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Karl-Otto Sattler
Magische Kräfte im europäischen
Haus
Wer regiert die Europäische
Union?
Was für ein Tag! Fortan sind die
Straßburger Parlamentarier keine Papiertiger mehr, sondern
richtige Raubtiere - die José Manuel Barroso, Jacques Chirac,
Rocco Buttiglione, Gerhard Schröder, Laszlo Kovàcs, Tony
Blair, Neelie Kroes und all die anderen so richtig das
Fürchten lehren. Was haben die eigentlich noch zu melden?
Jetzt, nachdem das EU-Abgeordnetenhaus die neue Brüsseler
Kommission komplett kippte, weil Barroso zwecks Vermeidung einer
peinlichen Abstimmungsniederlage sein 24-köpfiges Team
zurückziehen musste?
Die Macht in der EU, die haben nun wir:
Pathos wabert durch den monströsen Glaspalast an der Ill, die
über 700 Abgeordneten klatschen sich selbst begeistert
Beifall, der "Sieg der Demokratie" wird ausgerufen, die
"Parlamentarisierung" der EU gefeiert. Selbst Hans-Gert
Pöttering, der Vorsitzende der EVP-Fraktion, reiht sich flugs
in die Front der Gewinner ein - wiewohl doch seine Leute Barrosos
Personaltableau brav durchwinken wollten. Und vor allem: Endlich
richten sich einmal alle Fernsehkameras auf sie, auf die so oft
verkannten Volksvertreter, die bei den EU-Wahlen immer nur wenige
Stimmbürger an die Urnen zu locken vermögen. Dieses Mal
aber beherrschen die EU-Deputierten und niemand sonst tagelang die
TV-Nachrichten zwischen Madrid und Warschau, zwischen Athen und
Oslo. Wie schön.
In der Tat ein historischer Moment, dieser
27. Ok- tober. Indes will es zu den Triumphgesten nicht so recht
passen, dass das Fernsehpublikum schon wenige Stunden nach dem
Straßburger Trubel Aufnahmen aus Brüssel und diversen
Hauptstädten wie Berlin oder Rom über den Bildschirm
flimmern sieht. Unverzüglich skizziert Bundeskanzler Gerhard
Schröder die nach dem Eklat einzuschlagende Marschrichtung. In
Rom wird gerätselt, ob Premier Silvio Berlusconi den besonders
umstrittenen Signore Buttiglione zurückzieht oder ob er zum
Trotz erst recht an dem katholisch-konservativen Politiker als
italienischem Kommissionsmitglied festhält. Rasch wird
gefragt, wie denn die Staats- und Regierungschefs der 25 EU-Staaten
diese Krise wohl lösen werden.
Tja, und die wackeren Volksvertreter aus
Straßburg, was tun die jetzt? Nichts, sie sind erst einmal
außen vor, sie sind aus dem Spiel. Die Abgeordneten
dürfen erst wieder einer neuen Kommissionsmannschaft, bei
deren Auswahl sie in keiner Weise mitzureden haben, ihr Plazet
geben oder erneut die rote Karte zeigen. Selbst Barroso kann sich
nicht einfach ein anderes Team nach eigenem Gusto zusammenbasteln,
Portugals Ex-Premier ist letztlich in die Vorgaben der
Staatenlenker eingebunden - und dies, obwohl der Präsident der
Kommission in der Öffentlichkeit doch weithin als "Mister
Europa", als "Chef" der EU gilt. Aber Image und reale Macht, das
sind zweierlei Dinge.
Nun ist Barroso natürlich keine
willenlose Marionette der Gipfelrunde, er wird am Telefon und in
Kungelrunden schon mitmischen und sich besonders bei der konkreten
Ressortaufteilung unter den Kommissaren auf die Hinterbeine
stellen. Und Blair, Chirac, Schröder, Berlusconi, Zapatero,
Juncker samt den restlichen Staatenlenkern werden
selbstverständlich dem Aufstand der Parlamentarier in
irgendeiner Weise Rechnung tragen. Etwas ratlos kommentierten Ex-
und verhinderte Neu-Kommissare nach der Pleite Brüssels in
Straßburg, niemand wisse, wie es jetzt weitergehe, alles sei
unklar.
Diese Unbestimmtheit kommt nicht von
ungefähr. Die Entscheidungsmechanismen der EU im viel
zitierten "institutionalisierten Dreieck" aus Kommission, Parlament
und dem unter dem Begriff "Rat" firmierenden Verbund der nationalen
Regierungen sind zwar im Prinzip klar geregelt. In der politischen
Praxis handelt es sich jedoch um eine recht undurchsichtige
Gemengelage, die von verwinkelten Schachzügen zwischen den
drei Machtzentren geprägt ist - die sich gegenseitig
kontrollieren sollen und die sich überdies blockieren
können. Eine solch festgefahrene Situation, die aber gewiss
bald überwunden sein dürfte, hat sich bei der Bildung der
neuen Kommission ergeben: Das Parlament kann dieses Gremium nicht
wählen, kann keine Ressortabgrenzung vornehmen, kann die
Fachgebiete auch nicht bestimmten Personen anvertrauen, all dies
ist Sache der nationalen Regierungen und in gewissem Maße des
Kommissionspräsidenten - ein Veto einlegen gegen die komplette
Mannschaft, das ist der Hebel, mit dem die Straßburger
Volksvertretung zu hantieren vermag.
Die Europäische Union: Was ist das
eigentlich? Die EU ist kein Staat, kein Staatenbund, kein
Bundesstaat, keine Föderation à la USA, auch keine
internationale Organisation wie die UNO oder der Europarat. Es ist
gar nicht so einfach, die EU zu definieren. "Gemeinschaft",
"Union": So nennt sich dieses Konstrukt mit seinen neuerdings 25
Mitgliedern üblicherweise. Im Grunde könnte man die EU
als eine Art Vereinbarung bezeichnen: Unabhängige,
eigenständige, souveräne Nationen bündeln ihre
Hoheitsrechte zum Nutzen aller - auch, um zusammen auf
internationaler Ebene an Gewicht, Stärke, Einfluss zu
gewinnen.
Im EU-Vertrag, Wesenselement der
Gemeinschaft, sind die Modalitäten der Übertragung von
nationalen Entscheidungsbefugnissen an die Organe der Union
geregelt. Die Einrichtungen der EU sind sozusagen die Plattform,
das Forum, wo permanent um die Transformation der Hoheitsrechte und
deren konkrete Ausgestaltung gerungen wird. Sieht man von
speziellen Instanzen wie etwa der Zentralbank, dem
Regionalausschuss, der Investitionsbank oder den vielen
Berufsbildungs-, Umwelt-, Lebensmittel- und sonstigen Agenturen ab,
so verteilt sich diese Plattform auf 27 Standorte: auf die 25
Regierungssitze, auf das Kommissionsgebäude in Brüssel
und auf den Parlaments-Palast in Straßburg. In wachsendem
Maße profiliert sich als 28. Platz Luxemburg, wo sich der
EU-Gerichtshof mit seinen Auslegungen des EU-Rechts zusehends auch
zu einem Faktor von politischem Gewicht mausert - so wie in
Deutschland das Karlsruher Verfassungsgericht.
Das klingt natürlich alles reichlich
abstrakt, und es ist auch nicht verwunderlich, dass vielen
Bürgern zwischen Lappland und Sizilien die EU wie eine
rätselhafte Sphinx aus einer ganz anderen Welt erscheint - ein
Universum, in dessen politischem und wirtschaftlichem
Interessendschungel auf undurchsichtige Weise kräftig
gemauschelt, geboxt und gefoult wird. Der Blick auf die Strukturen
und die Entscheidungsmechanismen innerhalb des "institutionellen
Dreiecks" lichtet zumindest ein wenig den Nebel über dem
Machtgerangel. Konfliktlinien sind bereits in der EU-Konstruktion
angelegt.
Die Kommission gilt als "Initiativorgan"
unter den drei zentralen EU-Instanzen: Das klingt gut, nach
Dynamik, nach Gestaltungsmacht, weshalb die Brüsseler Equipe
dieses Prädikat gern hervorkehrt. In der Tat hat nur die
Kommission die Befugnis, neue EU-Rechtsvorschriften auszuarbeiten.
Die 24 Kommissare und ihr Präsident nehmen in diesem Sinne
eine Schlüsselstellung im Geflecht der Gemeinschaft ein.
Allerdings, und das relativiert den Einfluss dieses Gremiums
beträchtlich: Verabschiedet werden diese "Gesetze" vom Rat, in
dem die fachlich jeweils zuständigen Minister der nationalen
Regierungen sitzen, und vom Straßburger Parlament. Die
Kommission ist also nicht der Gesetzgeber, ist aber wiederum
zuständig für die Umsetzung der Brüsseler
Richtlinien, also der EU-Politik, in den Mitgliedsstaaten. Auch die
Verwaltung des Haushalts obliegt der Kommission (der Etat wird aber
ebenfalls von Rat und Abgeordnetenhaus beschlossen).
Vor diesem Hintergrund wirkt es
einigermaßen kurios, wenn nationale Politiker in ihren
Heimatländern gegen die Regelungswut der abgehobenen
Brüsseler Technokraten wettern, die Zuckerdosen in Cafés
reglementieren, die ungerechte Kriterien bei der Subventionsvergabe
für Bauern und Stadtquartiere vorschreiben oder die bei den
Finanzministern nervend auf die Einhaltung des
Stabilitätspakts pochen: All das haben die Regierungen
nämlich zuvor auf EU-Ebene selbst beschlossen.
Zu den Aufgaben der Kommission, die sich auf
einen Apparat mit 24.000 Bediensteten stützt, gehört auch
das Aushandeln von Übereinkommen mit anderen Ländern -
etwa zum Verkehr und zur Zinsbesteuerung mit der Schweiz oder mit
den USA zur umfassenden Übermittlung der Daten von
Flugpassagieren, was bei Bürgerrechtlern auf heftige Kritik
stößt. Nicht zuletzt kann die Kommission Mitgliedsstaaten
vor dem Luxemburger Gerichtshof wegen der Verletzung von EU-Recht
verklagen. Ein solches Damoklesschwert schwebt
publicityträchtig wegen des Verstoßes gegen die
Defizit-Kriterien in nationalen Etats über dieser und jener
Regierung. Neuerdings zerrt Brüssel die Bundesrepublik mit dem
Vorwurf, das VW-Privatisierungsgesetz widerspreche EU-Bestimmungen
über den freien Kapitalverkehr, vor den Kadi in
Luxemburg.
Zusammen, das klingt vordergründig nach
harmonischer Eintracht, werden das Parlament und der Rat als
Gesetzgebungsorgane tätig. Häufig aber sind diese beiden
Gremien Gegenspieler - so wie es sich zwischen Regierung und
Parlament ziemt. Aber eigentlich ist es doch nicht so, weil es in
der EU eben keine richtige "Regierung" und kein echtes "Parlament"
gibt. Da soll noch einer durchblicken.
Die Straßburger Volksvertretung ist zwar
als einzige EU-Institution demokratisch gewählt, es formieren
sich Fraktionen, Ausschüsse, informelle Zirkel, so wie man es
von einem Parlament her kennt. Eine Regierungsmehrheit und eine
Opposition sucht man jedoch vergeblich: wie auch, wo ein zu
wählendes Kabinett in der EU als einer vertraglich
verknüpften Union eigenständiger Staaten nun mal nicht
existiert.
Ob der EU-Haushalt oder der Beitritt neuer
Staaten, ob Umwelt, Landwirtschaft, Verkehr, Binnenmarkt,
Wettbewerb, Strukturfonds oder unzählige andere Fachbereiche:
In einem im Detail komplizierten Prozess mit abgestuften
Anhörungs-, Zustimmungs- und Mitentscheidungsrechten je nach
Themengebiet kann das Abgeordnetenhaus bei den zwischen Kommission,
Rat und Parlament oft lange Zeit hin- und her wandernden Dossiers
Änderungen in Vorlagen beschließen und manche
Entwürfe als Ausdruck äußerster Machtdemonstration
durch Verweigerung der Zustimmung ganz scheitern lassen - von sich
aus durchzusetzen aber vermögen die Volksvertreter nichts. Das
gilt für die Gesetze oder jetzt beim Showdown um die Besetzung
der Kommission. Während der Amtszeit dieses Gremiums kann die
Straßburger Kammer auch einen Misstrauensantrag gegen die
Kommission beschließen. Nicht übersehen sollte man eines:
In der Praxis hat das Parlament zusehends an Einfluss gewonnen,
auch wenn sich das selten öffentlichkeitswirksam
niederschlägt. Ohne das Plazet der Volksvertreter läuft
politisch immer weniger in der EU: Deren Mitbestimmungsrechte,
faktisch eine Vetomacht, wurden spürbar
ausgeweitet.
Der Rat hat das letzte Wort
Das allerletzte Wort bei den Gesetzen der EU
hat indes der Rat, also die Repräsentanz der nationalen
Regierungen, und diese Instanz mischt natürlich auch von
vornherein bei politischen Initiativen mit: Dort wird die Musik
gespielt, auch wenn das die Brüsseler Kommission und das
Straßburger Parlament nicht so gern hören. Hinter dem Rat
verbergen sich zwei Räte - die EU müht sich wirklich
redlich, gegenüber den Bürgern undurchschaubar und
unverständlich daher-zukommen.
Da ist zum einen der Europäische Rat, in
dem die Staats- und Regierungschefs sowie der
Kommissionspräsident versammelt sind. In diesem Kreis
residiert die wahre Macht, was bei den Gipfeltreffen stets mit
einem eindrucksvollen Gruppenfoto und mit viel Medienrummel
inszeniert wird. Aber nicht nur bei diesen Treffen wird die Politik
der EU ausbaldowert: Zwischen den Hauptstädten wird eifrig
gereist, um bilateral zu verhandeln, um auf diesem Weg jüngst
etwa Probleme bei der EU-Verfassung oder beim Beitritt von Polen
aus dem Weg zu räumen.
Zum andern ist der Rat der EU aktiv, oft als
Ministerrat bezeichnet. Mit diesem Kollegium, in dem je nach
Themengebiet die verschiedenen nationalen Ressortminister für
Wirtschaft und Finanzen, Umwelt, Landwirtschaft und andere Bereiche
tagen, hat es das Parlament bei der Verabschiedung der
EU-Rechtsvorschriften zu tun. Bei einem solchen Treffen haben
beispielsweise die Verkehrsminister jüngst verfügt, dass
in der EU neu ausgestellte Führerscheine künftig alle
zehn Jahre erneuert werden müssen - sogar gewisse Tests bei
einer solchen Auswechslung lagen in der Luft, wovon die Autofahrer
dann doch verschont wurden. Unter dem Dach des Rats arbeiten auch
die Außen- und Innenminister der 25 Mitgliedsnationen
zusammen, formell unabhängig vom EU-Vertrag: Sie
beschließen, wen wundert es, zwecks intensiverer
Überwachung der Bürger einträchtig
Fingerabdrücke in Reisepässen oder streiten sich
über die Errichtung von Flüchtlingslagern in Nordafrika.
In der Außen- und Innenpolitik geben die Staaten keine
Hoheitsrechte an die EU ab.
Auf der Basis der alles andere als
belanglosen formalen Entscheidungsstrukturen im "magischen Dreieck"
wird handfeste Politik gemacht, und da geht es
selbstverständlich nicht einfach nach Schema F aus dem
Handbuch für Institutionenkunde zu. Der Kampf um die Gesetze
der EU beginnt nicht erst, wenn sich die Straßburger
Parlamentarier und die Minister im Rat über die Vorlagen der
Kommission beugen. Vorentscheidungen fallen schon während der
Ausarbeitung dieser Richtlinien beim Clinch im Dschungel des
Kommissionsgeflechts, da wird vieles auf den Weg gebracht und
manches frühzeitig ausgebremst. Unzählige Lobbyisten
stehen in Brüssel auf der Matte, zu denen auch die
Gesandtschaften hiesiger Bundesländer zählen - die
begehrliche Blicke besonders auf die Subventionstöpfe der EU
werfen.
Regierungen, Unternehmen,
Interessenverbände, die bestimmte Dinge durchdrücken oder
verhindern wollen, versuchen, in Brüssel einen Fuß in die
Tür zu bekommen und Kommissare für ihre Anliegen in
Stellung zu bringen. Oder Minister hoffen, die EU für
Maßnahmen instrumentalisieren zu können, die sie zu Hause
nicht durchsetzen können. Im Gegenzug pflegen manche
Kommissare eine intensive Reisediplomatie in die Hauptstädte,
um für ihre Initiativen schon im Vorfeld Mehrheiten
zusammenzuzimmern. Wer im Straßburger Parlament seine Zeit
nicht bloß als Hinterbänkler verbummelt, hört
ebenfalls rechtzeitig das Gras wachsen und schaltet sich in den
Gang des Geschehens ein.
Ziemlich ausgereizt hat seine formale und
faktische Macht in Brüssel der bisherige Kommissar
David
Byrnes, was dem freiheitlichen Klima in der
Gesellschaft wenig zuträglich ist. Was hat der irische
Politiker, der mit Inbrunst die Bürger mit Tugend- und
Gesundheitszwängen zu traktieren pflegt, im Verein mit
EU-Parlamentariern und nationalen Ministern nicht alles dekretieren
können: drohende Zeigefinger auf Zigarettenschachteln, ein
Werbeverbot für Tabak, also Zensur, und manches mehr.
Aufgelaufen ist dagegen jene Kommissarin, die Nacktphotos in Medien
untersagen wollte: Kaum wurde ihre Absicht bekannt, brach ein Sturm
der Entrüstung los, die Pläne wurden, zumindest vorerst,
wieder eingemottet und reiften erst gar nicht zu einer Vorlage zu
Händen des Rats und des Parlaments.
Der Streit um die neue EU-Kommission und die
Konflikte um den Türkei-Beitritt illustrieren augenfällig
die Entscheidungsmechanismen der EU und die damit verquickten
Interessen. Es sind die Regierungschefs, die den
Kommissionspräsidenten bestimmen, auch wenn er dann vom
Parlament bestätigt werden muss. José Manuel Barroso war
für Schröder, Chirac, Blair und die anderen nicht die
erste Wahl. Es kann Wochen, zuweilen Monate dauern, bis weißer
Rauch nach einem Gerangel aufsteigt, bei dem meist mehrere
prominente Namen vor und hinter den Kulissen verheizt werden. Die
25 Regierungen sind es auch, die nach eigenem Gusto einen Kommissar
nach Brüssel schicken, auf diese Personalauswahl hat Barroso
keinen Einfluss.
Häufig wird diese Regelung als
Konstruktionsfehler des EU-Vertrags kritisiert. Das ist jedoch eine
Sache des Blickwinkels: Aus Sicht der Mitgliedsstaaten ist dieses
Prozedere recht vorteilhaft, bietet sich den Regierungen auf diese
Weise doch die Möglichkeit, bestimmte Interessen zu verfolgen.
So kann es innenpolitisch von Vorteil sein, ein Personalproblem
durch die ehrenvolle Abschiebung auf einen lukrativ besoldeten
Posten in Brüssel zu entsorgen. Und wenn Silvio Berlusconi
Signor Buttiglione benennt, dann platziert der römische
Premier eine rechtskonservative Stimme in Brüssel - auch wenn
die Kommissare im Prinzip auf die Wahrung von EU-Interessen
verpflichtet sind und nicht als Beauftragte ihrer Regierungen
agieren sollen.
Bei der Verteilung der
Ressortzuständigkeiten ist Barroso ebenfalls nicht völlig
frei, auch da mischen die Regierungschefs mit. So schwebte Kanzler
Schröder vor, Günter Verheugen als eine Art
Superkommissar für Wirtschaft, Industrie und Technologie zu
installieren. Aus dem Superkommissar wurde zwar unter Barroso
nichts, aber Verheugen wurde mit dem Industrieressort betraut. Dass
Buttiglione ausgerechnet zum Innen- und Justizkommissar avancierte,
dürfte Gesinnungsfreund Berlusconi erfreut haben: Zufall?
Nicht abwegig ist die Vermutung, dass ein Kommissionspräsident
jene nicht unbedingt verärgern will, die ihn für dieses
Amt auserkoren haben.
Mit der Drohung, die gesamte Kommission
durchfallen zu lassen, hat das Parlament zwar Barroso zum
Rückzug gezwungen, im Kern aber den Regierungschefs eine
Watschen verpasst. Jedoch liegt es vor allem in deren Händen
und weniger in der Macht Barrosos, wie nun das neue Gremium
aussehen wird. Und wenn die Staatsspitzen auf die Idee verfallen
sollten, einen neuen Präsidenten zu suchen: Niemand kann ihnen
dreinreden. Es spricht nicht viel dafür, dass wenigstens auf
mittlere Sicht die EU-Parlamentarier selbst die Kommission
wählen oder zumindest über die Bestätigung einzelner
Kommissare befinden können.
Nach den Statuten hat das letzte Wort beim
Beitritt der Türkei das Straßburger Abgeordnetenhaus: Die
EU-Parlamentarier müssen der Aufnahme zustimmen, sonst wird da
nichts draus. Bis der Beitrittsbeschluss in den Ausschüssen
diskutiert und dann zur Abstimmung gestellt wird, wird freilich
noch sehr viel Wasser die Ill hinabfließen. Und bis dahin
sitzen die EU-Volksvertreter lediglich auf der
Zuschauerbank.
Die Aufnahmegespräche mit Ankara
führt die Kommission, bisher war dafür
Erweiterungsfachmann Verheugen zuständig. Politisch
ausgefochten wird dieser Kampf, der Europa schon jetzt
aufwühlt und noch weiter zerreißen dürfte, freilich
in und zwischen den Mitgliedsstaaten. Wer immer Verheugen
ablösen wird: Weitaus stärker noch als bei den
Komplikationen im Vorfeld des Beitritts Polens und der anderen neun
"Jungmitglieder" werden sich die Regierungschefs in die
Verhandlungen einklinken - steht wegen dieses heiklen Problems doch
auch innenpolitisch viel auf dem Spiel. In Frankreich ist eine
große Mehrheit der Bevölkerung gegen die Aufnahme
Ankaras, Chirac hingegen will das, und deshalb wird in Paris
tüchtig finassiert. Hierzulande wäre es ein Wunder, wenn
die Türkei-Frage nicht auch den Bundestagswahlkampf 2006 mit
aufmischen würde. Nichts könnte besser als dieser Streit
aufzeigen, wie eng verwoben mittlerweile die EU- und die nationale
Politik sind, und dass sich die Konflikte ihre eigenen
Lösungs- und Entscheidungswege auch jenseits formeller
Strukturen suchen.
Im Übrigen offenbart der Zoff um
Barrosos Mannschaft auch noch auf fast originelle Weise, dass die
EU bis in die letzte Faser eine Veranstaltung souveräner
Mitgliedsnationen ist. Im EU-Vertrag regelt kein Paragraph die
Verlängerung der Amtszeit einer amtierenden Kommission: Die
aktuelle Situation ist schlicht nicht vorgesehen. Romano Prodis
Team soll aber, da das Nachfolgegremium wegen des Straßburger
Aufruhrs noch auf sich warten lässt, fürs erste
"kommissarisch" weiter tätig sein. Das darf aber nicht einfach
so geschehen. So forderten denn die Brüsseler Botschafter der
25 Staaten Prodi formell auf, bis zur Installierung einer neuen
Kommission die Geschäfte fortzuführen. Es sind die
nationalen Regierungen, die alles, wirklich alles in den Griff
nehmen.
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