechnen. 650 einer von Staadts
Forschungsgruppe erarbeiteten 1.100-seitigen Studie über "Die
rundfunkbezogenen Aktivitäten des MfS", werden vorerst unter
Verschluss gehalten. Nach dem erweiterten Kohl-Urteil vom Juni
2004, das ein Auskunftsverbot über Amtsträger, Personen
der Zeitgeschichte und Dritte verfügt, hatten sich
Hausjuristen der Funkhäuser dafür ausgesprochen,
personenbezogene Zusammenhänge, damit auch IM-Verstrickungen,
für die Öffentlichkeit zu sperren. Was als couragierter
Versuch einer Vergangenheitsklärung begann, könnte zur
Freude der Vergangenheitsvertuscher in einer peinlichen Farce
enden.
Ebenfalls längst nicht ausgeleuchtet ist das Feld der
Wirtschaftskriminalität. Reinhard Buthmann, wissenschaftlicher
Mitarbeiter der Birthler-Behörde, streifte dieses "noch immer
verminte Gelände" mit einem Kurzabriss über das
Schalck-Imperium Kommerzielle Koordinierung (KoKo)
Unter den 1.500 Bundesbürgern, die zuletzt für den
DDR-Geheimdienst aktiv waren, fanden sich weniger als erwartet in
Spitzenpositionen von Politik, Wirtschaft, Militär und
Geheimdienst. Stattdessen operierten viele äußerst
effektiv an "Scharnierstellen".
Zu dem Ergebnis gelangte Helmut Müller-Enbergs, seit 2003
Leiter der Forschungsgruppe "Rosenholz". Spekulationen, die
Amerikaner hätten Teile von Akten mit deutschen Bezügen
vorsätzlich zurückgehalten, wollte er nicht
bestätigen. Vielmehr seien offenbar aus Unkenntnis
Informationen über HVA-Spione wegen nicht zuordenbarer
Staatszugehörigkeit zurückgehalten, aber auf Anfrage
nachgereicht worden. Das, so Müller-Enbergs, werde
wahrscheinlich eine Kernaussage der Ende des Jahres zu erwartenden
Auswertung. Eine zweite Kernaussage: Mit weit mehr als 10.000
führte die HVA eine überraschend hohe Zahl an
DDR-Bürgern als Inoffizielle Mitarbeiter mit Kontakten und
Aufträgen in der Bundesrepublik. Die heutige Tätigkeit
dieses Personenkreises ist bislang kaum bekannt. Allein dieser Fakt
legt neue Überprüfungsanträge im öffentlichen
Dienst, Ämtern und Behörden in ganz Deutschland nahe. Und
hier ist Eile geboten. Denn nach derzeitigem Gesetz sind
Überprüfungen nur noch bis zum 31. Dezember 2006
zulässig.
Was also bleibt nach 13 Jahren Stasi-Forschung zu konstatieren?
Antworten darauf versuchten der innenpolitische Sprecher der
SPD-Fraktion im Bundestag Dieter Wiefelspütz und der
Historiker Hubertus Knabe. Ihre Bilanz fiel ernüchternd aus.
Obwohl, so Wiefelspütz, die Staatssicherheit Teil der
gesamtdeutschen Geschichte und Gegenwart ist, bleibt sie ein
Minderheitenthema, auch im Bundestag. Er rechne damit, dass die
Ausstattung für die Bildungsarbeit der Behörde
gekürzt und sie perspektivisch zu einem Archiv herabgestuft
werde. Das wäre ein fatales Signal angesichts wachsender
Demokratieverdrossenheit, besonders im Osten.
Nach dem verheerenden Kohl-Urteil zum Umgang mit Stasi-Akten, so
Hubertus Knabe, gleiche die Stasi-Forschung einem absurden Theater.
Mit der derzeit vorgeschriebenen Schwärzungsorgie für
herausgegebene Akten seien sie für die Diktatur-Forschung
nahezu unbrauchbar. Wissenschaftler und Journalisten würden
entmündigt. Nutznießer sind jene, die die Machenschaften
des MfS und das Wesen der Diktatur verharmlosen. "Wir können
uns nur wundern", sagte Wiefelspütz, wozu das Kohl-Urteil
bereits benutzt werde. Er könne sich vorstellen, dass das
Stasi-Unterlagen-Gesetz neu gefasst werden müsse.
Weshalb dazu hochgradiger Handlungsbedarf besteht, brachte ein
Teilnehmer auf den Punkt: "Wenn die Unterschiede zwischen Diktatur
und Demokratie nivelliert werden, wie kann dann die Zukunft der
Demokratie gesichert werden." Diese Frage besteht über Tutzing
hinaus. Udo Scheer
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