bob
Über Verhandlungen mit der Türkei
uneins
Alle Fraktionen legen Anträge
vor
Auswärtiges. Der Bundestag soll die
Regierung auffordern, sich auf der Grundlage der Empfehlung der
Kommission vom 6. Oktober beim Gipfel des Europäischen Rates
am 17. Dezember in Brüssel für die Aufnahme von
Beitrittsverhandlung mit der Türkei auszusprechen. Die fordern
SPD und Bündnis 90/Die Grünen in einem Antrag (15/4031).
Ziel der Verhandlungen sei es, den Beitritt des Landes zur
Europäischen Union (EU) vorzubereiten. Die CDU/CSU-Fraktion
hält die von der Bundesregierung angestrebte
Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU demgegenüber
für einen "schwerwiegenden Fehler".
Die Regierungsfraktionen weisen darauf hin,
dass der Verhandlungsbeginn nicht automatisch den Beitritt bedeute.
Bis zu einer möglichen Aufnahme in die EU in zehn bis 15
Jahren werde sich die Türkei auf der Basis des
Transformations- und Reformprozesses stark gewandelt haben. Auch
die EU werde sich auf der Grundlage ihrer Verfassung
weiterentwickeln. Die Kommission schlage für den weiteren
Umgang mit der Türkei einen erheblich verstärkten
politischen und kulturellen Dialog zwischen den Bürgern der EU
und der Türkei vor. Die Koalition erklärt, sie
begrüße diesen Vorschlag ausdrücklich.
SPD und B90/Grüne machen ferner
deutlich, in vielen Ländern der EU lebten Bürger
türkischer Abstammung, allein in Deutschland mehr als zwei
Millionen. Viele der in europäischen Ländern lebenden
Türken hätten sich bereits in die europäische Kultur
integriert und seien heute anerkannte Bürger Europas. Wo
Türken heute in der EU lebten, hätten sich zum Teil auch
Parallelgesellschaften gebildet. Das Ziel sei es, im Zuge der
Beitrittsverhandlungen die Integrationsprozesse zu beschleunigen
und zu vertiefen.
Die Türkei sei als Wirtschaftspartner
und Absatzmarkt für die EU von hohem Interesse. Daneben sei
das NATO-Mitglied Türkei seit der Zeit des Ost-West-Konflikts
ein verlässlicher Partner des Westens, so die
Koalition.
Für die EU wachse die Bedeutung der
Türkei als stabiles, europaorientiertes Land in der unruhigen
Großregion Naher und Mittlerer Osten. In dieser Krisenzone mit
den blutigen Konflikten im Irak und im Nahen Osten zwischen Israel
und den Palästinensern, mit den Herausforderungen durch die
Atompolitik im Iran und den regionalen Aktivitäten Syriens
gelte die Türkei als "Stabilitätsanker", so die
Koalition. Dies betreffe auch die großen Einflusschancen
Ankaras auf die türkischsprachigen Länder
Zentralasiens.
In dem globalen Kampf gegen den Terrorismus
spiele die Türkei eine "Schlüsselrolle": Die Entscheidung
einer so großen und bedeutenden islamischen Gesellschaft, den
europäischen Weg zu gehen, und ihre Einbindung in die
demokratische Gemeinschaft der EU zeigten die Vereinbarkeit von
Demokratie und Islam. Sie widerlegten die These vom "Kampf der
Kulturen" und ermutigten die Hoffnungen auf einen friedlichen
Dialog.
Die CDU/CSU stellt demgegenüber in ihrem
Antrag (15/3949) fest, das Parlament sollte bekräftigen, dass
Beitrittsverhandlungen mit dem üblichen Automatismus, wonach
die Aufnahme von Verhandlungen de facto einem Beitrittsversprechen
gleichkäme, im Falle der Türkei nicht aufrecht erhalten
werden könnten. Die politischen Erwägungen, nicht zuletzt
die "bemerkenswerten Zweifel" der EU-Kommission in ihrem Bericht an
den Rat, sprächen dafür, dass im beiderseitigen Interesse
eine besondere, "privilegierte Partnerschaft" die geeignetste Form
für die zukünftigen Beziehungen zwischen der Türkei
und der EU sei.
Die Bundesregierung solle deshalb darauf
hinwirken, dass beim im Dezember anstehenden EU-Gipfel das Thema
der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht
isoliert, sondern im Lichte der Entwicklung der EU hin zu einer
Politischen Union und im Zusammenhang mit einer plausiblen
Finanzarchitektur für eine um die Türkei erweiterte EU
behandelt wird.
Nicht zuletzt seien auch die Fragen der
Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben in der erweiterten Union ab
2007 bislang nicht gelöst. Es bestehe jetzt schon die Gefahr,
die EU zu überdehnen und Integrationsfähigkeit zu
verlieren.
Für den Fall, dass der Rat die Aufnahme
von Beitrittsverhandlungen dennoch beschließen sollte,
müsse sich die Bundesregierung bei den EU-Partnern dafür
einsetzen, dass diese Verhandlungen "ausdrücklich"
ergebnisoffen geführt werden. Dafür hätte auch die
EU-Kommission votiert. Als deutsches Verhandlungsziel sollte auch
die Alternative einer besonderen, privilegierten Partnerschaft mit
der EU enthalten sein, so die Union.
"Keine Entscheidung über
Beitritt"
Das Parlament soll die Bundesregierung
auffordern, die EU-Kommission beim Wort zu nehmen und dafür zu
sorgen, dass die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
"ergebnisoffen" geführt werden. Die FDP hat dazu ebenfalls
einen Antrag (15/4064) vorgelegt.
Es gehe gegenwärtig um eine Entscheidung
über Beitrittsverhandlung, nicht um einen Beitritt selbst.
Erst am Schluss von Verhandlungen könne die Entscheidung
über die Aufnahme, die Ablehnung oder auch eine differenzierte
Position stehen. Die EU wäre in ihrer gegenwärtigen
Verfassung - nach dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen
Staaten - nicht in der Lage, die Türkei aufzunehmen, und
umgekehrt wäre die Türkei in ihrer gegenwärtigen
Verfassung nicht beitrittsfähig. Alle drei Anträge wurden
am 28. Oktober zur federführenden Beratung an den
Auswärtigen Ausschuss überwiesen. bob
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